"Nimm dir ein bisschen Zeit und gib Sie dir", ist das Motto der Teppichhaus-Bibliothek, für die ich mir schon lange keine Zeit mehr genommen habe, fast vergessen sogar. Was bedeutet es, sich Zeit zu nehmen. Woher nimmt man sie, aus der Zeitspardose? Zeit nimmt man, indem man sie verliert, um sie für sich zu verschwenden. Von diesem Gewinn durch Verlust schreibt Gastautor Paul Duroy so mitreißend, so eindringlich empfiehlt er uns den Verlust und stellt uns dafür einen schier unendlichen Gewinn in Aussicht. Verschwenden wir also Zeit auf dieses Manifest.
Der Verlustmensch und sein unendlicher Zugewinn oder:
Ein naives Manifest (die schwere Erlangung II)
von PAUL DUROY
"Eine lange Zeit fuhr ich so fort, an meinem Tisch sitzend. Auch wenn ich nichts tat als warten, war es das Gleichmaß, mit der an der Balkonkante zerstäubenden Schneeflocke. Mir schien, ich würde so für immer meine Ungeduld los und hätte die mir gemäße Geschwindigkeit gefunden.
Und weil es so einmalig war, kann ich es sagen: ich war da Wort für Wort in der Zeit, so als sei diese mein Ort. Öfter kam mir auch der Gedanke dazwischen, so etwas habe noch niemand erlebt; mit mir fange etwas Neues an. An der Stelle des vergessenen Körpers spürte ich jetzt eine Sinnlichkeit, mir lieb, in dem sie da war, ohne irgendwo hinzuwollen."
(Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht)
Wir müssen lernen, unsere Zeit zu verschwenden für den richtigen Zweck. Unsere Zeit gerade dadurch verwenden, dass wir sie verschwenden. ''Zeitverschwendung'', das war immer schon eine gängelnde Ideologie und Propaganda-Parole der totalitären Arbeitsgesellschaft, die Muße nicht duldet und Faulheit sanktioniert. Auch wenn man irgendwann gar nicht mehr weiß und überhaupt nicht mehr begründet, warum man die Menschen immer mehr arbeiten lässt statt weniger, bläut man den jungen karrierewilligen Menschen immer mehr ein: ''nutzt eure Zeit für die Karriere, verschwendet keine Zeit.'' Das ist natürlich großer Unsinn.
Am feinsten bildet sich der Mensch, der den Mut findet, sich selbst für eine ganz geraume Weile aus dem Weg zu gehen, den eigenen Willen abzuwerfen und auch der fremden Einvernahme zu entgehen. Man muss es aushalten, mindestens ein Jahr, wenn nicht länger, souveränes Treibholz zu sein in den Wirren des Überlassenseins und nicht zu planen, allein: sich selbst als vage entwerfen, sich dahinwerfen den Umständen, sich dabei aber rausnehmen aus dem System der produktiven Vereinnahmung. Man sollte etwas schöpfen, von dem man immer glaubte, das man es schöpfen wollte, einer Idee lauschen, die in die Welt will, um sie schöner zu machen, die in die Welt will, weil sie dort blühen will und nicht, weil sie dort zum Wachstum beitragen will und zum Produktivitätsprozess. Sie will beglücken, aber nicht berauschen oder Lust schaffen.
Diese leise Idee in uns, die aus uns geboren werden möchte, hat nicht den lauten zielgerechten Schrei des Willens und Wollen, sie ist zag und verwundbar, sie zerstäubt wie ein Blütenpollenköpfchen, wenn der rauhe Wind weht, aber sie ist vor allen Dingen schön. Sie hat keine gezielte Richtung, wie der Pusteblumenfallschirm und auch wenn sie nichts verändert, ist sie wichtiger als jeder formierende Schritt. Ihr Wollen ist der Drang des Schönen, ans Licht zu geraten, aber sie will sich nicht breit machen dort.
Dazu brauchen wir Zeit im Überfluss, müssen uns womöglich Tage, Wochen und Monate zurückziehen aus dem Gewirr unserer Beanspruchung durch die Arbeitswelt, müssen uns bereinigen, müssen der Berauschung und zugleich der Stumpfheit entgehen, Nächte durchwachen, um die Sinne wieder in der Kunst der ertragenen Angst zu schärfen. Schauen lernen. Beobachten lernen. Den ganzen Tag (wir wählen den Montag, denn Sonntag kann jeder) auf einer Waldblumenwiese verbringen ohne Buch und Sonnenöl und allein dem Wachsen und Krabbeln zuschauen um einen.
Und loslassen. Einen Gegenstand mitnehmen, den wir unheimlich lieb gewonnen haben und ihn im Wald liegenlassen auf einem Baumstumpf oder einem Feldweg. Und nie mehr wiederkehren und ihn nie mehr heimholen. Auch dieser Verlust schärft unsere Sinne, unseren Sinn fürs Verlieren, denn es ist ein bewusster Verlust, wo wir doch sonst all die Jahre immer nur hinzugewonnen haben. Unsere größten Verluste sind dabei ganz still vor sich und von uns gegangen und wir haben es nicht einmal bemerkt, so hat uns der Konsum überspült. Loslassen, das ist bewusstes Verlieren.
Dann werden wir wacher mit den Tagen und bemerken, dass wir nie wirklich nur Zeit, sondern immer auch unseren Verstand und unsere wache Aufmerksamkeit auf die Dinge verschwendet haben. Das Entertainment hat uns abgestumpft und die Dosierung an Schrillheit und Nacktheit und Lautstärke und Effekt musste erhöht werden, damit wir unsere Belustigung auch noch ein bisschen spüren. Wir sind immer tauber geworden über die Zeit und während die Tiere in den Schlachthöfen schreien, bezeichnen wir uns als Ende der Nahrungskette und lassen uns weiterhin vergiften vom System.
Nicht wahr, wir haben noch den Zynismus. Den haben wir übernommen vom System und gelernt, zu allem, was so richtig danebenläuft und unseren Interessen zuwider, schon den moderat-beschwichtigenden Subkommentar zu führen, der es uns leichter macht, auch weiterhin nichts zu verändern. Hauptsache, wir können über uns selber lachen und weiterhin alles nicht so ernstnehmen.
Aber alles verliert jetzt seine Selbstverständlichkeit, das Wetter und das Tiere-Essen, die Weltmacht Westen und das ewige Wachstum, die kontrollierte Sprache und die Arbeitsgesellschaft. Neue Zeiten drängen sich auf und wir müssen lernen, mehr Zeit zu verlieren, umso viel mehr Leben zu gewinnen.
Widerstand geht auch leise, so wie z.B. eine Pflanze den Asphalt aufsprengt und marode macht, ein kleiner Keim in seinem stillen Drang und seinem zarten Gewebe eine massive Steindecke durchschlägt, um zu blühen und sei es nur für einen Tag, das nötigt mir unendlich mehr Respekt ab, als die jahrzehntelange und nachweislich effiziente Karriere eines Bill Gates oder Steve Jobs. Diese Wirtschaftsriesen sind so unheimlich effizient und dennoch liegt mir soviel mehr am Verwehen des Pusteblumenköpfchens, soviel mehr Sinn und Kraft in diesem geballten Lebenskreislauf von wenigen Tagen.
Schönheit sammeln und Augenblicke. Zeit verwenden für sich selbst, nicht für seinen Chef oder den Betrieb. Man verschwendet keine Zeit, denn die Zeit vergeht ohnehin. Wenn, dann verschwendet man Zeit beim Arbeiten. Zeit also bewusster verlieren, um Schönheit zu entdecken. Das Entdecken von Schönheit bildet in der Glücksfähigkeit, das Konsumieren von Unterhaltung lässt Glücksfähigkeit verkümmern und betäubt allein wie jeder Rausch, der uns nach seinem Vergehen ins Leere stellt.
Wenn wir aber verzichten auf die billige und hinfällige Unterhaltung, auf die Konsum-Artillerie, müssen wir auch nicht mehr viel Geld verdienen. Glück nennen wir dann, was wir spüren und uns gut fühlen lässt und für das wir nie auch nur einen Cent bezahlten. Glück ist das schöne und fast undefinierbare Gefühl, das uns mit uns selbst im Reinen fühlen lässt, und nicht gekauft werden konnte mit Geld, sondern schwer erlangt wurde durch Verzicht auf Effizienz und Rausch und Konsumbefähigung. Kaufen kann jeder (so er Geld hat), erlangen ist ein unendlich schwererer Weg.
Die Belohnung, die nur vermutet werden kann, ist neben dem Glückszu''gewinn'' der neue Blick auf ''mich selbst'' als bewusstes Individuum. Wenn ich mich aus dem Ertüchtigungs-Zusammenhang reiße, gerate ich in eine schwere Krise. Aber diese Krise wird mobilisieren, was ich nicht in mir glaubte. Eine Stärke in uns, der wir dann nicht mehr hinterherjagen und sie doch nie erlangen, sondern die auf uns zugeht. Eine Stärke, die nicht finanzielles Glück verheißt, sondern unserer Festigkeit und unserem geschärftem Bewusstsein entspringt.
Stellen wir uns also bereit, ganz viel zu verlieren an Besitzständen und Selbstverständlichkeiten, Zwängen und Habseligkeiten, um ganz viel Raum zu schaffen für das, was in uns heranwachsen kann, wenn wir es nur ließen. Einen neuen Raum zu schaffen, den wir sonst immer nur überfüllen und verstellen durch Anhäufung und Vermüllung. Schaffen wir diesen Raum aus uns selbst, haben wir den Mut zum Schönen und machen wir uns auf den Weg zu uns selbst, in unsere unbekannten Räume, entdecken wir den so stillen An-Spruch in uns, was da aus uns in die Welt gesetzt werden will, damit wir es endlich EINMAL sehen. Vielleicht werden wir Künstler statt Produzenten und Konsumenten und in jedem von uns wohnt ein Bild, ein Gebirge aus Gedichten, ein Lied mit einer unendlichen Melodie, eine unberechenbar mutige Idee ohne jedes Kalkül, ohne Nutzen, aber mit einer Wurzel, die ins Glück ragt.
Das würde Kunst heißen ... soviel ärmer können wir nicht werden als wir es jetzt bereits sind, da uns fast alles Greif- und Kaufbare zur Verfügung steht. Uns selbst aber sind wir am Fernsten ...
Der Weg, uns selbst neu zu gewinnen, kann nur sein, eine schöne Idee zu haben und diese schöne Idee zu leben. Keine Vorstellung und keinen Plan, sondern allein der schönen Idee zu folgen. Ohne das notorische ''Aber'', diesen Reflex-Hammer des Pragmatischen, der allen Mut zum Alternativ-Entwurf in uns immer so effizient niederschlägt. Kein ''aber ich muss doch eigentlich...''. Das System hält uns von uns selber fern, gibt uns vor, was wir wollen sollen und wenn wir nicht wollen, kauft es uns ein, indem es uns kaufen lässt.
Begeben wir uns endlich auf den steinig-schönen Weg zu uns selbst ... erlangen wir uns schwer.
Paul Duroys Blog:
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