Der Laut des Besens

"...wils Got haben, das ich die schrifft leren soll, so beschichts gewiszlich, dann Got ist alle ding moeglich." (Fabritius, 16. Jh.)

Mein erstes Buch war ein Bilderbuch, das mein älterer Bruder mir aus der Bücherei ausgeliehen hatte. Es handelte von einer Osterhasenfamilie, die in Ostereierhäusern wohnte. Da gab es viel zu gucken, zu deuten und zu vermuten, doch wie die Dinge in der Osterhasenwelt nun wirklich zusammenhingen, konnte ich den Bildern nicht entnehmen. Da beneidete ich meinen Bruder, denn er verfügte über das Geheimwissen, das aus den Buchstaben kam.

fffffDieses Geheimwissen lehrte mich Fräulein Lamboy. Sie machte uns Erstklässler mit den Buchstaben bekannt, indem sie Geschichten aus ihrem Alltag erzählte. An eine erinnere ich mich noch: Sie war mit dem Zug im Kölner Hauptbahnhof gewesen. Da war ein Mann mit einem Besen und kehrte den Bahnsteig. Sein Besen machte: „ffff - fffff - fffffff." Und wie wir uns noch den Bahnsteigkehrer vorstellten, zeigte uns Fräulein Lamboy etwas Zauberhaftes. Den Ton des Besenstriches aus ihrem Mund konnte sie mit Hilfe eines Zeichens an die Tafel bannen und jederzeit in die Welt der gesprochenen Sprache zurückholen.

So lernte ich das „f“ und alle anderen Buchstaben des Alphabets über anschaulich vermittelte Laute. Mit jedem gelernten Buchstaben drang Schrift in meine Welt. Bücher begannen zu sprechen, und zum freiwilligen Lesen gesellte sich das unwillkürliche Lesen; Verpackungen offenbarten ungefragt ihre Versprechungen und Plakate riefen mir ihre eigennützigen Botschaften zu.

Fräulein Lamboy hatte schöne weiße Hände, anders als die groben Hände der Landfrauen. Einmal nahm ich mir die Bürste und scheuerte meine Hände über dem Waschbecken, bis meine Mutter mich fragte, was in mich gefahren sei. Da sagte ich ihr, dass ich so schöne weiße Hände wie Fräulein Lamboy haben wollte.

Doch Fräulein Lamboy hatte eine seltsame Krankheit, die sich just an ihren Händen zeigte. Im Laufe des Vormittags verkrampften sich ihre Finger und krümmten sich nach innen. Sie hielt dann die Kreide zwischen den verkrampften Fingern beider Hände. Wenn sie derart mit Kreide und Tafel zu kämpfen hatte, litt ich mit Fräulein Lamboy und hoffte für sie, dass der Unterricht bald endete, damit sie endlich mit dem Fahrrad zum Arzt des Nachbardorfes fahren konnte, der ihr täglich ein entkrampfendes Mittel spritzte.

Schreiben und Lesen
Die Chirospasmen meiner Lehrerin zeigten eindrucksvoll, dass Schreiben eine Auseinandersetzung ist zwischen Mensch und Material. Manchmal geht es nur mühsam, und dann heißt es, Selbstdisziplin zu zeigen und nicht zu verzagen. Die moderne Textverarbeitung lässt diesen haptischen Aspekt des Schreibens vergessen, weil der komplexe körperliche Vorgang auf den Tastendruck reduziert ist. Doch was leicht geht, hat auch geringeren Wert. So eindrucksvoll wie ein mit verkrampften Händen an die Tafel geschriebener Satz kann ein digital erzeugter Text niemals sein.

Wer viel schreibt, ist zudem geneigt zu vergessen, dass unsere Schrift die Sprachlaute abbildet. Dann verselbstständigt sich die Schrift, und man achtet nicht mehr darauf, wie das Geschriebene wohl klingt. Doch auch beim leisen Lesen bewegt sich die Stimmritze des Menschen unwillkürlich mit. Man darf also annehmen, dass ein Text besser aufgenommen wird, wenn er nicht nur gut aussieht, sondern auch angenehm tönt. Es klingt zum Beispiel nicht gut, wenn der Auslaut eines Wortes und sein folgender Anlaut identisch sind.

Auch Lesen ist ursprünglich eine Auseinandersetzung mit Material, es bedeutet "aufheben, verstreut Herumliegendes aufsammeln." Einen digitalen Text kann man nicht in die Hände nehmen, und daher ist er buchstäblich schwerer zu erfassen und zu begreifen.

26 Schlüssel
Fräulein Lamboy betreute unsere Leihbücherei. Als ich in der vierten Klasse war, bestellte sie mich zu sich nach Hause, weil ich ihr helfen sollte. Auf ihrem Wohnzimmertisch stapelten sich neue Bücher, die sie mit Rückenschildchen versehen und in Klarsichtfolie eingebunden hatte. Wir legten sie in einen Wäschekorb und trugen sie in die Bücherei. Dort räumte ich sie in die Regale, während Fräulein Lamboy die Karteikarten schrieb. Ich war glücklich, in dieser Wunderwelt der Bücherei sein zu dürfen. Und das Zeichen für den Laut des Besens war einer von 26 Schlüsseln, die ich Fräulein Lamboy verdanke.

(Schriftwelt im Abendrot)
2070 mal gelesen
Sonnenschein (Gast) - 6. Apr, 13:47

Das ist, warum ich deine Beiträge gern lese:
Du legst die Buchstaben so vor, das man sie gut aufheben und sortieren kann als Ganzes, gut Fassbares, Begreifliches.
Frau Lamboy hat dich offensichtlich so viel mehr gelehrt.

Trithemius - 6. Apr, 19:37

Darüber habe ich eben nachgedacht, und ich glaube tatsächlich, dass mich diese Frau den Wert der Anschaulichkeit hat erkennen lassen. Darum bemühe ich mich - und manchmal klappt es, wie ich erfreut deinem Kommentar entnehme.
immekeppel - 6. Apr, 15:32

analytisch

meine spekulation seit jahren: das abhandenkommen der analytischen methode des lesen/schreibenlehrens, wie es deine frau lamboy noch gemacht hat, ist schuld an den übermäßig vielen (funktionalen) analphabeten hierzulande. und seltsam, der erwachsenen bringt man es bei auf die althergebrachte manier - und siehe da, alphabethisierung in nur einem jahr ist auch bei hans noch möglich

Trithemius - 6. Apr, 19:34

synthetisch

... wenn mich nicht alles täuscht, habe ich nach der synthetischen Methode gelernt. Analytisch ist die Ganzwortmethode, von der man ja wieder abgerückt ist. Die Ganzwortmethode war gewiss ein Rückschritt - denn schon im Mittelalter hat es analphabetische Kalligraphen gegeben, die ohne Sinn und Verstand Wortbilder abmalten, was die vielen fehlerhaften Texte des MA zum Teil erklärt.
Bei den vielen Irrungen und Wirrungen in der Erstschriftdidaktik ist es ein Wunder, dass so viele Schüler trotzdem lesen und schreiben gelernt haben. Allerdings bleibt die Zahl der funktionalen Analphabeten seit Jahrzehnten gleich hoch.
ρ (Gast) - 7. Apr, 02:34

"...was leicht geht, hat auch geringeren Wert."
Muss es immer so sein? Wird ein Text automatisch wertvoller, wenn bei seinem Erstellen mehr Aufwand betrieben werden musste, erfährt Geschriebenes also eine Art Wertschöpfung über die Beschaffenheit seines Mediums? - Ein per Hand geschriebener Text ist insofern selbstverständlich immer wert-voller, Papier und Tinte kosten Geld und der Vorgang mehr Zeit. Ist deshalb ein Blogeintrag, der einem geübten Zehn-Finger-Schreiber quasi aus den Fingern fließt, unbedingt weniger wert? Dieses "fließende Schreiben" hat doch durchaus auch Positives, gerade fürs Blogschreiben, wo man einen Gedankenstrom einfach in Text bannen kann, ohne sich um verschmierte Tinte oder müde Hände Gedanken machen zu müssen. Auch ist es viel einfacher, an Digitaltext im Nachhinein noch einmal zu feilen; selbst bei einem Schreibmaschinentext würde ich es mir zweimal überlegen, ob ich das Ganze für eine Änderung nochmal tippen würde, bzw. ob ich etwas überhaupt niederschreibe.

Trithemius - 7. Apr, 10:04

Bitte schreib nächstens deinen Namen aus, - gänzlich anonyme Kommentare lösche ich wieder.

Der Wert eines Textes entsteht im Kopf des Lesers, ist also keine Eigenschaft des Textes. Und somit kann ein durch "fließendes Schreiben" erzeugter digitaler Text einem Leser durchaus mehr geben als ein kalligraphisch geschriebener Text auf Pergament, denn die Rezeption hängt ja von Form und Inhalt ab und davon, welches Interesse der jeweilige Leser hat. Und selbstverständlich bietet die digitale Textverarbeitung einige zusätzliche Möglichkeiten wie z.B. das von dir, p, angesprochene Feilen und nachträgliche Bearbeiten. Die leichte Formbarkeit birgt jedoch auch Tücken, denen man als Schreiber rasch erliegen kann.

Grundsätzlich ist die Tendenz zu beobachten, dass mehr geschrieben wird als je zuvor und dass viele Texte im Internet veröffentlicht werden, denen es an Qualität mangelt, hinsichtlich sprachlicher Form und Inhalt. Manches würde nicht geschrieben, ginge es nicht so leicht. Die Textflut ist das Problem, denn aus dem Wust der veröffentlichten Texte die wirklich relevanten herauszufinden, ist kaum noch zu leisten und daher von Zufällen abhängig.

Oft wird eben nicht an den Texten gefeilt, sondern die Schriftsprache nähert sich dem Mündlichen an. Hinzu kommen Texte, die maschinell aus Textbausteinen erzeugt worden sind. Solche Texte liest man nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit und inneren Sammlung, die man einem Buchtext zukommen lässt, also sinkt ihr Wert.
immekeppel - 7. Apr, 13:15

verwechselt

stimmt, das hatte ich verwechselt - ich meinte synthetisch

und was die funktionalen analphabeten angeht, leider steigt die zahl. man kann mittlerweile davon ausgehen, dass ca ein drittel der schülerInnen mit hauptschulabschluss im sinne des funktionalen analphabethentums selbst einfache texte nicht mehr sinnerfassend lesen kann

Trithemius - 7. Apr, 13:36

Analphabeten

Hab mal bei Wikipedia geguckt: "In Deutschland sind 2004 nach Schätzungen 0,6% der Erwachsenen totale sowie zwischen etwa 6,5% und 11,2% funktionale Analphabeten."
Unfassbar, doch hausgemacht, das Ergebnis der Vernachlässigung schulischer Bildung durch die jahrzehntelange Sparpolitik.
Nanina (Gast) - 7. Apr, 17:25

Haben Wörter nicht an sich eine Materialität, egal ob sie am Bildschirm oder hangeschrieben erscheinen? Sie haben Lautwert und Zeichenwert, was sich nie ausblenden lässt.

Generell denke ich auch, dass heutzutage zu viel geschrieben und zu wenig gelesen und zugehört wird - nur, ist es nicht unbedingt an mir die Textschwemme zu kritisieren :)

Und das Mittelalter wird in seiner Schriftlichkeit häufig etwas zu romantisch gesehen. Die grossen Texte, die bis heute Bestand haben, sind manchmal in nur einer Abschrift vorhanden. Dafür füllen schrecklich religiöse Gedichte die Bibliotheken.
Ich weiss nicht, ob eine Erleichterung des Schreibens tatsächlich die Qualität senkt...
Schöne Ostern!

Trithemius - 7. Apr, 17:57

Es ist für die meisten Menschen ein Unterschied, ob sie Zeitung / Buch in die Hand nehmen oder den Bildschirm betrachten. Auch würde man nicht freiwillig ein komplettes Buch vom Bildschirm ablesen. Der Materialcharakter des Trägermediums ist entscheidend. Laut- und Zeichenwert sind hingegen imaginäre Größen.
Von mir selbst weiß ich, dass ein Text, den ich per Hand schreibe, anders ausfällt, als würde ich ihn tippen. Die Langsamkeit des Schreibaktes verlangt mehr innere Sammlung und zwingt zur gezielten Formulierung.
Was das Schreiben im MA angeht, stimme ich dir zu, soweit es Abschreiben war. In den Schreiber-Nachschriften am Ende kopierter Bücher finden sich häufig Klagen über kältestarre Finger, schlechtes Licht, nachlassende Sehfähigkeit usf. Derartige Klagen von Autoren findet man allerdings eher selten. Es ist eben ein Unterschied, ob man schreibt oder abschreibt.
Die Qualität von Texten steht und fällt im Einzelfall gewiss nicht mit der Schreibtechnik. Veränderte Lebensbedingungen erfordern neue Techniken. Und ist das Leben rasch, passt es gut, wenn eine rasche Schreibtechnik zur Verfügung steht. Wenn du jedoch beklagst, dass zuviel geschrieben wird und zu wenig gelesen, dann benennst du die Kehrseite der Medaille.

Dir auch ein schönes Osterfest.

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