Ich habe Füße gesehen – Mein surrealer Alltag (18)

Hannover, Maschseefest, Promenade am Nordufer. Unglaublicher Trubel. Von links und rechts schieben Menschen jeden Alters vorbei, in Paaren, Gruppen, Rotten, ganze Prozessionen, Publikum wie auf der Kirmes, nur etwas feiner. Es gibt nämlich nicht nur Kirmesfress- und Saufbuden, entlang der Promenade sind doppelstöckige Vergnügungstempel entstanden, zwei Gassen mit aufwendigen Metallkonstruktionen, rappelvoll mit standhaften Trinkern und Essern. Hier herrscht Partystimmung. Man hat die besten Freizeitsachen an und ist fest entschlossen, sich zu amüsieren. Zwischendrin kleine alkoholisierte Gruppen in gleichen T-Shirts mit launigen Aufschriften. Sie feiern Junggesellenabschied. Wen’s erwischt hat, leicht zu erkennen, denn die Eheaspiranten müssen originelle Kostüme tragen, und der Gipfel der Originalität, man biegt sich vor Lachen, sind Jungmänner in Frauenkleidern. Die Gruppe „Eheknast“ steht gleich am Eingang im Weg und belästigt Passanten mit albernen Bitten „für einen guten Zweck!“

Als Alltagsethnologe müsste ich mich eigentlich um diese wild grassierende Mode kümmern, aber ich hoffe fest darauf, dass andere das machen. Es ist nicht verlockend. Einmal sah ich im Bremer Hauptbahnhof eine solche Jungmännergruppe, und der zukünftige Ehemann war gehalten, sich ein Kondom über den Kopf zu ziehen, was ihm aber einfach nicht gelingen wollte. Er hat es immer und immer wieder versucht, hatte wohl einen 20er Pack Kondome. Ihm flogen die Kondomfetzen nur so um die Ohren. Vielleicht zu seinem Glück. Am Ende wäre er noch im 20. Kondom erstickt. Und wer macht dann Mund-zu-Mund-Beatmung?

Ich sitze mit vielen anderen auf der Kaimauer des Maschsees und schreibe was in mein Reporterblöckchen. Vor mir flanieren unzählige Menschen. Da stellt plötzlich ein dicklicher Mann seinen nackten, sandalenbewehrten Fuß direkt neben meinen Tabak und krempelt erst rechts, dann links seine Hose auf. Er lässt sich Zeit, so dass ich in den ausgiebigen Genuss der Nähe und Betrachtung seiner klobigen Füße komme. Trotzdem, als er endlich fertig gerüstet da steht, hat er es nicht gut gemacht. Während nämlich die Krempelung seines rechten Hosenbeins direkt unter seinem Knie endet, spannt die linke über seiner dicken Wade. Zudem ist zu tadeln, dass die helle Freizeithose links wie rechts nicht in sauberen Lagen gekrempelt ist, sondern unordentliche, wurstige Faltungen aufweist.

Noch einmal zurück. Ich sitze auf der Mauer, habe den Maschsee im Rücken, höre hinter mir die große Fontäne rauschen, vor mir zieht unglaublich viel Volk vorbei, und während ich das gerade aufschreiben will, fällt ein Schatten auf mich. Ein dicklicher Mann stellt neben mir seine Füße abwechselnd auf die Mauer und krempelt seine Hosenbeine hoch. Er nimmt sich Zeit, denkt im Traum nicht daran, ich oder auch nur irgendeiner könnte Anstoß daran nehmen, so hautnah mit seinen nackten Füßen konfrontiert zu sein, sondern verschafft sich wohlgemut ein wenig Kühlung seiner offenbar erhitzten Waden. Und wie er gerade mit dem rechten Hosenbein fertig zu sein glaubt, da fällt ein weiterer Schatten auf mich, etwas kleiner als zuvor, und verschmilzt mit seinem. Eine dickliche Frau ist in unseren Intimbereich eingetreten, im Zweifel seine „bessere Ehehälfte“. Sie redet was, er antwortet maulfaul, bis er auch mit dem linken Hosenbein abgerechnet hat. Dann wendet er sich um, geht vier Schritte weiter und stellt sich zu einem anderen Paar.

Derweil ich noch seine unordentliche Krempelung moniere, die ebensogut meine Sache gewesen ist wie seine, schließlich habe ich ein gutes Stück meiner Lebenszeit zusammen mit seinen Füßen verbracht, und sein Schnaufen habe ich noch immer im Ohr, während ich also mein ästhetisches Hosenaufkrempelgefühl beleidigt sehe, gibt seine Frau ihrem Fraternisierungsimpuls nach und stellt ebenfalls ihren rechten Fuß zu mir auf die Mauer, dann den linken, macht’s genau wie er, aber ein wenig fixer.

Wie sie sich aufrichtet und sich zu ihrem Mann begibt, da hat sie ihre Hosen deutlich sauberer gekrempelt, obwohl sie einen mächtigen Rucksack auf dem Rücken trägt, der geeignet wäre, sie nach hinten zu ziehen und ihr das Aufkrempeln schwer zu machen. Er ist etwa so groß und rund wie der Bauch ihres Mannes. Solche Ergänzung, solch wundersame Eintracht, solche Gleichheit im Verschiedensein habe ich lange nicht gesehen. Ist Maschseefest.

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