50.000 Dinge - "Guten Morgen" am Münsterplatz - Aachener Nachrichten

Pataphysische Forschungs- und Lesereise (7.1) - Aachen (Samstag)
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Teil 4.1 - Teil 4.2 - Teil 5.1 - Teil 5.2 - Teil 6.1 - Teil 6.2

Leider bin ich ein verfluchter Frühaufsteher. Um sechs Uhr morgens werde ich wach. Coster hat in der Nacht vergessen, der antiken Pendeluhr den Hals umzudrehen. Sie hat mir wohl die ganze Zeit die Stunden geschlagen. Aber das habe ich nicht gehört. Ich höre nur, wenn meine innere Uhr bimmelt. Eine Weile liege ich noch da und schaue im Zimmer rum. Ich habe schon oft hier geschlafen, doch immer wieder entdecke ich Gegenstände oder Bilder, die ich vorher nicht gesehen habe. Thomas besitzt wohl an die 50.000 Dinge. Er war einmal in Afrika und hat gesehen, dass die Menschen dort nicht 500 Dinge besitzen. Viele Inder auf dem Land nennen auch nicht mehr ihr Eigen. Es ist schwer zu beurteilen, wie viele Dinge man braucht, um glücklich zu sein. Wo nicht Mangel herrscht, haben die Dinge natürlich gar nichts mit Glück zu tun, auch wenn uns die Händler erzählen, es wäre so. 50.000 Dinge zu besitzen, würde mich belasten. Wer jedoch ein Sammler ist, sieht das anders. Für ihn ist jedes Ding ein Teil seiner privaten Geschichtsschreibung.

Gegen halb acht fahre ich mit dem Rad auf den Münsterplatz, um zu frühstücken. Bei Nobis, wo ich früher oft und gern gesessen habe, stehen die Stühle noch nicht draußen, also setze ich mich vor das Café direkt im Schatten des Aachener Doms und genieße die morgendliche Stimmung auf dem Platz. Thomas steht grundsätzlich nicht vor halb elf auf. 10 Uhr ist für ihn mitten in der Nacht. Wir haben das schon eingeübt. Ich lasse ihn schlafen, bis er den Morgen begrüßt, und bringe aus der Bäckerei die Brötchen mit.

Vor den Stufen von St. Foillan hat früher immer eine alte Bettlerin im Rollstuhl gesessen. Sie ist weg. Ein Mann in ärmelloser Jeansjacke hat ihren Platz eingenommen, geht da auf und ab und grüßt jeden Frühaufsteher, der vorbeikommt. „Morgen“, „Moorgen“, „Guten Morgen“, „Morgen“, „Morgeen“, - es nervt. Vor allem scheint diese Methode zu betteln nicht jeder zu verstehen. Manche grüßen zurück und gehen weiter. Eine Weile habe ich Ruhe, denn er hilft bei Nobis, die Stühle herauszutragen und verdient sich einen Kaffee im Becher. Ein anderer Bettler kommt vorbei, und sie schimpfen über einen Kollegen. Der Grüßautomat regt sich auf. „Dat jeht doch net, wie dä do vör de Dür steht! Wenn dä Herr Nobis jlich kütt, dann kritt dä en Knallzijarr!“ Der Bettler, dem die Knallzigarre droht, ist ein völlig verdrecktes Bild des Jammers. Weit vorne übergebeugt steht er vor dem Eingang von Nobis und balanciert zitternd auf den Fußspitzen, dass man fürchtet, er würde jeden Augenblick auf die Nase fallen. Man kann sich nicht jeden Tag über die Erbärmlichkeit unserer reichen Gesellschaft aufregen, die solches Elend hervorbringt. Aber dieser Mann, der unwissentlich um eine Knallzigarre bettelt, hängt mir eine Weile nach.

Thomas ist noch nicht wach. Ich setze mich auf den Balkon und lese die Zeitung, die ich unterwegs gekauft habe. Eigentlich sucht der selbstbezügliche Halunke in mir nur den Artikel, den die Aachener Nachrichten über mich veröffentlicht haben.

Vor meiner Fahrt hat mich ein Redakteur des Lokalteils angerufen. Wir telefonierten eine gute halbe Stunde, und er zeigte sich sehr angetan von meinem Projekt. Thomas erzählte mir später, seine Apothekerin hätte die Zeitung auf mich aufmerksam gemacht, aber die Aachener Nachrichten wollten die Sache exklusiv haben. Man befindet sich in einem Konkurrenz- und Überlebenskampf mit der größeren Aachener Zeitung, die im selben Verlag erscheint. Früher waren beide Zeitungen unabhängig, doch inzwischen werden sie von einem gemeinsamen Chefredakteur geleitet, und nur der Lokalteil unterscheidet sich wesentlich.


Offline-Lesereise AN(Lesen: Klicken und mit STRG + vergrößern)

Redakteur Werner Breuer hat einen stattlichen Bericht veröffentlicht, sogar eine Grafik passend zur Überschrift machen lassen. Am Schluss wird auf die heutige Veranstaltung im Kerstenschen Pavillon hingewiesen. Dafür, dass ich mich oft kritisch über das Printmedium äußere, bin ich hier bestens bedient. Jetzt brauche ich nur noch anständig zu lesen.

Fortsetzung: Schon wieder nasses Hemd - Alptraum der Familie Mantels - Ich beichte, schmunzle und gebe zu denken
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