Hier hängen nur Zettel, wenn du befugt bist zu lesen

Für-Unbefugte

Herbert Nebenmann und ich sind uns eigentlich nicht sehr ähnlich, zumindest nicht, wenn wir gehen. Herbert ist eher zu klein geraten und ich bin für meinen Geschmack zu groß, weshalb ich ein wenig krumm gehe, während Herbert sich kerzengerade hält. Sieht man uns zusammen, straft jeder den anderen lügen. Und ein unvoreingenommener Betrachter würde finden, aus uns beiden könnte man einen Guten machen, der sich nicht recken muss, nicht krümmen, sondern einfach lässig daherschlendern dürfte. Deshalb ist es aus ästhetischen Gründen fast besser, wenn Herbert und ich einander meiden. Für sich genommen, also ohne das entlarvende Gegenbild, sieht doch jeder von uns am besten aus. Genauso sollten vielleicht nicht unbedingt ein rundnasiger und ein scharfnasiger Mensch zusammen herumgehen – aber das ist jetzt wirklich nicht mehr mein Thema.

Der durchaus enorme Größenunterschied hat zudem die unangenehme Begleiterscheinung, dass Nebenmann zu mir aufschauen muss, während ich ungewollt zu ihm hinabsehe, was mir eine gewisse Vormachtstellung einzuräumen scheint, die allerdings ganz und gar ungerechtfertigt ist. So sollten wir allenfalls nebeneinander sitzen, nicht jedoch nebeneinander gehen, was wir inzwischen auch kaum noch tun, oft jedoch während unseres gemeinsamen Studiums getan haben. Damals wollten wir einfach nicht wahrhaben, dass uns die Natur und die Gesetze der Ästhetik das Paarlaufen verbieten.

Wir hätschelten nämlich ähnliche Vorlieben und Ideen, worüber wir uns gerne gehend austauschten, ich von oben herab, er von unten herauf. Eine dieser Ideen betraf die zahlreichen Türen in den langen Gängen der Universität. Wir hatten gefunden, dass die meisten dieser Türen immerzu und jederzeit geschlossen waren. Das gab zunächst überhaupt keinen Sinn, denn wozu führen elend lange Gänge zu ungezählten Türen hin, wenn die Türen von niemandem benutzt werden? Andererseits war die Sache doch etwas vertrackter als es hier den Anschein hat.

Geschlossen waren die Türen nur, wenn Herbert und ich keinen Grund hatten, sie zu öffnen. Wenn wir also von einem Hörsaal des Pataphysischen Instituts unterwegs waren zu - sagen wir mal - einem Seminarraum im fernen Seitenflügel und tauchten in einen der halbdunklen Flure ein, schritten über die quietschenden Fliesen aus blauem Balatum und rissen mal aus purem Übermut an einer Türklinke – nie fanden wir eine offen. Hieß es aber zum Beispiel, wir hätten uns zur Besprechung einer Seminararbeit in Zimmer soundso zu melden, gelegen im Haupttrakt der 2. Etage, wo wir noch nie eine Tür offen gefunden hatten, gingen wir also hin und klopften an so eine Tür, wurde flugs von innen „Herein!“ gerufen, zumindest aber irgendwas Unwirsches geknurrt. Und traten wir dann ein, sahen wir eine Sekretärin mit der leeren Kanne in den Nebenraum gehen, wo sie aus dem Hahn überm Waschbecken Wasser holte, um dann zurückzukommen und das Wasser in die Kaffeemaschine zu gießen und mit dem Rest die Blumentöpfe auf der Fensterbank zu fluten. Und da wir diese Szenerie nicht einmal vorfanden, sondern dreimal hinter unterschiedlichen Türen, einigten wir uns darauf, dass sich uns ein kosmisches Prinzip erhellen wollte: Erst just wenn wir bestellt waren und an die besagte Tür klopften, wurde der Raum dahinter erschaffen, mitsamt Sekretärin, leerer Kaffeekanne und vertrockneten Fensterblumen. Dieses kosmische Prinzip hatte etwas Unerbittliches, gleichsam Ehernes, denn allein der Wunsch, eine gießende Sekretärin zu beobachten, reichte nicht, wie wir in folgenden Testreihen herausfanden. Immer musste ein höherer Grund vorliegen, – wir mussten bestellt sein, um eine solche Sekretärin vorzufinden.

Hier wäre zwischendurch zu erwägen, wie denn eine gerade erst entstandene Sekretärin sich erlebte. Wurde sie sich urplötzlich ihrer selbst bewusst mit einer leeren Kanne in der Hand, wenn’s an die Tür klopfte? Dachte sie dann: „Huch, das bin ja ich! Und ich muss Wasser holen!“? Dann ein Blick zur Tür, wie sie langsam aufgeht und zuerst einen gebückten Großen und dann einen gereckten Kleinen einlässt. Es entzieht sich leider der Erkenntnis, ob im kosmischen Plan der Sekretärin vorgesehen ist, dass sie sich über den grotesken Größenunterschied amüsieren kann. Wir fanden unterschiedliche Modelle vor. Mal wurde keine Miene verzogen, mal wurden die Augen erstaunt gerundet, mal glitt ein verstecktes Grinsen übers Sekretärinnengesicht. Wasser holen – ausgießen – nach dem Begehr fragen und eine maulfaule Auskunft geben, das sind die beobachtbaren Abläufe im kosmischen Plan einer solchen Sekretärin, weshalb sie den Vorgang des Wasserholens bis hin zum Ausgießen auch so recht auszukosten und in die Länge zu ziehen trachtet. Denn sobald Nebenmann und ich wieder gegangen waren, tauchte sie ja erneut in einen unwägbaren Dämmer, aus dem sie erst erwacht, wenn jemand an die Tür klopft, der herbestellt ist.

Ein Schluck Wasser - ah, das tat gut – und weiter:

... und zurück in die Gegenwart, vielmehr in die just erst ein bisschen vergangene Gegenwart. In meinem eigenen kosmischer Plan ist nicht vorgesehen, die Bilder einer bestimmten Ausstellung zu sehen. Zuerst stahl sich der dazu vorgesehene Donnerstag davon, wollte mit diesem und jenem verbracht werden, nicht aber mit Bildbetrachtungen. Der Freitag gab sich freimütig, ließ sogar die Sonne blinzeln, was jedoch, wie sich später herausstellte, eine Finte der kosmischen Vorsehung gewesen ist. Denn ich vergaß deshalb, meine Lesebrille einzustecken, da ich nämlich von mir weiß, dass ich unter der hellen Sonne alles ohne Brille sehen kann, selbst kleinste Miniaturen, gemalt mit einem einzigen Schamhaar. Der Leser möge das Wort „einzigen“ entschuldigen, weil doch solch ein vereinzeltes Haar weit weniger erquicklich ist als … - vom Thema abgekommen.

Jacke-mit-ohne-BrilleNun begab es sich, dass im Ausstellungsgebäude alle Fenster verhängt waren. Die Räume lagen nicht gänzlich im Finstern, denn man hatte sehr wohl mit ein paar Funzeln für ein bisschen Licht gesorgt. Doch um die Zeichnungen an den Wänden wirklich betrachten zu können, hätte sich in meinen diversen Taschen die Brille finden müssen. Das tat sie aber nicht, obwohl ich ihr alle Zeit der Welt ließ, sich zu materialisieren. Die Ausstellung zeigte Originalzeichnungen aus der satirischen Zeitschrift „Eulenspiegel“, die zu DDR-Zeiten gar eine Auflage von 500.000 Exemplaren gehabt hatte. Satirische Zeichnungen zu fertigen unter den gewiss sorgsam bebrillten Augen von Zensurbeamten, das verlangt nach Zeichnern, die sich auf das Arbeiten unter bedrückenden Bedingungen verstehen. Vermutlich kommen deshalb die meisten der DDR-Zeichner aus handfesten Berufen, waren Schlosser, Monteure oder Bauzeichner gewesen, bevor sie das harte Brot geduckter Satiriker essen durften. Meine liebenswerte Begleiterin erbot sich, mir die Bildunterschriften vorzulesen, doch ich zog es vor, die Bildtexte nicht zu erfahren, denn die durchaus gekonnten Zeichnungen erinnern stilistisch an die Witze in der Bäckerblume oder in Kreuzworträtselheften. Vermutlich hatte ich die Brille vergessen, weil virtuos gezeichnete Harmlosigkeit pures Gift ist für mein zartes Gemüt. So blieb mir das ganze Elend verschlossen und nur eine Zeichnung in Erinnerung. Unter einer Tafel mit der Aufschrift „Information“ saß hinterm Tisch ein Mann mit Brille, aber ohne Mund.

Aus purem Trotz fragte ich später den Glatzkopf hinter der Kasse, warum die Bilder nicht ordentlich ausgeleuchtet wären. Er tat’s Maul auf und sagte, dass jede Lichteinwirkung den Bildern schade, und man wolle sie schließlich auch in hundert Jahren noch zeigen. Diese artige Idee war irgendwie tröstlich, wo man doch nicht mehr so recht daran glauben mag, dass der kosmische Plan der Menschheit so weit in die Zukunft ragt. Also ich bin dann glücklich tot.
„Ich habe gestern einen Urlaub in der Türkei gebucht. Ein bisschen Party machen. Und wenn ich zurückkomme, habe ich die richtige Bräune für den Abiball, hihi.“

„Ach, ich habe im Moment sowieso mit den Knien zu tun und weiß gar nicht, welche Schuhe ich anziehen soll. Das liegt am unnatürlich warmen Wetter. Früher waren doch Februar und März die kältesten Monate.“

Aus der Fülle der
Menschenkinder bescherte mir der kosmische Plan bislang immerzu Mitreisende, die solche und ähnliche Sätze sagen müssen. Ich besteige den ICE, suche meinen reservierten Platz auf, und genau da sitzen Menschen ringsum, deren Unterhaltungen mich unerwünscht in bodenloses Grübeln stoßen. Die eine Lebenswelt will man sich nicht vorstellen müssen, die andere eigentlich ebenfalls nicht. Und dann musste ich auch noch der älteren Dame beinah recht geben, denn als in Hamm der ICE geteilt wurde, trat ich auf den Bahnsteig, einerseits um zu rauchen, anderseits, damit ich mal in Hamm gewesen bin. Da war es tatsächlich so warm, dass ich vorsichtshalber meine Kniegelenke testete. Und als ich mich wieder auf meinen Fensterplatz setzen wollte, musste sich mein Nebenmann erheben. Wegen der Gefahr für seine Knie, warnte ich: „Der Frühling ist ausgebrochen.“

Dieser Mann hatte beim Reiseantritt schon meine Aufmerksamkeit erweckt, als er neben mir Platz nahm und dabei die auf dem Platz liegende Bahnzeitschrift ignorierte. Dann hatte er bis Hamm wie absichtsvoll auf ihr gesessen, weshalb ich nicht wusste, ob es ein Versehen war oder ob er vielleicht einer seltsamen Bahnfahrersekte angehörte, deren Mitglieder sich grundsätzlich auf Zeitschriften setzen, weil sie die Theorie vertreten, Sitzpolster würden mikrobiotische Weltreiche beherbergen, mit denen man sich besser nicht gemein macht. Wunderlich fand ich auch, dass wir ähnliche Kleidung trugen, schwarzes Jackett, dunkelgraues Hemd und Jeans, als hätten wir uns abgesprochen. Allerdings war sein schwarzer Mantel dünner als meiner, quasi für den in Hamm ausgebrochenen Frühling gemacht, was er mir durch Anheben demonstrierte. Er habe eine Lesung hinter sich, sagte er, als wir wieder saßen. Eine halbe Stunde habe er auf der Leipziger Buchmesse gelesen, und das sei nicht besonders erbaulich gewesen, weil ein anderer Autor in der Nähe ihn per Lautsprecher zu übertonen drohte. Aber was hätte er machen sollen, der Verlag habe ihn zu dieser Lesung genötigt oder gebeten und so. Bald stellten wir einander vor, er war und ist vermutlich immer noch der Musiker, Autor und Zeichner Eugen Egner, und ich bin ja ich, das stand jedenfalls auf der Visitenkarte, die ich ihm gab. Wir sind, wie wir herausfanden, Titanic-Kollegen. Sähe Eugen Egner wie seine gezeichneten Figuren aus, dann hätte er irgendwo an seinem Körper vielleicht eine groteske Ausbuchtung oder er trüge auf seinem Rücken eine aufgeschnallte Truhe.

Dem war nicht so, und die Zeitschrift hat er dann auch endlich ins Netz des Vordersitzes geschoben. Wir redeten bis Wuppertal, das dem Gefühl nach gleich hinter Hamm auftauchte. Ach, warum kann’s nicht immer so kurzweilig gefügt sein in der Welt, aber nein, hinter Köln ging das Elend von neuem los, mein kosmischer Plan sah vor, dass ich anhörte, wie ein Vater seiner kleinen Tochter erklärte: „Jetzt hat er gepfeift, und wir fahren los.“ Ich habe Egner ins Teppichhaus eingeladen und ihm gesagt, er solle mal auf den Button „Spasss im Teppichhaus“ klicken. Und als ich zu Hause mal probeweise drauf klickte, tat’s der Link nicht, und ein Text behauptete, dass es unter diesem Tag keine Einträge gäbe, was mich dann ziemlich geärgert hat, weshalb ich hier geschrieben habe, wie mir das vorkam. Wie unprofessionell mir das wirklich vorkam, habe ich allerdings nicht geschrieben. Die Sache mit dem nicht funktionierenden Link ließ mich jedenfalls an Herbert Nebenmann denken und an die Türen, hinter denen sich die Räume erst auftun, wenn man hinbestellt ist.

Iss Yummy Yummy

Ah, die ewigen Rätsel, wer den Menschen eigentlich hin- oder herbestellt, wo das kosmische Register geführt wird, in dem verfügt ist, welche Türen sich öffnen, welche nicht, welche Zettel einer lesen, welche Zeichnungen betrachten darf, welche Links funktionieren, wann und warum man eine Sekretärin beim Wasserholen zu sehen kriegt oder Egner, wie er auf einer Bahnzeitschrift sitzt. Und warum muss ein Riesenweib mir befehlen, „Yummy Yummy“ zu essen, wenn ich hungrig durch die Kölner Bahnhofshalle streiche und nicht mal weiß, wie das Zeug überhaupt schmeckt? Das soll mir bei Gelegenheit mal einer erklären.
E N D E
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