Ein Rheinländer in Hannover (1) – "Da nicht für!"

Hannoveraner sind höfliche Leute. Wenn dir in der Dunkelheit auf dem Bürgersteig eine Rotte Halbwüchsiger entgegenkommt, selbst dann musst du nicht vorsorglich die Straßenseite wechseln; sie stoppen ihre wüsten Gesten, belästigen dich nicht mit harten Worten, sondern verstummen, indem sie dir artig Platz machen. Eines Abends wollte ich verschneite Autos fotografieren. Auf dem Gehweg war nur ein schmaler Streifen geräumt. Da kam eine dunkle Gestalt mir entgegen und verharrte geduldig in der Kälte, bis ich mein Foto geknipst hatte. Ich sagte: „Dankeschön!“, aber die Gestalt sagte wegwerfend: „Ach! Da nicht für!“

Hannoveraner sind
freundlich, aber man kann es ihnen nicht wirklich recht machen. Du bist eingeladen, bedankst dich geflissentlich, und was kriegst du zu hören? „Da nicht für!“ Sofort hast du ein schlechtes Gewissen. Hätte man sich für etwas anderes bedanken müssen, für eine riesige, weltbewegende Sache, die einem zuteil wurde, aber man hat’s nicht gemerkt, ist einfach zu blöd?

„Da nicht für!“, nuschelte gestern einer der Moderatoren beim Poetry-Slam im Hannöverschen Kulturzentrum Faust in sein Mikrophon. Es hat mich beruhigt, dass auch Hannoveraner sich gegenseitig keinen Dank gönnen. Leider weiß ich nicht, was der Anlass für „Da nicht für!“ war, denn die Moderatoren Jan Egge Sedelies und Henning Chadde redeten unentwegt durcheinander. „Dankeschön, dass ich nix verstanden habe.“ „Ach, da nicht für!“ Thema des Slams war an diesem Abend was? „Hannover“. Neun Slammer traten an, und die meisten gaben sich redliche Mühe, die Stadt in den Dreck zu ziehen, was mich als Neubürger ziemlich verunsicherte. Sollte ich am Ende einen Knick in der Optik haben und Schönheit sehen, wo nur Beton ist? Schließlich befleißige ich mich, die Stadt in den höchsten Tönen zu loben, wann immer einer wissen will, warum ich ausgerechnet von Aachen nach Hannover und so.

Rathaus Hannover

Ja, Hannover hat auch Beton. In den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts liebte man den architektonischen Stil des Brutalismus. Inzwischen wollen die Stadtväter den Beton aber loswerden, weshalb es in Hannover viele hartnäckige Baustellen gibt. An Beton hat sich eben schon mancher Bagger die Zähne ausgebissen. Bevor man mich rügt: Ich weiß, es gibt auch Stadtmütter, aber das zarte Geschlecht hatte es nie mit Beton, ausgenommen vielleicht Ursula von der Leyen. An ihre brutalistische Betonfrisur lässt sie keinen Abrissbagger, was wiederum beweist, wie sehr die Architektur die Menschen prägt und manchmal sogar härtet.

Zugegeben, das alles ist abschreckend, aber was hat beispielsweise Wanne-Eickel zu bieten? Doch offenbar nicht viel, aber hätte jemals einer aus Wanne den Beton seiner Stadt verflucht? Nein, der guckt einfach in den Himmel und besingt den Mond. Und sag mal leichthin, in Bielefeld wäre das Wegfahren am schönsten, dann kannst du dich aber warm anziehen. Monatelang haben mich Bielefelder deswegen beschimpft, und manche konnten sogar beinahe Hochdeutsch.

Es war voll im Faust, und wer zu spät kam, musste am Rand stehen. Zuletzt kam eine Blondine, verschmähte den Rand, platzierte sich gut gelaunt mitten im Raum und verstellte etwa 25 Leuten die Sicht auf die Bühne. Immerhin, wenn sie eitel mit dem Kopf wackelte, konnte ich durch ihre Haare gucken. In der Pause stand ich draußen bei den Rauchern. Da sagte einer: „Ich sehe nur den Rücken von so einer blöden Blondine im weißen T-Shirt.“ Darüber habe ich mich doch gewundert. Wenn er gleich hinter ihr saß, warum hat er sie nicht ermahnt? Das ist typisch für Hannoveraner; sie ertragen selbst Unverschämtheiten geduldig und murren nur, wenn sie glauben, unter sich zu sein.

Sinnbildhaft für diesen Untertanengeist ist eine wunderliche Sitte. Auf dem Bahnhofplatz steht das Reiterstandbild von König Ernst August I. Wenn sich Hannoveraner verabreden, dann am liebsten „Unter dem Schwanz“ seines Pferdes. Offenbar gefällt ihnen die Vorstellung, sich vom königlichen Ross bekötteln zu lassen. Als Ernst August noch lebte, hat man die Köttel nämlich gesammelt, um sich im Winter die Hände daran zu wärmen. Wenn der König durch die Stadt ritt und sein Pferd kötteln ließ, dann jubelten seine Untertanen: „Gott schütze den König!“ Und Ernst August I. antwortete generös: „Ach, da nich für!“
6611 mal gelesen
la-mamma - 19. Feb, 16:00

aha,

da nicht für alles gedankt werden darf - zumindest scheint das ja in hannover so zu sein - lass ich sie stattdessen an meinem kindlichen missverständnis ein wenig passend zum letzten absatz teilhaben:
meine oberösterreichische verwandtschaft pflegte im falle eines (eventuell abzulehnenden/eher resignierten) ersuchens immer "bittig orschi" zu sagen - und ich bin auch lange von einer regionalen spezialsitte ausgegangen ...

Trithemius - 19. Feb, 20:06

Verzeihen Sie meine Unwissenheit, Verehrteste,

aber was bedeutet "bittig orschi"? Mit Dank im voraus ...
la-mamma - 19. Feb, 20:21

auf hochdeutsch

hätte ich "ich bitt' dich gar schön" schreiben müssen;-)
wobei das "ich" allenfalls noch als "i", aber viel öfter gar nicht mehr ausgesprochen wird. und aus dem gar schön so eine art "goar sche" bzw. eben "gorschi" wird. und das ganze dann ohne jede pause ...
Trithemius - 19. Feb, 20:35

Das nenne ich prompte Aufklärung

Mit ein bisschen Verstand hätte ich freilich auch drauf kommen können, aber der war wohl gerade aushäusig.
Mimiotschka - 19. Feb, 20:52

Rossmann beköttelt Straße! Tolle Schlagzeile.

Der Hannoveraner unterschlägt übrigens das T und sagt nur: Da nich für!

Trithemius - 19. Feb, 21:01

Dafür beantrage Titelschutz

Vielen Dank für die Korrektur, meine Liebe. Ich lass es im Text aber so, damit man deinen Kommentar versteht. Nur beim König ändere ich es, die Kerls waren ja immer schon maulfaul.
immekeppel - 20. Feb, 09:13

pferdeäpfel

prima, dann hab ich ja nächsten winter keinen brennstoffengpass, falls der wieder so kalt und lang werden sollte - wir haben ja mittlerweile drei kleinpferde...

Trithemius - 20. Feb, 09:41

Dann seid ihr ja bald ...

so gut wie autark.
nömix - 20. Feb, 09:40

Die Freundlichkeit der Hannoveraner ist mir allerdings auch schon aufgefallen, kann Ihre Beobachtungen nur bestätigen.
(ganz anders die Berliner – wenn man einen Berliner fragt: "Könnten Sie mir sagen, wie spät es ist?" sagt der: "Ja, könnt' ich." und geht einfach weiter.)

Trithemius - 20. Feb, 09:56

Danke, das Urteil eines

weitgereisten Mannes zählt doppelt. In Berlin geht's so ...

webgeselle - 20. Feb, 14:29

Ja, das ist das Alter...

... man kiekt bei Blondinen durch die Haare...

(... sorry...)

Das Rathaus hat aber was (so im doppeltem Sinne aus der Ferne gesehen), ohne Flax...

Trithemius - 22. Feb, 18:15

Ja, das Rathaus ist sehenswert, und zwar außen wie innen. Einige Impressionen hier in der 3. Lesenacht (auf Seite 2):
http://abcypsilon777.blog.de/2007/11/09/plauderei_unterm_himmel~3270962/

Die spezielle Blondine hingegen war übersehenswert.
webgeselle - 25. Feb, 14:15

Man müsste das echt mal machen...

... zu so einem Weibchen-Wesen schreiten und etwa melden, sie wäre voll übersehenswert (heute habe ich endlich mal eine Medien-Meldung gefunden, die ich auf Anhieb geglaubt habe: Paris Hilton, stand da, hätte einen IQ von 80); allein: da sitzt garantiert wieder so ein Schwellkörper daneben und ich habe doch eh' schon Dritte drin, chch...

...aber so was habe ich sowieso nicht drauf...

(... den Artikel hatte ich, glaube ich, durchaus beäugt... H. war halt Königssitz - oder wie man da sagt - und man merkt es...)
Trithemius - 25. Feb, 18:54

Das Rathaus wurde 1913 fertiggestellt und ist ein eklektizistischer Stilmix. Es finden sich auch Elemente aus dem Jugendstil. Sehenswert der Hodlersaal, benannt nach einem Wandgemälde von Ferdinand Hodler. Das neue Rathaus steht auf 6026 Buchenpfählen in sumpfigem Gelände. "'Zehn Millionen Mark, Majestät - und alles bar bezahlt', verkündete hierzu Stadtdirektor Heinrich Tramm, als das Neue Rathaus von Kaiser Wilhelm II. eingeweiht wurde." (Wikipedia)

Was die Blondine betrifft, solche Sprüche fallen mir meistens zu spät ein.
webgeselle - 25. Feb, 19:53

"Das verstehe ich sehr gut!" (Dr. Freudlos)

Trepverter - Wörter, die Einem nachher auf der Treppe einfallen...

Vor allem: das Rathaus steht da "mit nichts drumrum" und viiiiel Plaaaatz; das hat man nicht mal in Lübeck oder Augsburg usw.
Trithemius - 25. Feb, 22:41

Tolles Wort, merke ich mir:

Trepverter.

Platz drumrum: Es ist freilich die Rückansicht. Vorne verläuft die vierspurige Straße, auf der Frau Käßmann erwischt wurde.
sesta (Gast) - 20. Feb, 19:16

Ein schöner Beitrag über Hannover. Damit würde der Blog auch gut zum "bloggenden Hannover" (http://hannover.tamagothi.de/) passen.

Trithemius - 22. Feb, 18:09

Vielen Dank,

und wenn ich mal wieder über Hannover schreibe, melde ich mich.
Videos über Hannover und das Umland:
http://abcypsilon777.blog.de/2009/10/02/schmocks-videotagebuch-herbst-kommt-fahrplan-7086550/

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