Jedermann sein eigner Zeigestock

Mein Mitschüler Paul, ein unruhiger Bauernsohn, immer von einem leisen Misthauch umweht, wird nicht viel aus der Schule mitgenommen haben, außer der Dresche, die er tagtäglich von Hauptlehrer Schmitz bekam. Pro Halbjahr zerschlug Schmitz einen Zeigestock, überwiegend auf Paul. Allerdings zielte der Lehrer nicht, schlug mehr ins Ungefähre, so dass auch Pauls Nachbarn sich unter dem Zeigestock ducken mussten. Wer als erster mit dem neuen Stock geschlagen wurde, gab ihm ungefragt seinen Namen. In den drei Jahren, die ich unter der Fuchtel von Hauptlehrer Schmitz verbrachte, nannte er jeden neuen Stock „Onkel Paul“. Der arme Paul wurde also von sich selbst geschlagen, und traf der Stock mal mich oder einen anderen, dann war’s wieder Paul, der uns wehtat. Er war dann auch gemieden und ist immer etwas kümmerlich geblieben.

Drei Schuljahre saßen bei Schmitz in der Oberklasse. Wer ein bisschen geschickt war, lernte schon im sechsten Schuljahr alles, was der Hauptlehrer in seinen wiederkehrenden Vorträgen zu bieten hatte. Man brauchte während der Stillarbeit nur mit einem Ohr zuzuhören, was Schmitz dem siebten oder achten Schuljahr beibrachte. Aber Paul konnte sich einfach nichts merken. Nur eines hatte sich bei ihm festgesetzt, dass nämlich die Fliege Facettenaugen hat. Tatsächlich hatte er aber nur das Wort Facettenaugen behalten, denn wenn er wiedergeben sollte, was der Lehrer im Naturkundeunterricht ins Heft diktiert hatte, glänzte Paul mit Facettenaugen. „Der Storch hat Facettenaugen“, sagte Paul, die Katze hatte auch welche, selbst der Hase verfügte darüber. Nichts davon wurde je richtig gestellt, denn wenn Schmitz einen Schüler abhörte, saß er mit geschlossenen Augen am Pult, und nur ein leichtes Fingertrommeln verriet, dass er nicht schlief. Das Fingertrommeln jedoch hatte Zeichencharakter, denn solange Schmitz trommelte, musste man reden. Allein auf den flüssigen Vortrag kam es an. Wenn Schmitz dann zum Notenbuch griff und sein kryptisches Urteil hineinschrieb, durfte man sich setzen.

Einmal schlug Schmitz mich aus nichtigem Anlass derart heftig, dass ihm die Uhr vom Arm flog. „Man merkt, dass dir der Vater fehlt!“, giftete er, nachdem er sich an mir abreagiert hatte. Ja, mein Vater fehlte mir, nachdem er plötzlich gestorben war, aber nicht als Prügelmeister. Anschließend durfte ich drei Tage nicht in den Klassenraum, musste im Flur vor der Tür stehen. Außer der Einsicht, dass Willkür und Niedertracht ein schulamtlich verliehenes Privileg war, habe ich nichts Wesentliches bei Schmitz gelernt. Im Gegenteil, er brachte mir bei, das Rechnen zu hassen, denn wenn er übler Laune war, hagelte es Kettenaufgaben als Kollektivstrafe für ein winziges Vergehen. An denen saß man den ganzen schönen Nachmittag. Eigentlich habe ich das meiste außerhalb der Schule gelernt, durch eigene Anschauung und unbotmäßiges Lesen. „Der liest ja soviel!“, sagte Schmitz meiner Mutter, und das war ein Vorwurf.

Tatsächlich las ich nicht nur aus Neugier, sondern auch, um einer Autorität widersprechen zu können, die sich als Hohlkopf entlarvt hatte. Daher rührt mein Zweifel an allen Autoritäten. Damit bin ich immer gut gefahren. Durch glückliche Umstände habe ich nicht mehr Schule erlebt, als ich ertragen konnte. Schon bald war die Setzerei meine Universität, und als ich später studierte, war ich rasch enttäuscht von dem, was mir die ausgewiesene Universität zu bieten hatte. Will sagen, ein wacher Mensch braucht nicht viel Schule, ja, es ist beinah besser, um alle Schulmeister und Universitätslehrer einen großen Bogen zu machen, die sich nicht als kritische Köpfe zu profilieren wissen. Wenn wir die derzeitige desolate Situation im Bildungswesen beklagen, dann sollten wir nicht vergessen, dass nur die Eigentätigkeit des Menschen im Stande ist, ihn zu bilden. Alles andere ist Dressur. Man kann an deutschen Gymnasien mit einer 1,0 aus einer Abiturprüfung gehen, ohne einen einzigen eigenen Gedanken geäußert zu haben.

Derzeit lese ich Ivan Illichs radikale Schulkritik: "Entschulung der Gesellschaft". Es ist ein Werk, das ich jedem empfehle. Illich zeigt, wie Schulen und Universitäten die Unbildung produzieren, wie Schule junge Menschen schon früh in Klassen einteilt und jene aus den unteren Schichten daran hindert, das Selbstwertgefühl zu entwickeln, das erst die Voraussetzung von Lernen und Bildung ist. Illich propagiert das Lernen nach Neigung, das sich am besten in Netzwerken organisieren lässt. Er hat, als er "Entschulung der Gesellschaft" schrieb, noch nichts vom Internet wissen können. Hier lassen sich seine Ideen auf nahezu wunderbare Weise verwirklichen, wenn wir nämlich die Netzwerke des Internets als Chance begreifen, voneinander zu lernen und so unseren geistigen Horizont zu erweitern. Diesem Gedanken ist auch die Idee der offenen Bloguniversität verpflichtet.
Aufruf zu einem Experiment - Freitag, 28. Mai 2010

Ich würde mich freuen, wenn sich hier in nächster Zeit Diskussionen entwickeln zu den unterschiedlichsten Themen, die wir besprechen als Gleiche unter Gleichen. Den Anfang werde ich am Freitag, dem 28. Mai 2010 machen. Das erste Thema soll Ivan Illichs Streitschrift "Entschulung der Gesellschaft" sein. Wer mitmachen will, sollte das Buch vorab lesen. Wenn das Experiment der "Freitagsdiskussion" erfolgreich ist, werde ich sie fest im Teppichaus einrichten. Sie wird dann jedesmal bis zum darauffolgenden Sonntag gehen.

Wir vertrauen nicht der politischen Kaste, wir lassen uns nichts vordenken durch Institutionen und Medien, wir bilden uns.
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