Papiere des PentAgrion - 2.7 Große ist kleine Welt


Folge 2.1 Die Macht der Jacke - Folge 2.2 Von den Socken - Folge 2.3 Realer Ruch des Blutes - Folge 2.4 Der Autor ist verwirrt - Folge 2.5 Planet der Postboten - Folge 2.6 Forschungsreise durch den Kopf und andere Netze

Jeremias Coster, Professor für Pataphysik und Leiter des Instituts für Nachrichtengeräte der RWTH Aachen, hat Käse gekauft, alle möglichen Sorten, ungefähr fünf. Er selbst isst keinen, also steht der ganze Käse meinetwegen auf dem kleinen Balkontisch. Wenn man mehr haben kann als man will, das nennt man Luxus. Ich säbele mir Altamsterdamer Käse aufs Brötchen. Das ist schon mehr als ich brauche, denn eigentlich brauche ich wenig. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, da hegte man früher keine großen Ansprüche. Und genießen mag ich sowieso nicht, wo mein Herz doch immer wieder einzufrieren droht, trotz der brütenden Schwüle dieses Morgens.

Auf Costers Balkon, das ist wie über der Stadt zu sitzen. Coster hat seine Stadt unter sich, ist auf Augenhöhe mit den Kronen prachtvoller Bäume und hoher Türme. Der Blick geht bekanntlich zum Lousberg hinüber, und es sind Luftlinie mal gerade zweieinhalb Kilometer bis zur anderen Seite der Stadt. Das hat mir Coster in der Nacht gesagt. Aber genau weiß ich es nicht mehr. Da aber Coster auch alles vergessen haben will, was wir in der Nacht beredet haben, kann’s mir egal sein. Wer schnell geht, ist jedenfalls in etwa 20 Minuten drüben.

Coster sitzt mit dem Rücken zu seiner Stadt, seinem Netzwerk, seiner sozialen Plastik, wendet ihr schnöd den Rücken zu und schneidet sorgfältig „ein Tomätchen“. Ist’s eine Zweikammer-Tomate, hat sie drei oder vier Kammern? „Wenn du eine Dreikammertomate aufschneidest, siehst du einen Mercedesstern“, hat Coster gesagt. In seiner Küche hängt eine Zeichnung, mehr eine Schautafel, wo er auf einzelnen Bildern die Tomaten selbst und die Schnitte durch die verschiedenen Tomaten zeigt. Mit einer kleinen, gezielten Handschrift ist dabei die gesamte Costersche Tomatenphilosophie erklärt. Etwas Ähnliches hat er mit Sektkorken gemacht, aber ich weiß nicht mehr, was. Es gibt auch eine Bildserie, auf der er die kleinen Kaffeemilch-Plastikdöschen zeigt, deren Aludeckel man auf- oder abreißen muss. Coster hat untersucht und gezeichnet, wie es am besten geht.

Ich bin froh, dass er sich mit scheinbar banalen Dingen beschäftigt. Da lerne ich von ihm. Rätselhaft ist mir allerdings Costers Kugelsammlung innen neben der Balkontür. Hundert Kugeln aus unterschiedlichen Materialien hatte er sich vorgenommen zu sammeln. Zuletzt schenkte man ihm einen leeren Kugelfisch, der nun obenauf liegt und für immer sein Maul aufreißt. Er war die hundertste Kugel und komplettierte die Sammlung. Nun ist ja das Kugelige durchaus ansprechend, wenn’s einen nicht gerade blöd anglotzt wie ein ausgehöhlter Kugelfisch. Aber diese einhundert Kugeln muss Coster gelegentlich abstauben, wenn sie offen auf dem Teppich liegen. Das würde mich abschrecken. Und der Kugelfisch erst. Er hat kleine Stacheln und kann folglich nicht gewischt, sondern muss gebürstet werden. Das hätte sich Mama Kugelfisch wohl auch nicht träumen lassen, als sie irgendwo im japanischen Meer ihren Laich absetzte, dass eines ihrer Jungen so weit rumkommen würde, um zuletzt bei Coster auf 99 anderen Kugeln zu verstauben. Verstauben! Frau Kugelfisch kennt nicht mal das Wort.

Aber angenommen, so ein Kugelfisch käme ursprünglich gar nicht aus dem japanischen Meer. Angenommen die Kugelfische wären hier fremd. Sie stammten vom Wasserplaneten eines Sonnensystems im Pferdekopfnebel. Ihr Heimatplanet wäre dabei gewesen auszutrocknen. Da hätten sich die letzten Kugelfische vor Äonen aufgemacht, neuen Lebensraum zu suchen und irgendwann hätten ihre Nachfahren auf dem Planeten Erde gewassert. Tief im japanischen Meer hätten sie eine ganze Weile gut gelebt. Aber seit einiger Zeit geschieht ihnen Merkwürdiges, was ihre Rasse auszurotten droht. Einer nach dem anderen wird von seltsamen Wesen rausgefischt und gefressen. Die Kugelfische sind ganz ratlos, denn diese Wesen leben nicht wie sie im Wasser, sondern irgendwo zu ihren Köpfen in einer für sie unzugänglichen Welt. Diese Wesen sind Allesfresser, und obwohl ihr Metabolismus den Kugelfisch nicht verträgt, fressen sie ihn doch, aus purem Mutwillen.

Ich habe schon am Münsterplatz unter Linden gesessen und gefrühstückt, derweil Coster noch schlief. Er steht immer erst um halb elf Uhr auf. So ist mein zweites Frühstück rasch beendet. Coster räumt ab und befiehlt, ich solle in Ruhe noch eine rauchen. Ob auf meinem Amsterdamer Käse vielleicht Außerirdische gelebt haben, die ich, weil sie so klein sind, nicht gesehen habe und gefressen? Habe ich versehentlich ganze Weltreiche vertilgt, eine Milliardenbevölkerung ins Unglück gestürzt? Nach dem ersten Bissen muss es schrecklich zugegangen sein in dieser Welt. Frauen weinten um ihre Kinder, Männer um ihre Autos, die öffentliche Ordnung zerfiel. Despoten rissen die Macht an sich. Erbarmungslose Religionen kamen auf, man brachte Opfer, meuchelte die junge, unschuldige Brut, um die Götter zu besänftigen, zettelte furchtbare Kriege mit den Nachbarn an, um deren vermeintlich sicheres Land zu erobern. Aber dann, das Meucheln, Morden und Brandschatzen ist noch voll im Gange, da reiße ich mein Maul auf und zerfetze und verschlinge den halben Kontinent mit Mann und Maus. Was soll ich machen? Ich habe kein einziges der Gebete gehört. Das ganze Betteln und Flehen, die Opfergaben, nichts davon ist bei mir angekommen. Ich bin einfach zu groß, bin ein ahnungsloser Riese.

Aber in meiner Welt bin ich das ganz und gar nicht. Da leide ich grad wie ein Hund. Warum nur? Wozu all das Leid in der Welt? Gibt es in einer für uns unbegreiflichen Dimension eine Lebensart, die sich schmausend ernährt von den Schmerzen und vom Leid dieses Planeten? Feiert man gerade mal wieder ein rauschendes Fest, und auch mein Herzblut schwappt in einem Pokal, den eine gierige, verwöhnte Göttin an die lackierten Lippen führt? Kennerisch schmatzend zieht sie mein Herzblut durch die Zähne, gurgelt damit und sagt: "Vorzüglich, dieser Tropfen." Und der Gastgeber tritt geschmeichelt heran und sagt: "Ja, den Tropfen habe ich vor Tagen in einem entzückenden kleinen Weingut in der Provence entdeckt. Seine Bitterkeit ist vorzüglich." Ähm, Tschuldigung. Mit dem letzten Satz bin ich ein bisschen aus dem Bild gerutscht. Mein Herz wuchs natürlich nicht in einem Weinberg, wurde nicht bedenkenlos gelesen und mit Füßen getreten. Auch wurde das ausgequetschte Herzblut nicht in Fässern gesammelt, vergoren, und auf Flaschen gezogen. Das fühlt sich nur so an.

Wie aber muss man sich die Leute von Usjh vorstellen, dem angeblichen Heimatplaneten des PentAgrion? Was PentAgrion über die menschliche Rasse sagt, lässt vermuten, bei ihm zu Hause geht es anders zu. Dann könnte ich mir vorstellen, die Wesen von Usjh sind zweigeschlechtlich. Oder sie sind sich selbst genug, brauchen nur sich, um sich fortzupflanzen, einfach durch Zellteilung. Was weiß ich. Jedenfalls scheinen sie nicht oder nicht mehr dem Diktat einer Tiernatur unterworfen zu sein, deren Streben nach Fressen, Macht und Paarung schier unendliches Leid hervorzubringen versteht, bis hin zum Meucheln, Morden und Brandschatzen, bis hin zur totalen Ausplünderung des Planeten und seiner Vernichtung.

Von Westen her, über den Höhenrücken des Stadtwalds hinweg ziehen schwarze Wolken auf. Als Coster zurückkommt, schaut er hoch und sagt: „Ich glaube, du gehst am besten sofort, sonst wirst du nass.“ Da packe ich meinen Kram und mache mich auf. In seiner Diele umarmen wir uns, und ich danke ihm für all die Wohltaten, die er mir hat zukommen lassen. Er ist jetzt froh, mich los zu werden, denn er hat alles getan für mich, was einer nur tun kann, der einen verwirrten Freund beherbergt. Am Vorabend hat er sogar auf seiner Trompete geblasen, die er kürzlich einer Freundin abgekauft hatte, die ein wenig klamm gewesen und Erbstücke hatte verhökern müssen.

Fortsetzung: 2.8 Ein Netz wird zerfetzt

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