Gastautoren

Wahl in Griechenland

von Gregor Kritidis

Kaum war die Nachricht eingetroffen, daß in Griechenland für den 25. Januar 2015 Neuwahlen ausgeschrieben worden sind, reagierte die Bundesregierung: Via Spiegel ließ sie inoffiziell verkünden, dass im Falle eines Wahlsieges der Koalition der Radikalen Linken SYRIZA, ein Grexit – das Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone – auf der Tagesordnung stünde. Diese Meldung wurde umgehend von Wirtschaftsminister Gabriel dementiert und gleichzeitig bestätigt: Zwar wolle man Griechenland in der Eurozone halten, ein Ausscheiden des Landes sei aber seitens der EU wirtschaftlich zu verkraften. Aus diesem Grund sei man nicht erpressbar und erwarte von der griechischen Seite Vertragstreue.

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Zum internationalen Übersetzertag: Kamiel Kafka

Kürzlich, am 30. September, war der internationale Tag des Übersetzens. Aus diesem Anlass habe ich drei kurze Texte des flämischen Allroundkünstlers Luc Charles Zeebroek, besser bekannt als Kamagurka ins Deutsche übersetzt. Kamagurka ist ein Meister des absurden Humors. Man kennt ihn im deutschen Sprachraum fast nur durch seine schrägen Cartoons für Titanic, SZ und andere, nicht aber seine nicht minder skurrilen Texte. Hier also exklusiv im Teppichhaus ein Vorgeschmack, in der Hoffnung, dass sich bald ein Verlag für eine deutsche Ausgabe findet.

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Killerketchup - Warum die Menschheit sterben musste

Ein burleskes Literaturprojekt


1
Verschiedene Hobbyastronomen entdeckten eine Tomate, die den Globus im Orbit umkreist. Nachdem sie wichtige Kommunikationssatelliten gestreift hatte, beschuldigten die USA den Bösewicht Putin, die Tomate hoch geschickt zu haben. Putin schwieg zunächst, ließ aber im russischen Staatsfernsehen ein Video verbreiten, auf dem er mit nacktem Oberkörper eine Tomate in der Hand zerquetscht und erklärt, er hasse schwule Tomaten und wünsche sie alle zum Mond. Die verwirrende Nachrichtenlage ausnutzend meldete Nordkorea, der großartige Führer Kim Jong-un habe die Tomate persönlich hoch geschleudert, ihr mit der wunderbaren Kraft seines gottgleichen Armes die Geschwindigkeit von 11,8 KM/sec verliehen, die bekanntlich notwendig ist, die Anziehungskraft der Erde zu überwinden, und damit das glorreiche Raumfahrtprogramm Nordkoreas begründet. US-Präsident Obama brüstete sich bei einer Pressekonferenz im Weißen Haus damit, die NASA könne Ketchup aus der Tomate machen, wenn er den Befehl dazu gebe, was wiederum den Verdacht nährte, die USA hätten heimlich im Weltall ein todbringendes Waffensystem installiert. Die deutsche Bundeskanzlerin Merkel erklärte, Deutschland sei bereit, Verantwortung zu übernehmen, und die Tomate, wenn sie denn mal runterkäme, in einem Salzstock zu versenken. Sie wolle ihren amerikanischen Freunden aber nicht vorgreifen. Ketchup wäre ja auch ganz lecker.

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Eva im Teppichhaus als reiche Schlampe

Ich hab da so nen Tick. Also einen von vielen Ticks. Ich sammle lustige und/oder skurrile Postkarten. Das heißt, ich “sammle” gar nicht so bewusst; ich kann nur in keiner Fußgängerzone und in keiner Buchhandlung an diesen verlockenden Kartenrollständern vorbeigehen, ohne die schönsten zu kaufen. Nicht, dass ich nun eine leidenschaftliche Brief- oder Kartenschreiberin wäre; die modernen Internetzeiten haben mir das Handschriftliche weitgehend abgewöhnt.

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Die Zeit der helfenden Hand, die sich zur Faust ballt – Das Manifest der radikal-ästhetischen Utopie

Publiziert am 9. November 2011 von Duroy

Was bedeutet radikale Aufklärung?


Die radikale Aufklärung ist eine robuste Aufklärung, die sich nicht mehr so einfach übers Maul fahren und sich nicht einkaufen lässt. Eine Aufklärung, die sich nicht bestechen und vor allem nicht blenden lässt. Eine Aufklärung, die die politisch und zunehmend ökonomischen Zwangsverhältnisse, in die man uns bettet und zwingen will, nicht mehr hinnimmt. Eine Aufklärung, die radikale Worte wählt, um die alten Strukturen der Unterdrückung und Bevormundung abzuschaffen.

Wir sind Mündel der oligarchischen Politikerkaste gewesen, die uns nicht mehr vertritt. Wir sind Gemaßregelte eines politisch-ökonomischen Willens gewesen, der nicht der unsere gewesen ist. Wer aber sind ”wir” jetzt?
Wir sind viele. Nicht die 99 %, aber wir sind viele. Wir sind zugleich die geballte Faust gegen das System, wir sind die Mutbürger, wir sind, das doch wohl einmal vor allen Dingen, das Volk!

Wir lassen uns das Staatsspieltheater nicht mehr im Zuschauerraum aufführen mit dauerimprovisierenden Laien der Zunft, die sich über uns kaputtlachen, derweil wir billig Applaus geben dürfen, Claquere des Politsystems. Nein, wir wollen auf die große Politspiel-Bühne, dort agieren und da bleiben.

Wir fordern nicht mehr lange politische Beteiligung ein, sondern werden sie uns holen. Unser radikaler Weg schadet nicht unserer Sache, wie so oft zag gesprochen wird, (der radikale Weg schadet nicht unserer Sache, er schadet dem System), wir gehen diesen Weg mit einem Selbstverständnis, das den Mächtigen Angst machen wird. Der Machtkomplex wird erstaunen darüber, wie stark wir geworden sind. Parteien sprechen uns nicht mehr an. Unser Druck wirkt von außen auf das Parlament. Unser Druck ist radikal politisch und ästethisch zugleich. Eine Bewegung der Wahrheit gegen das verlogene System, eine Bewegung der lange gestauten Frustration gegen ihre schmutzige Quelle.

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Gewinn durch Verlust - empfiehlt Gastautor Duroy

"Nimm dir ein bisschen Zeit und gib Sie dir", ist das Motto der Teppichhaus-Bibliothek, für die ich mir schon lange keine Zeit mehr genommen habe, fast vergessen sogar. Was bedeutet es, sich Zeit zu nehmen. Woher nimmt man sie, aus der Zeitspardose? Zeit nimmt man, indem man sie verliert, um sie für sich zu verschwenden. Von diesem Gewinn durch Verlust schreibt Gastautor Paul Duroy so mitreißend, so eindringlich empfiehlt er uns den Verlust und stellt uns dafür einen schier unendlichen Gewinn in Aussicht. Verschwenden wir also Zeit auf dieses Manifest.

Der Verlustmensch und sein unendlicher Zugewinn oder:
Ein naives Manifest (die schwere Erlangung II)

von PAUL DUROY

"Eine lange Zeit fuhr ich so fort, an meinem Tisch sitzend. Auch wenn ich nichts tat als warten, war es das Gleichmaß, mit der an der Balkonkante zerstäubenden Schneeflocke. Mir schien, ich würde so für immer meine Ungeduld los und hätte die mir gemäße Geschwindigkeit gefunden.
Und weil es so einmalig war, kann ich es sagen: ich war da Wort für Wort in der Zeit, so als sei diese mein Ort. Öfter kam mir auch der Gedanke dazwischen, so etwas habe noch niemand erlebt; mit mir fange etwas Neues an. An der Stelle des vergessenen Körpers spürte ich jetzt eine Sinnlichkeit, mir lieb, in dem sie da war, ohne irgendwo hinzuwollen."

(Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht)

Wir müssen lernen, unsere Zeit zu verschwenden für den richtigen Zweck. Unsere Zeit gerade dadurch verwenden, dass wir sie verschwenden. ''Zeitverschwendung'', das war immer schon eine gängelnde Ideologie und Propaganda-Parole der totalitären Arbeitsgesellschaft, die Muße nicht duldet und Faulheit sanktioniert. Auch wenn man irgendwann gar nicht mehr weiß und überhaupt nicht mehr begründet, warum man die Menschen immer mehr arbeiten lässt statt weniger, bläut man den jungen karrierewilligen Menschen immer mehr ein: ''nutzt eure Zeit für die Karriere, verschwendet keine Zeit.'' Das ist natürlich großer Unsinn.

Am feinsten bildet sich der Mensch, der den Mut findet, sich selbst für eine ganz geraume Weile aus dem Weg zu gehen, den eigenen Willen abzuwerfen und auch der fremden Einvernahme zu entgehen. Man muss es aushalten, mindestens ein Jahr, wenn nicht länger, souveränes Treibholz zu sein in den Wirren des Überlassenseins und nicht zu planen, allein: sich selbst als vage entwerfen, sich dahinwerfen den Umständen, sich dabei aber rausnehmen aus dem System der produktiven Vereinnahmung. Man sollte etwas schöpfen, von dem man immer glaubte, das man es schöpfen wollte, einer Idee lauschen, die in die Welt will, um sie schöner zu machen, die in die Welt will, weil sie dort blühen will und nicht, weil sie dort zum Wachstum beitragen will und zum Produktivitätsprozess. Sie will beglücken, aber nicht berauschen oder Lust schaffen.

Diese leise Idee in uns, die aus uns geboren werden möchte, hat nicht den lauten zielgerechten Schrei des Willens und Wollen, sie ist zag und verwundbar, sie zerstäubt wie ein Blütenpollenköpfchen, wenn der rauhe Wind weht, aber sie ist vor allen Dingen schön. Sie hat keine gezielte Richtung, wie der Pusteblumenfallschirm und auch wenn sie nichts verändert, ist sie wichtiger als jeder formierende Schritt. Ihr Wollen ist der Drang des Schönen, ans Licht zu geraten, aber sie will sich nicht breit machen dort.

Dazu brauchen wir Zeit im Überfluss, müssen uns womöglich Tage, Wochen und Monate zurückziehen aus dem Gewirr unserer Beanspruchung durch die Arbeitswelt, müssen uns bereinigen, müssen der Berauschung und zugleich der Stumpfheit entgehen, Nächte durchwachen, um die Sinne wieder in der Kunst der ertragenen Angst zu schärfen. Schauen lernen. Beobachten lernen. Den ganzen Tag (wir wählen den Montag, denn Sonntag kann jeder) auf einer Waldblumenwiese verbringen ohne Buch und Sonnenöl und allein dem Wachsen und Krabbeln zuschauen um einen.

Und loslassen. Einen Gegenstand mitnehmen, den wir unheimlich lieb gewonnen haben und ihn im Wald liegenlassen auf einem Baumstumpf oder einem Feldweg. Und nie mehr wiederkehren und ihn nie mehr heimholen. Auch dieser Verlust schärft unsere Sinne, unseren Sinn fürs Verlieren, denn es ist ein bewusster Verlust, wo wir doch sonst all die Jahre immer nur hinzugewonnen haben. Unsere größten Verluste sind dabei ganz still vor sich und von uns gegangen und wir haben es nicht einmal bemerkt, so hat uns der Konsum überspült. Loslassen, das ist bewusstes Verlieren.

Dann werden wir wacher mit den Tagen und bemerken, dass wir nie wirklich nur Zeit, sondern immer auch unseren Verstand und unsere wache Aufmerksamkeit auf die Dinge verschwendet haben. Das Entertainment hat uns abgestumpft und die Dosierung an Schrillheit und Nacktheit und Lautstärke und Effekt musste erhöht werden, damit wir unsere Belustigung auch noch ein bisschen spüren. Wir sind immer tauber geworden über die Zeit und während die Tiere in den Schlachthöfen schreien, bezeichnen wir uns als Ende der Nahrungskette und lassen uns weiterhin vergiften vom System.

Nicht wahr, wir haben noch den Zynismus. Den haben wir übernommen vom System und gelernt, zu allem, was so richtig danebenläuft und unseren Interessen zuwider, schon den moderat-beschwichtigenden Subkommentar zu führen, der es uns leichter macht, auch weiterhin nichts zu verändern. Hauptsache, wir können über uns selber lachen und weiterhin alles nicht so ernstnehmen.

Aber alles verliert jetzt seine Selbstverständlichkeit, das Wetter und das Tiere-Essen, die Weltmacht Westen und das ewige Wachstum, die kontrollierte Sprache und die Arbeitsgesellschaft. Neue Zeiten drängen sich auf und wir müssen lernen, mehr Zeit zu verlieren, umso viel mehr Leben zu gewinnen.

Widerstand geht auch leise, so wie z.B. eine Pflanze den Asphalt aufsprengt und marode macht, ein kleiner Keim in seinem stillen Drang und seinem zarten Gewebe eine massive Steindecke durchschlägt, um zu blühen und sei es nur für einen Tag, das nötigt mir unendlich mehr Respekt ab, als die jahrzehntelange und nachweislich effiziente Karriere eines Bill Gates oder Steve Jobs. Diese Wirtschaftsriesen sind so unheimlich effizient und dennoch liegt mir soviel mehr am Verwehen des Pusteblumenköpfchens, soviel mehr Sinn und Kraft in diesem geballten Lebenskreislauf von wenigen Tagen.

Schönheit sammeln und Augenblicke. Zeit verwenden für sich selbst, nicht für seinen Chef oder den Betrieb. Man verschwendet keine Zeit, denn die Zeit vergeht ohnehin. Wenn, dann verschwendet man Zeit beim Arbeiten. Zeit also bewusster verlieren, um Schönheit zu entdecken. Das Entdecken von Schönheit bildet in der Glücksfähigkeit, das Konsumieren von Unterhaltung lässt Glücksfähigkeit verkümmern und betäubt allein wie jeder Rausch, der uns nach seinem Vergehen ins Leere stellt.

Wenn wir aber verzichten auf die billige und hinfällige Unterhaltung, auf die Konsum-Artillerie, müssen wir auch nicht mehr viel Geld verdienen. Glück nennen wir dann, was wir spüren und uns gut fühlen lässt und für das wir nie auch nur einen Cent bezahlten. Glück ist das schöne und fast undefinierbare Gefühl, das uns mit uns selbst im Reinen fühlen lässt, und nicht gekauft werden konnte mit Geld, sondern schwer erlangt wurde durch Verzicht auf Effizienz und Rausch und Konsumbefähigung. Kaufen kann jeder (so er Geld hat), erlangen ist ein unendlich schwererer Weg.

Die Belohnung, die nur vermutet werden kann, ist neben dem Glückszu''gewinn'' der neue Blick auf ''mich selbst'' als bewusstes Individuum. Wenn ich mich aus dem Ertüchtigungs-Zusammenhang reiße, gerate ich in eine schwere Krise. Aber diese Krise wird mobilisieren, was ich nicht in mir glaubte. Eine Stärke in uns, der wir dann nicht mehr hinterherjagen und sie doch nie erlangen, sondern die auf uns zugeht. Eine Stärke, die nicht finanzielles Glück verheißt, sondern unserer Festigkeit und unserem geschärftem Bewusstsein entspringt.

Stellen wir uns also bereit, ganz viel zu verlieren an Besitzständen und Selbstverständlichkeiten, Zwängen und Habseligkeiten, um ganz viel Raum zu schaffen für das, was in uns heranwachsen kann, wenn wir es nur ließen. Einen neuen Raum zu schaffen, den wir sonst immer nur überfüllen und verstellen durch Anhäufung und Vermüllung. Schaffen wir diesen Raum aus uns selbst, haben wir den Mut zum Schönen und machen wir uns auf den Weg zu uns selbst, in unsere unbekannten Räume, entdecken wir den so stillen An-Spruch in uns, was da aus uns in die Welt gesetzt werden will, damit wir es endlich EINMAL sehen. Vielleicht werden wir Künstler statt Produzenten und Konsumenten und in jedem von uns wohnt ein Bild, ein Gebirge aus Gedichten, ein Lied mit einer unendlichen Melodie, eine unberechenbar mutige Idee ohne jedes Kalkül, ohne Nutzen, aber mit einer Wurzel, die ins Glück ragt.

Das würde Kunst heißen ... soviel ärmer können wir nicht werden als wir es jetzt bereits sind, da uns fast alles Greif- und Kaufbare zur Verfügung steht. Uns selbst aber sind wir am Fernsten ...

Der Weg, uns selbst neu zu gewinnen, kann nur sein, eine schöne Idee zu haben und diese schöne Idee zu leben. Keine Vorstellung und keinen Plan, sondern allein der schönen Idee zu folgen. Ohne das notorische ''Aber'', diesen Reflex-Hammer des Pragmatischen, der allen Mut zum Alternativ-Entwurf in uns immer so effizient niederschlägt. Kein ''aber ich muss doch eigentlich...''. Das System hält uns von uns selber fern, gibt uns vor, was wir wollen sollen und wenn wir nicht wollen, kauft es uns ein, indem es uns kaufen lässt.

Begeben wir uns endlich auf den steinig-schönen Weg zu uns selbst ... erlangen wir uns schwer.


Paul Duroys Blog: Raumgewinner

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Gastautor Careca trinkt für zehn Euro Bier


Im Dienste der Ethnologie habe ich schon manches gewagt, sogar eine Bratwurst mit dicker, knubbeliger Soße gegessen, die mir auf einem rheinischen Gutshof angeboten wurde. Mein Magen wunderte sich tagelang, denn er ist seit Jahrzehnten nur vegetarische Kost gewöhnt. Aber es gibt auch Sitten und Gebräuche, die zu studieren ich meinem zarten Gemüt nicht antun möchte, zum Beispiel das Münchener Oktoberfest zu besuchen. Blogfreund Careca hat das gemacht. Er ist ziemlich abgehärtet, denn er lebt seit einiger Zeit unter Bayern. Was er nebenher über Bier erzählt, ist vielleicht hart an der Wirklichkeit, könnte aber auch ein bisschen erdichtet sein. Das macht jedoch nichts, denn die Ethnologie ist eine erzählende Wissenschaft. Viel Vergnügen beim Lesen!


Über Sicherheitskonzepte, Keferloher und Bierrezepte
von CARECA


»Erst wenn das letzte Holzfass von der Schänke weggerollt, der letzte Bierkrug zur Neige geht, der letzte Schluck geschluckt ist, werdet ihr merken, dass das Oktoberfest längst gelaufen ist.«

Aschfahl saßen sie mir gegenüber. Fleischgewordene Klischee-Bayern. Mit weiß-gelblichem Rauschebart, tiefen Fältchen um die Augenwinkeln, buschig schwarze Augenbrauen im Stile eines Theo Waigels, bayrischem Hut, darauf buschiger Gamsbart und grüne Joppe, eine dieser Jacken aus dickem Wollstoff. Ja, ich musste eine der seltenen Spezies der Bayern vor mir haben. Sie waren in Gesprächen vertieft, die ich nicht verstand. Ihr bayrischer Dialekt war mir zu unverständlich. Der Biergarten war überfüllt, und in den Gängen um die Biertische kreisten die Suchenden nach freien Plätzen. Denn ohne Sitzplatz gibt es auch kein Bier.

Aufgrund des 200-Jahr-Jubiläums des Oktoberfestes gibt es zusätzlich zu der normalen »Wiesn« dieses Jahr erstmals ein »Historische Wiesn«. In einem abgetrennten Bereich der Theresienwiese wurde versucht, den Besuchern für 4 Euro Eintritt die alte, bayrische Tradition des Kirmes-Feierns nahe zu bringen. Seien es nun alte Lanz Bulldogs aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts oder alte Kirmesorgeln oder ein Streichelzoo mit bayrischen Viechern, deren »Muh«, »Bäääh« oder »Iah« sich auch nicht bayrischer oder antiquierter anhörten als das derer tierischer Kollegen aus Hamburg. Ebenso neuzeitlich schmeckten dann auch die Pferdewürstchen, die gebratenen Flugadler und die gesalzenen Brotstangen.

Freilich gab es mehr als nur Brot, es gab auch Spiele. Und hier sind die Bayern so erfinderisch wie die Briten beim »Royal Military Tattoo«. Bei jenem Militärspektakel auf der britischen Insel in Edinburgh marschieren schmuck rausgeputzte Militärköpp zu Blasmusik in Formation permanent im Kreise. Und was die Organisatoren in Edinburgh können, das können Bayern allemal. Niemand solle behaupten, aus der Städtepartnerschaft zwischen München und Edingburgh seien keine Früchte erwachsen. In einer Arena mit Tribüne formierten sich bayrische Trachtenvereine mit dem für Bayern üblichen Wichs und Waffenarsenal. Wie in Edinburgh marschierten die bayrischen Trachtenverein-Angehörige in eintönigen Formationen zur einheimischen Blasmusik und zogen im Sande der Arena unter den Augen der Zuschauer ihre Kreise. Entweder hielten die sich dabei an den Händchen oder sie nutzen stattdessen Tannengrün-Kranzbögen, welche normalerweise in der Adventszeit in den Kirchen hängen. Und zu guter Letzt durften die Männer in ihren Trachten auch noch mit ihren Waffen gemeinsam in die Luft ballern.

Das Letztere verwunderte mich dann doch schon ein wenig. Offenbar hat das Anti-Terror-Konzept der Polizei nicht gegriffen. Statt des befürchteten Talibans hatten es bayrische Trachtler geschafft, ihre Waffen an den Kontrollposten der Polizei vorbei zu schmuggeln. Während der Otto-Normal-Michel für jede gesonderte Tasche eine Rechtfertigung inklusive Durchsucherlaubnis den Polizeibeamten geben muss, während jeder Kinderwagen auf dem Oktoberfest kritisch auf den Inhalt überprüft wurde, so hatten es die bayrischen Trachtenjungs wohl verdammt einfach. Ursache wird hierbei wohl die Trachtenfarbe gewesen sein. Denn die ist genauso grün wie die der Polizei. Denn allein der Grund, dass Sport- und Trachtenschützen verantwortungsvoller mit ihren Waffen umgehen würden, kann nach dem letzten Amoklauf einer Rechtsanwältin nicht mehr als Rechtfertigung dienen.

Schon vor 1980 meinte die bayrische Polizei, dass selbst Neonazis mit Waffen auf Straßen üben dürften (s.a. die damalige bayrische »Wehrsportgruppe Hoffmann«), denn die würden ihre Waffen verantwortungsvoll verwenden. Als dann die »Wehrsportgruppe Hoffmann« verfassungsrechtlich verboten wurde und als dann später am 26. September 1980 die Toten vom Oktoberfest wegtransportiert werden mussten, wurde das Attentat als Einzeltat eines Einzelmitglieds der »Wehrsportgruppe Hoffmann« abgetan, also von jemanden, der wohl offensichtlich nicht so verantwortungsvoll mit seinem Sprengstoffarsenal umgegangen sein musste. Einzelfall. Und unpolitisch. Fall abgeschlossen.

Nun, die Polizei hat Betonpoller an den Eingängen der Theresienwiese aufgestellt. Sollte – so wurde im Vorfeld des Oktoberfestes erklärt – sich ein Terrorist mit einem Fahrzeug in die Luft sprengen, so würden diese 2-Meter hohen Poller die Folgen der Explosion mindern. Warum die Poller allerdings bevorzugt auf den Fußgängerwegen stehen, der Straße aber eine zweieinhalb Meter breite Durchfahrt lassen, … klar, wegen der Rettungswagen … . Es brauchte mir nicht erklärt zu werden, ich hatte es schon verstanden: Terroristen fahren nun mal meistens unter Verstoß der StVO über Fußgängerwege in die Menschenmenge. Das ist so deren Natur.

Die Sicherheitsmaßnahmen auf dem diesjährigen Oktoberfest haben etwas Eugenspiegelartiges. So wie an den Flughäfen dieser Welt: Befindet sich eine kleine Nagelhautschere und Nagelfeile im Handgepäck, dann werden diese an den Überwachungsschleusen unter bösen, dunklen Blicken von dem Sicherheitspersonal einkassiert. Und hatte er eine Flasche Wasser dabei? Pech gehabt, die wird ihm abgenommen. Aber in den Fliegern im Bereich der Business-Class oder der First-Class erhält der Passagier als Ersatz Besteck aus gutem rostfreien Solinger Stahl. Und im Handgepäck hat der Passagier eine 45%ige Sambuca-Flasche aus dem Duty-Free-Shop. Das darf er. Denn dafür hat er bezahlt. Auch für die Terrorabwehr. Im Dienste der Terrorabwehr.

Doch zurück zu dem Biergarten auf der »Historischen Wiesn«, dort wo ich auf eine Kellnerin mit einem vollen Maßkrug mit dem Wiesn-Spezialbier wartete. Jenes wurde speziell für das Gebiet der »Historische Wiesn« nach einem 200 Jahre alten Rezept gebraut und nur dort ausgeschenkt. In Steinkrügen. Oder wie der bayrische Experte zu sagen pflegt: »Keferloher«.

»Keferloher« heißen die Steinkrüge nicht etwa, weil die Bayern dumme Preußenjungs wie mich verwirren wollen. Nein, die Steinkrüge haben ihren Namen als Ergebnis eines Krieges in Bayern gegen die Ungarn erhalten. Auf dem Lechfeld bei Augsburg führten acht Heerhaufen im Jahre 955 eine entscheidende Schlacht gegen die Ungarn.
Kleine Anekdote am Rande der Schlacht: der tapfere Graf Heinrich von Bayern (ein Vorläufer des in Bayern so beliebten Selbstmörders »Kini«) hatte sich von seinem Leibarzt für die Schlacht kampfunfähig schreiben lassen und ließ seine drei bayrischen Heerhaufen allein in die Schlacht ziehen.
Die Schlacht wurde für den Ostfränkische König und König Italiens »Otto I., der Große« ein großer Erfolg und für die Ungarn ein blutiges Fanal. Nur hatte »Otto I, der Große« kein Geld um seine Soldaten zu bezahlen, so dass er den Soldaten die Pferde der Ungarn als Beute überließ. Die Soldaten sind darauf gen Keferlohe gezogen und haben die Pferde auf dem dortigen Keferloher Markt verkauft. Die Keferloher Wirte hatten schnell geschaltet und über Nacht Steinkrüge brennen lassen, um ihr Bier darin zu verkaufen. Der Vorteil war klar: die Krüge waren schnell herstellbar und die Soldaten konnten vor lauter Schaum nicht feststellen, wie viel Bier sich wirklich in den Krügen befand. Die »Keferloher«-Steinkrüge stellen also die auch in unserer heutigen Zeit bekannte wirksame Maßnahme dar, das aus eigenen Verkäufen erzielte Geld effizient in die andere Tasche umzuleiten.

Ich wartete also noch immer auf einen mit Schaum und Bier gefüllten »Keferloher«, der Inhalt gemäß einem Rezept aus dem Jahre 1810. Und dann nach zehn Minuten tauchte auch eine Kellnerin auf, und ich war um zehn Euro erleichtert. Nein, das Bier kostete nur 8,80 Euro, keine zehn Euro. Aber die Kellnerin meinte, ich sei großzügig und der Rest der 10 Euro sei ihr Trinkgeld. Bevor ich Protest erheben konnte, war sie weg und ich verzichtete, hinterher zu sprinten. Hatte ich doch schon recht lange auf meinem freien Platz warten müssen, und so etwas gibt niemand wegen ein Euro zwanzig auf.

Zudem handelte es sich ja nicht um irgendein Bier. Denn gebraut wurde das Bier als obergäriges Bier, genau wie die anderen Münchner Biersorten auch. Und so setzte ich an zu einem Schluck in die Vergangenheit, zum Schlucken dieses 200 Jahre alten biergewordenen Rezepts. Kaum hatte ich den ersten Schluck genommen, verspürte ich den Drang, mir noch eine Flasche Malzbier dazu zu bestellen. Alter Jugendinstinkt. Denn Alt-Bier aus Düsseldorf hatte ich auch schon immer schon nur als "Alt-Bier mit Schuss" getrunken. An nichts anderes erinnerte mich jenes Bier der »Historischen Wiesn«. Ein Blick unter den zentimeterhohen Schaum bestätigte meinen Eindruck: Dunkel gemalztes Bier tummelte sich in dem »Keferloher«. Na denn, prost.

Für mich steht fest: Die Bayern haben ihr Bierbrauen von den obergärigen Verhältnissen des Rheinlands gelernt. Damals, als der Haßprediger Peter von Amiens, volkstümlich »Kukupeter« genannt, um 1100 herum beim Kinderkreuzzug auf dem Weg von Köln nach Jerusalem nördlich an einer ausgedehnten Kies- und Schottergrube vorbei kam, muss er dem dortigen bajuwarischen Bischof von Freising bei Oberföhring das Rezept für Alt-Bier aus Düsseldorf da gelassen haben. Wahrscheinlich als Wegezoll, um über die damalige Brücke mit seinen Kindern die Isar zu überqueren. Ergebnis dieser Rezept-Schenkung war denn wohl auch, dass die Siedlung in jener Isar-Kiesgrube zum ersten Mal 1158 urkundlich als Siedlung »München« erwähnt wurde.

Die Bayern haben dann aufgehört Wein anzubauen und sind fleißig zum Bierbrauen übergegangen. Als dann aber die ersten bayrischen Pilger im 19. Jahrhundert von der Dreikönigenschrein-Pilgerei aus Köln zurückkehrten und davon berichteten, wie die Kölner denn nun wirklich echtes obergäriges Bier herstellen würden, da haben die Bayern angefangen, deren Rezepte zu modifizieren. Ergebnis waren die jetzigen uns bekannten Münchner Biere. Die ersten lebenden, menschlichen Versuchskarnickel für das neu kreierte Bier sollten dann in einem geheimen Feldversuch eben jenem neu modifizierten Rezept ausgesetzt werden. Das muss wohl so vor 100 bis 120 Jahren gewesen sein, und seit dem ist das Oktoberfest zu dem Bierfest geworden, wie es jetzt bekannt ist.

Und noch etwas haben die Bayern den Kölner von deren kölscher Feierkultur abgekupfert. Aber das hatte ich ja bereits geschrieben: Der Grund sich zu verkleiden, um auch mal wieder Sex zu haben. Das wird dann wohl auch die bayrische Triebfeder für den Drang zur bayrischen Trachtenfolklore mit Hut, Gamsbart und Joppe sein. Die urtypische, bayrische Tracht der Männer.

Und spezielle Erwähnung findet dann auch noch diejenige Tracht, die daraus für Preußen abgeleitet wird, sollten die in bayrischen Revieren rumwildern: die Tracht Prügel.

Prost und bis zum nächsten Oktoberfest.

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Neues vom Schwamm - mit Gastautor Rudolf Löhrer

Ein schwammiger Kerl, schwammiges Gesicht, schwammige Aussagen, - solche Aussagen haben neuerdings eine ganz andere Qualität. Heute meldet GMX, Wissenschaftler hätten herausgefunden, dass bei Schwamm und Mensch ganze 70 Prozent der Erbmasse identisch sind.

Um das herauszufinden sind die Wissenschaftler fünf Jahre ins Great Barrier Reef abgetaucht, und jetzt ist auch nicht auszuschließen, dass an Stelle eines Wissenschaftlers schon mal der eine andere Schwamm wieder aufgetaucht ist und an Bord des Forschungsschiffes ging. Sie sehen sich ja so verteufelt ähnlich. Nur dass der Schwamm keine Taucherbrille braucht, das ist so ziemlich der einzige Unterschied. Derweil poussiert der Wissenschaftler da unten mit einer Schwämmin, muss dann aber feststellen, dass Schwämme Zwitter sind und zur Fortpflanzung keinen Geschlechtspartner benötigen. Hoffentlich war das Schiff noch da, als er einen definitiven Korb gekriegt hat.

Bevor aber jetzt der Schwamm Stimmrecht in der UNO bekommt, wäre es doch gut zu wissen, ob uns da nicht andere Wesen ein bisschen näher verwandt sind. Was ist beispielsweise mit dem Opossum oder dem Nacktmull? Egal jetzt. Fast visionär vorausgesehen hat die enge Verwandtschaft zwischen Mensch und Schwamm mein Freund Rudolf. Es ist nämlich so, wozu der Wissenschaftler jahrelang ins Great Barrier Reef abtaucht, das weiß der Künstler längst. Tretet dAdA rein!

Ein Schwamm 01
Rudi 22.09.07


gelesen von Trithemius, der versucht zu lesen,
wie es der Künstler selber las. Weitere Gastautoren

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Schönes Scheitern - empfohlen von Gastautor Duroy

Als ich wartend vor einem Friseurladen saß, da fuhr vor meinen Füßen ein Radfahrer vorbei, ein Mann Mitte 30 ohne besondere Merkmale. In der Rechten hielt er am Lenker einen rosafarbenen Luftballon, der kunstvoll zu einer rosafarbenen Giraffe zusammengeschlungen war. Und just auf meiner Höhe sagte der Mann zu ihr: " Bist du damit mal wieder nicht einverstanden?" Die Giraffe an seinem Lenker wippte "Nein" und "Ja", was in der Sprache von rosafrabenen Luftballon-Giraffen eins wie das andere meint. Und ich dachte noch, übt der vielleicht Bauchreden?

Mit dieser Deutung des Geschehens vor dem Friseurladen bin ich natürlich schön gescheitert. Vermutlich hat der junge Mann gar nicht mit seiner rosafarbenen Luftballon-Giraffe diskutiert, war gar kein jung aufstrebender Bauchredner, sondern hat telefoniert mit einem widerspenstigen Geist. Noch schöneres Scheitern empfiehlt Ihnen Teppichhaus-Gastautor Paul Duroy. Nachdem ich seinen Text unter der Stehlampe in seinem Blog gelesen hatte, war ich sehr erleichtert.


Schöner Scheitern

oder: über die nicht geringe Kunst der aesthetischen Resignation
von PAUL DUROY


''Wenn du kurz davor bist: kurz vor dem Fall;
und wenn du denkst: ''fuck it all'',
wenn du dir sicher bist, niemand kann dich mehr verstehen:
Kapitulation, ohoho, Kapitulation, ohoho, Kapitulation ohoho ohoho...''

(Tocotronic, Kapitulation)

Als ich vor ca. drei Jahren meine Arbeit an meinem Essay zur Frage der modernen Aesthetik, ''Bruchstueck'', beendete, kam im Sommer 2007 das wundervolle Tocotronic-Album ''Kapitulation'' heraus. Das Euphorisierende daran war, dass ich fuer mich, noch gaenzlich nichts vom Erscheinen einer SOLCHEN Platte ahnend, einen Ansatz gefunden hatte, zum modernen Leben im Kapitalismus zu stehen, den diese Band dann (davon natuerlich voellig unabhaengig) ebenso bestritt.

Worum geht es in dieser neuen Aesthetik, in dieser Form, das Leben schoen zu leben, sofern das im totalen Konsumzeitalter noch moeglich ist? Schauen wir uns noch einmal das Eingangszitat an: hier klingt eine gewisse Larmoyanz an, die allerdings sofort zerstaeubt, wenn man sich das Lied anhoert: das Ganze wird selbstbewusst in sueßen hymnischen Klaengen vorgetragen, stolz, ein kleines Programm der Unabhaengigkeit. Hier wird ein negativ konnotierter Begriff (Kapitulation) einfach mit positivem Vorzeichen versehen, einvernahmt und sympathisch gemacht. Hier braucht es nicht die Radikalitaet eines: ''Macht kaputt, was euch kaputt macht.'', sondern einfacher: kapituliere. Lauf nicht mit im Hamsterrad, dreh deine eigene Muehle, mach was Schoenes aus deinem Scheitern. Die ganze Platte atmet diesen Geist, kauft, kopiert oder klaut sie euch...es lohnt sich wirklich!

Der Eingangs-Track ist uebrigens ''Mein Ruin'', ein Titel, der Jammer und Suhlen im eigenen Leid anklingen laesst, aber dann doch so so viel anders ist, als man vermutet. Hier geht es darum, den eigenen Ruin zu aesthetisieren und das darf dann gern stolz klingen, wie ein Fanfarensatz in einer Bewerbung:

Mein Ruin ist mein Bereich, denn ich bin nicht einer von euch,
mein Ruin ist, was mir bleibt, wenn alles andere sich zerstaeubt.

Mein Ruin das ist mein ZIEL, die Lieblingsrolle, die ich spiel,
mein Ruin ist mein Triumph, Empfindlichkeit und Unvernunft,
eine Befreiung, eine Pracht, sanfter als die tiefste Nacht,
die ab jetzt fuer immer bleibt und ihre eigenen Lieder schreibt.

Mein Ruin ist mein Bereich, denn ich bin einer unter euch
mein Ruin ist, was mir bleibt, wenn alles andere sich betaeubt.


Und wenn es dann nur Illusion war, zerschellt der Lebens-Kuenstler wenigstens an seinen eigenen Traeumen statt an der Leistungsgesellschaft:

wie eine Welle, die mich traegt und mich dann unter sich begraebt.

Wenden wir nun unseren Blick meinem ''Bruchstueck'' zu. Ich schrieb dieses Konvolut damals vorwiegend auf Reisen in der Bahn, in Mitfahrgelegenheiten und beim Trampen nach Dortmund, Berlin und nach Frankreich, warum auch immer. Es ist aus dem Geist des Unterwegsseins und des Wandels geboren, ein getriebenes Werk, ein fieberhaftes Werk, ein transitives Werk, eine Aesthetik der Resignation. Damals hatte ich Auszeiten genommen von meiner Arbeitsmuehle, in der ich zum Teil 12 Stunden am Tag arbeitete, leer war, ausgebrannt, perspektivlos, gefangen in der Plackerei noch des Nachts. Ich nahm mir immer mehr Auszeiten, Resturlaub, Krankentage und ''Sabbaticals''. Ich war drin im System, aber kam nicht raus und brauchte einen Bruch...zunehmend bekam ich das gefuehl, auf meinen erratischen (und nur selten sinnvollen) Reisen mich selbst zu suchen, jemand, den ich verloren hatte, jemand den es zu finden galt. Das Ding faengt so an:

''Ich koennte es beschreiben als Projekt meiner Erweiterung, eine gelassene Expansion meiner selbst. Dieses Projekt ist der Versuch des ungezielten Ueberschreitens meiner sonst so kleinen Moeglichkeiten. Der Sprung aus sich selbst heraus ins Endlose...''

Etwas weiter der kryptische Satz:
''der Künstler steht zwischen den Tagen wie ein Scharnier.''

Wo andere daran denken, Zeit zu verlieren, wenn sie nicht arbeiten, kam ich zu dem Ergebnis: ''Es wird tausende Augenblicke kosten, den EINEN Augenblick der Fuelle zu beschreiben oder ihn ueberhaupt erst durch die Beschreibung zu fuellen, aber gerade DAS wird die Kunst sein!''

Auch und gerade am Kuenstlerweg kann man wie in der ''freien Wirtschaft'' scheitern, aber man scheitert wahrhaftig und gerade dieses Scheitern ist schoen...und es erfolgt unter Tanz und Triumph, Gesang und Heiterkeit statt Jammern und Wehklagen, dass man es nicht zum Großverdiener gebracht hat. Das ist wahre Resignation, selbstauferlegtes, autonomes Scheitern, ein rauschendes Fest der Moeglichkeiten, eine wahnwitzige Verschwendung seiner selbst, der Raub von immenser Arbeitszeit aus der Leistungsgesellschaft, die in die Kunst und das erfuellte Leben wandert. Deshalb ''Bruchstueck''...glatte Flaechen schneiden erst, wenn sie gebrochen oder verkratzt werden. Dann tun sie weh.

Und der Kuenstler muss gebrochen sein, wie eine geborstene Flasche in Scherben stehen/liegen, an der er sich selbst, an der andere sich schneiden...aber wehtun muss es. Und wenn es wehtut, wird aber nicht geweint, sondern gelacht ueber die Erkenntnis, dass wir noch fuehlen koennen, dass uns der Konsum und all das globale klebrige Infotainment noch nicht gaenzlich paralysiert haben, dass da mehr ist, das es nur zu entgrenzen gilt durch einen jeden von uns, ein großes Scheitern in einem jeden von uns, das nur darauf wartet, zelebriert und betanzt zu werden, das nur darauf wartet, uns zu umarmen und suess zu kuessen...

Das wird die wahre Revolution sein: dass wir nach unserem eigenen Scheitern suchen...sic transit gloria mundi. Und wir werkeln und flicken weiter an alledem, fangen dies an, hoeren jenes mittendrin auf, sind herrlich inkonsequent, widerspruechlich und scheitern unter lautem Lachen an unseren eigenen, nicht fremden!, Zielen...und die frohe Kunde noch dazu: es bedarf nicht mehr der großen Wuerfe und der großen Werke, die zeitlos vor uns stehen: es reichen schon kleine Erfolge auf dem Weg des Scheiterns und der lebensbejahenden Resignation in Ratlosigkeit und wie heißt es ebenfalls so schoen in dem Song der neuen Tocotronic-Platte ''Schall und Wahn'':

Was wir niemals zu Ende bringen...kann kein Moloch je verschlingen.
(Tocotronic, Keine Meisterwerke mehr)

Der Moloch des modernen totalitaeren Global-Kapitalismus wird sich seine grausig-gierigen Zaehne an uns ausbeißen, wenn wir endlich damit anfangen, die Dinge nicht mehr produktiv zu Ende zu bringen. Der schoene Rest, die Zeit, die bei alledem fuer uns abfaellt, die Verwunderung ueber unsere neuen Moeglichkeiten und die Erleichterung darueber, wie schoen wir scheitern koennen, wenn wir denn nur wirklich wollen, das ist wahrhaftige Groeße...

und jetzt geht raus und lebt und stuermt, tanzt, bewegt, schneidet, brecht und jubelt, lobsingt und faulenzt...wir sind auf einem guten Weg...

Paul Duroy - das gleiche unter seiner Stehlampe

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DADA 2.0 - Gastautor Merzmensch liest Intimacy

Auf das Wort „Mensch“ reimt sich im Deutschen kein anderes Wort. Sie werden schon wissen warum. Merz hingegen ist nicht mal ein allgemein bekanntes deutsches Wort, sondern nur die letzte Silbe von Commerz. Der Dadaist Kurt Schwitters hat sie sich aus dem Namen der Commerzbank angeeignet und die hannoversche Spielart des Dadaismus so benannt. Nach der Merz-Kunst des genialen Dadaisten Kurt Schwitters hat sich der wunderbare Dada-lebt-Aktivist Merzmensch genannt, womit er die Merzkunst an den Menschen geleimt hat. Merzmensch ist Kunstwissenschaftler und Künstler zugleich und schon lange Zeit ein Blogfreund des Teppichhauses.

Hier sein inspirierender Vortrag in der Reihe der Teppichhaus-Gastautoren, von ihm selbst angekündigt: "Merzmensch liest sein eigenes Gedicht, das er selbst geschrieben hat."

Viel Vergnügen,
Trithemius

Intimacy
von MERZMENSCH




Blog: Dadaistisches und Dadaloses
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