Ethnologie des Alltags

An einem Sonntagmorgen im Februar

Allmorgendlich klappe ich den Tagesschau-Feadreader auf und schaue nach, was in der Welt geschehen ist, ob nicht vielleicht ein irrer Diktator meinen Planeten weggesprengt hat, derweil ich schlief. Eigentlich müsste ich keine der Schlagzeilen lesen, denn wenn das Internet noch da ist und auch der Feadreader der Tagesschauredaktion, könnte ich mich beruhigt zurücklehnen. Was da sonst noch in der Welt passiert ist, betrifft mich ja gar nicht. Es ist im ununterscheidbaren Nebeneinander von Schreckenskunde und Banalitäten reines Entertainment.

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Des Talers wert? – Von wegen!

Ich bin durchaus nicht immer einverstanden mit mir, no Sir. Was da beispielsweise in irgendwelchen meiner Hirnwindungen an Gedankenmüll rumliegt, stört mich manchmal gewaltig. Die schönsten Momente sind nur in fadenscheinigen Resten vorhanden, aber völlig überflüssiger Kram hat sich festgesetzt und ist selbst durch Umbenennung oder bessere Einsicht nicht zu entfernen. Heute kam ich mit dem Fahrrad vom Einkauf und hatte einen schweren Rucksack geschultert. Vor der Haustür nestelte ich mein Schlüsselbund aus der Jackentasche. Dabei fiel ein Ein-Cent-Stück aus der Tasche zu Boden und blieb für mich unerreichbar an der Hauswand liegen. Zwischen ihm und mir war das Fahrrad. Die Vernunft gebot, den Cent liegen zu lassen. Doch wider alle Vernunft trudelte der Müll plötzlich durch mein Denken und manifestierte sich als Kalenderspruch:

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Postbeförderung im Schneegriesel

In der Nacht hat sich Schneegriesel auf alles gelegt. Ich lese nach, dass Schneegriesel die nur Millimeter große Form der Graupel ist. Schon vorher ist mir klar, dass Griesel verwandt sein muss mit unserem Farbadjektiv „grau“. Dessen alte Form ist „greis“, was wiederum mit dem rheinischen „gries“ korrespondiert. Ich schaue aus dem Fenster auf die Straße. Die dünne Schicht Schneegriesel auf dem Asphalt sieht schäbig aus, obwohl sie kaum Reifenspuren hat.

Plötzlich kommt von Rechts ein Radfahrer ins Bild. Er rollt rasch auf die Kurve zu, muss also ein geübter Radfahrer sein oder er ist leichtsinnig. Im Kindersitz hinter sich befördert er ein Kind. Nachdem er sicher die Kurve genommen hat, schaue ich auf seinen Rücken und sehe, dass er eine Dienstjacke der deutschen Post trägt. Die ziert ein großes Posthorn. Das Kind hat das Logo genau vor Augen.

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Hübsche Kulturtechnik: Frottieren ohne Handtuch

Wir Alltags-Ethnologen hatten ja früher nichts außer Papier und Bleistift und mussten alles mit der Hand machen. Morgens in aller früh bei jedem Wetter raus auf die Straße, und dann wurde man auch noch scheel angeguckt, wenn man auf den Knien über einem Kanaldeckel lag. So sehen die Sachen dann aus: Flüchtig hingeskribbelt. Diese grafische Technik heißt Frottage. Sie diente einst dokumentarischen Zwecken, hatte jedoch immer einen grafischen Eigenwert.

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Die Läden meiner Kindheit - Ein Erzählprojekt

laeden-alltagskultur
Der Text "Nase voll" von Blogfreund Manfred Voita hat mich angeregt, an die Läden meiner Kindheit zu denken. Sie sind Teil einer versunkenen Alltagskultur, wie sie manche von uns noch kennen. Daher möchte ich zu einem Erzählprojekt anregen und fordere alle Schreibwilligen auf, in ihren Erinnerungen zu kramen und sich zu beteiligen. Über Links zu solchen Texten freue ich mich. Ich werde sie in einer Liste im Teestübchen sammeln. Das von mir gestaltete Logo ist gemeinfrei. Bitte bedient euch (für eine größere Variante anklicken). Zum Auftakt des Erzählprojekts beschreibe ich hier die Läden eines Dorfes im Rheinland.

Bimmelimmeling, der Laden ist auf!
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Einiges über unbeschreibliches Glück

„Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage", so enden viele Märchen. Ich habe als Kind nie verstanden, was das heißt. Darum habe ich mir immer wieder gewünscht, dieses anhaltende Glück würde mal in einem Märchen entfaltet wie ein großer Plan, und der Erzähler würde mit dem Finger reintippen und sagen: „Guck, das ist Glück. So sieht es aus, und so fühlt es sich an. Das geschah aber nie, und so dachte ich, anhaltendes Glück muss ziemlich langweilig sein, so dass es nicht zu erzählen lohnt. Ist eh nur Jubeln und Frohlocken und daher für Außenstehende uninteressant.

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Einmal drum herum und wieder nach Hause

Die schönsten Ausflüge beginnen nicht als Ausflug. Ich fahre los, um nahe beim Landtag ein absurdes Wahlplakat der FDP zu fotografieren, über das ich schreiben will. Es war aber schon abgebaut. Man soll sowieso nicht auf jemanden eintreten, der schon am Boden liegt, tröstete ich mich und lenke mein Rad hinunter zum Weg, der stromaufwärts an der Leine entlang führt. Das Wort „stromaufwärts“ täuscht, denn die Leine strömt hier nicht. Weiter südlich wird ein Großteil ihres Wassers über den Schnellen Graben in den Bach Ihme abgeleitet, wodurch die Ihme schlagartig zum Fluss wird. Was der Leine noch an Wasser bleibt, lässt sie zahm und träge erscheinen. Heute scheint sie sich kaum bewegen zu wollen, als hätte die Hitze des frühen Nachmittags sie gelähmt.

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Des lieben Gottes blinder Fleck – über Alltagsmythen

Von Freitag auf Samstag besuchten mich meine Tochter mit Mann und meinen beiden Enkelkindern. Derweil meine 5-jährige Enkelin eine Banane aß und dazu Wasser trank, fragte ich, ob es nicht gefährlich fürs Kind wäre, zur Banane Wasser zu trinken. Weder meine Tochter noch ihr Mann teilten die Bedenken. Ich sagte, mich als Kind hätten die Erwachsenen immer davor gewarnt, Wasser auf Obst zu trinken, weil man davon Bauchschmerzen bekäme. Wir kamen überein, dass es sich um einen Alltagsmythos handeln muss. Meine Tochter erinnerte an das Ballspiel „Kirschen gegessen.“

Kinder stehen im Kreis und werfen sich einen Ball zu. Wer den Ball nicht fängt oder fallen lässt, verliert eine Lebensstufe und scheidet am Ende aus. Die Stufen heißen „Kirschen gegessen – Wasser getrunken – Bauchweh gekriegt – Fieber bekommen – ins Krankenhaus gekommen – scheintot – tot.“

Was hat es auf sich mit dem Mythos, der sich sogar zum Kinderspiel umgeformt hat und so nachhaltig ins kollektive Gedächtnis eindringen konnte?

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Sonntagstour – Unterwegs in sozialen Brachen

An manchen Tagen, am liebsten sonntags, fahre ich mit dem Rad durch Gegenden inmitten der Stadt, die nur lose mit der Zivilisation verbunden sind. Da fahre ich beispielsweise durch eine Straße beim Lindener Hafen, die mal und mal abknickt, und nach jedem Knick ist man weiter eingedrungen in eine durch Verlassenheit und Videoüberwachung gezeichnete Welt, wo zwischen leeren Bürogebäuden, Lagerhallen, Schuppen und Drahtzaun bewehrten Brachgeländen, entlang von Reklametafeln, für die es kaum Betrachter gibt, am Straßenrand die Sattelzüge parken, manchmal nur die Zugmaschinen, deren Fenster mit reflektierenden Folien verhängt sind, um Sonne und Welt fernzuhalten von der Schlafkabine hinter den Sitzen.

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Kleine Geschichten (7) – Hans, wollen Sie noch Wurst?

Wie ich mein Abendessen aus dem Kühlschrank nehmen will, die Packung Ofenkäse aber nicht sogleich zu fassen ist, sondern weiter nach hinten rutscht, stelle ich mir vor, ich müsste, um etwas essen zu können, ein Kaninchen bei den Ohren nehmen und aus dem Stall zerren. So machte es mein Onkel Eduard. Zu Ostern stattete er eines mit einer Schleife um den Hals zum Osterhasen aus und ließ es für uns Kinder durch den Garten hoppeln, am Sonntag darauf hing es ausgenommen und gehäutet in der Scheune. Auch habe ich, im Bus nach Neuss sitzend, mal gesehen, wie ein Mann in seinem Garten ein großes Kaninchen bei den Ohren hielt und ihm einen Knüppel über den Schädel zog. Im Vorbeifahren sah ich noch, wie der Rammler im Todeskampf zuckte. Dieses Bild ging mir lange durch den Kopf. Ein Schwein erregt nicht soviel Mitleid. Mit einer Schleife um den Hals und Hasenohren würde es sowieso zu blöd aussehen, jedenfalls würde kein Kind glauben, dass dieses Vieh die Ostereier legt. Und kämen sie unterm Ringelschwanz hervor, wärs doch nur eklig.

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