Tiefpunkt der pataphysischen Reise - in Gütersloh
von Trithemius - 28. Aug, 17:20
Bad Oeynhausen – Herford - Bielefeld – Gütersloh - ca. 50 km Pataphysische Forschungsreise (2.2) - Teil 1.1 - Teil 1.2 - Teil 2.1
Irgendwann Ende der 60er Jahre wusste der Bürgermeister von Gütersloh nicht wohin mit einer leeren Zigarettenpackung, da hat er sie kurz entschlossen mitten ins Zentrum des Stadtplans gestellt und gesagt: „Das wird unser neues Rathaus.“ Da nahm der Sparkassendirektor zwei Streichholzschachteln, stapelt sie quer daneben und sagte: „Und das wird die Sparkasse. Geld und Politik müssen zusammenhalten.“ Der Bürgermeister beauftragte die besten Leute aus dem Liegenschaftsamt, der gelungenen architektonischen Lösung den letzten Schliff zu geben, und die hängten eine Uhr und ein Glockenspiel an die fensterlose Stirnseite. Fertig war das Rathaus. Und nebenan stand die Sparkasse.
Es herrscht da ein ständiges Kommen und Gehen, als ich gut 50 Jahre später am Gütersloher Rathaus vorbeirolle. Ich weiß nicht, was es ist, ob es die Durchquerung von Bielefeld war, die heimtückische Remoulade auf dem Käsebrötchen oder der Anblick des Gütersloher Rathauses mit Uhr und Glockenspiel auf der fensterlosen Stirnseite - ich bin auf einmal sehr müde. Ach, denke ich, die Leute hier sehen ganz und gar nicht so aus, als würden Sie meine Texte hören wollen. Hier brauche ich erst gar nicht zu fragen. Das ist natürlich eine Unverschämtheit gegenüber den Güterslohern. Aber wie da ständig welche ins Rathaus rennen, das verheißt nichts Gutes. Vermutlich müssen die Gütersloher Bürger einmal im Monat hin und kriegen dann im zuständigen Amt was zwischen die Hörner, damit sie willfährig bleiben.
Das würde erklären, warum diese Stadt keine nennenswerten Persönlichkeiten hervorgebracht hat. Zwei Komiker stehen auf der Liste der berühmten Bürger und natürlich der Firmengründer Carl Bertelsmann, der im 19. Jahrhundert fromme Bücher gedruckt hat. An der Carl-Bertelsmann-Straße aber sitzt die Bertelsmannstiftung. Und das macht Gütersloh zur heimlichen Hauptstadt der Republik. Viele der Scheußlichkeiten, mit denen uns die neoliberalen Regierungen unserer Tage das Leben schwer machen, die hat man sich bei der Bertelsmannstiftung ausgedacht, die Eckpunkte von Schröders Agenda 2010 und mithin Hartz IV, die Studiengebühren, die neoliberale Ausrichtung der Hochschulen und des Arbeitsmarktes. Die Stiftung wächst beständig. Ihr gehören rund 77 Prozent des Medienriesen Bertelsmann, und weil die Stiftung weniger ausgibt als der Bertelsmannkonzern durch sie an Steuern spart, finanziert hier der Steuerzahler seinen eigenen Kriechgang in die Knechtschaft des Geldadels.
Bielefeld, das war Spaß, aber hier bin ich in feindseliger Stimmung. In Touristinformationszentralen legen sie keinen großen Wert auf durchreisende Radfahrer. Die geben kaum etwas aus in der Stadt, schlürfen abends nur eine 5-Minuten-Terrine, und am nächsten Morgen sind sie wieder weg. Wer mit dem Fahrrad unterwegs ist, sollte in der Touristinformation nicht nach einer Unterkunft fragen, das lerne ich in Gütersloh. Sie schicken mich jedenfalls zu einem nahen Hotel. Dessen Außenwerbung ist völlig verrottet, so dass ich zuerst gar nicht glaube, dass es noch besteht. Die Rezeption ist auf der ersten Etage, und wenn ich sage, der Teppich vor dem Aufzug war nicht sauber, dann ist das euphemistisch. Der Teppich ist ein lumpiges Bazillenmutterschiff. Seine Flecken beherbergen uralte Universen von Mikroben. Der Aufzug ächzt bedenklich. Er kann schon 20 Jahre nicht mehr. Aber der Tüv verweigert ihm böswillig die Verschrottung. Vermutlich sitzt da ein Schwager des Hoteliers.
Als ich den Hotelier an der Rezeption sehe, wird mir ein wenig mulmig, und seine Freundlichkeit ist mir nicht geheuer. Aber das ist ein Vorurteil, durch sein Umfeld hervorgerufen. Wenn ihm Novizen mit Weihrauchfässern vorweg laufen würden, könnte er gewiss auch als katholischer Bischof durchgehen. Nein, er habe in seinem Hotel kein Zimmer frei. Aber in seiner Pension könne er mich für 30 Euro Vorkasse unterbringen. Ich weiß, dass es ein Fehler war, den Aufzug zu betreten. Mit dieser Entscheidung habe ich mich ausgeliefert. Jetzt ist mir alles egal. Ich händige dem Mann willenlos 30 Euro aus, er gibt mir einen Schlüssel, skizziert mir, wie ich die Pension finde, und schon bin ich auf der Treppe nach unten. Den Teppich schaue ich nicht mehr an, denn wenn ich Ekelherpes möchte, zahle ich nicht auch noch 30 Euro dafür.
Die Skizze stimmt nicht. An einer Tierbedarfshandlung frage ich eine Frau, die gerade mit ihrer Tochter aus dem Auto gestiegen ist, nach dem Weg. Wir sind uns sogleich sympathisch, und sie hilft mir nach Kräften. Garantiert würde sie mich bei sich lesen lassen. Aber ich habe leider schon die Pension bezahlt und den Schlüssel in der Tasche. Ja, so ist das, wer mit Vorurteilen in eine Stadt fährt, hat die bitteren Konsequenzen zu tragen.
Das unansehnliche Haus steht auf der Ecke einer stark befahrenen Straße. Inzwischen hat es heftig zu regnen begonnen. Die schmutzige Haustür, das vernachlässigte Treppenhaus, das alles ist mir egal. Ich will nur noch ins Trockene und ein Bett. Die Zimmer sind auf der ersten Etage. Man kann sich nicht verlaufen, denn der Treppenabsatz der zweiten Etage hat eine Barriere aus stark riechenden Schuhen. Hinter einer Tür tut sich eine große, fensterlose Diele auf, die eine Küche und einen Wohnbereich beherbergt. Mein Zimmer liegt zur Straße hin. Es ist ziemlich geräumig, weshalb ich in den Keller gehe und mein Fahrrad hoch hole. Ich will es lieber bei mir haben. Im Keller läuft eine Waschmaschine, und vor ihr auf dem Boden … was ist das? Sind es nasse Lumpen? Ein Toter, der sich festgetreten hat? Zweifellos bin ich auf einer pataphysischen Forschungsreise, aber das zu erforschen, dazu bin ich einfach zu schwach. Beim erneuten Aufschließen der Tür habe ich die Klinke in der Hand, und ich beschließe, sie vorerst mit hinein zu nehmen. Einst hatte das Zimmer Wandleuchten, doch davon sind nur noch die Kabel da. Es gibt aber in die Decke eingelassene Spots, scheinbar wahllos angeordnet. Erst am späten Abend erkenne ich darin das Sternbild des großen Wagens. Ob seine Hinterachse aber genau zum Polarstern zeigt, kann ich nicht überprüfen, der Regenwolken wegen.
Das Bett steht unterm Fenster, und so wiegen mich prasselnder Regen, zischende Reifen und der brausende Verkehr in den Schlaf. Als ich erwache, tönt RTL 2 durch die Diele, und raue Worte werden gewechselt. Ich gehe hinaus, um zu sehen, wer meine Nachbarn sind. Da steht einer in Unterwäsche, kämmt sich die frisch gewaschenen Haare und redet durch die offene Tür mit einem Zweiten. Man fühlt sich offenbar wie zu Hause, ist wohl schon länger in diesem Etablissement. Es gibt übrigens drei Duschen. In der größten hat der Unterhosenmann seine Utensilien ausgebreitet. Die angrenzende Dusche liegt voller Schutt. Die dritte ist so eng, dass man für die erforderlichen Bewegungen einen Plan machen muss. In allen Duschen sind Fliesen heraus geklopft, so dass man einen guten Eindruck von der Beschaffenheit und Anordnung der Rohrleitungen bekommt. Wenn jemand zufällig einen Film über eine Räuberhöhle drehen will, ich wüsste eine passende Location.
In der Not wächst das Rettende auch. Unweit der Pension finde ich die restaurierten Ziegelgebäude einer alten Weberei. Darin ist ein Kulturzentrum untergebracht sowie ein großes Lokal mit mächtigen Belüftungsrohren an der Decke, einer Theke im Loungestil und tätowierten Kellnerinnen. Durch eines der großen Fenster sehe ich im Schein einer Hoflampe den Regen gülden aufleuchten. Ich esse eine leckere Pizza, trinke das eine oder andere Pils und schreibe in mein Büchlein. Als mich eine junge blonde Kellnerin mit Pferdeschwanz später fragt, ob alles zu meiner Zufriedenheit wäre, das sage ich aufrichtig ja, nur hätte ich keine Bierschaumphobie, man habe mich bestimmt mit einem verwechselt, als man mir das letzte Pils zapfte. „Oh“, sagt sie, „das war bestimmt ich. Ich bin nämlich neu hier.“ „Gut“, sage ich, „dann werde ich demnächst mal über Sie schreiben, und wenn Sie mir Ihren Namen sagen, dann werde ich andere Pilstrinker vor Ihnen warnen.“ Sie heißt Yvonne. Und das schlecht gezapfte Pils hatte Yvonne mir gar nicht gebracht, sondern eine Kollegin. Aber wer so bereitwillig einen Fehler auf sich nimmt, verdient es, lobend genannt zu werden.
Die Weberei kann ich dem Reisenden empfehlen. Sie versöhnt mit Gütersloh. Man kann sich da sogar eine verrottete Pension schön saufen. Heiter gehe ich zu Bett, schlafe wie tot unter dem Großen Wagen, und als ich am nächsten Morgen die Dusche aufsuchen will, da steht der Unterhosenmann fertig zum Aufbruch. Er trägt die orangefarbene Warnkleidung eines Straßenarbeiters. Die Küche ist tipptopp aufgeräumt, das Geschirr sauber gespült, da werfe ich mich vor ihm auf die Knie und leiste Abbitte. Solche Straßenarbeiter verdienen Respekt, auch wenn sie in Unterhosen nicht schön sind und nach Feierabend RTL 2 schauen.
Bald breche ich ebenfalls auf. Vor einer Bäckerei frühstücke ich, bin aber irgendwie durch den Wind, so dass ich unachtsam ein Gesteck umwerfe und das gelbe Zeug verstreue, in dem ein paar künstliche Grashalme stehen. Eine Bäckereifachverkäuferin sitzt am Nebentisch, sagt, das wäre nicht schlimm und räumt alles wieder ein. Sie hat beste Laune, weil sie heute in der Zeitung steht. Ständig kommen Leute vorbei und beglückwünschen Sie. Man hat sie zu Google Street View interviewt. Das aber spielt keine Rolle, alle reden nur von ihrem schönen Foto. Es muss ein guter Fotograf bei ihr gewesen sein. Hey, denke ich, mit Google Street View könnte man auch die Pension sehen, der ich glücklich entkommen bin. Aber der schlaue Hotelier wird sie gewiss verpixeln lassen.
Fortsetzung: Ein Polizist lässt mich klettern - Seltsame Gletscher in der Stromberger Schweiz - Wenig Staub in Soest
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Irgendwann Ende der 60er Jahre wusste der Bürgermeister von Gütersloh nicht wohin mit einer leeren Zigarettenpackung, da hat er sie kurz entschlossen mitten ins Zentrum des Stadtplans gestellt und gesagt: „Das wird unser neues Rathaus.“ Da nahm der Sparkassendirektor zwei Streichholzschachteln, stapelt sie quer daneben und sagte: „Und das wird die Sparkasse. Geld und Politik müssen zusammenhalten.“ Der Bürgermeister beauftragte die besten Leute aus dem Liegenschaftsamt, der gelungenen architektonischen Lösung den letzten Schliff zu geben, und die hängten eine Uhr und ein Glockenspiel an die fensterlose Stirnseite. Fertig war das Rathaus. Und nebenan stand die Sparkasse.
Es herrscht da ein ständiges Kommen und Gehen, als ich gut 50 Jahre später am Gütersloher Rathaus vorbeirolle. Ich weiß nicht, was es ist, ob es die Durchquerung von Bielefeld war, die heimtückische Remoulade auf dem Käsebrötchen oder der Anblick des Gütersloher Rathauses mit Uhr und Glockenspiel auf der fensterlosen Stirnseite - ich bin auf einmal sehr müde. Ach, denke ich, die Leute hier sehen ganz und gar nicht so aus, als würden Sie meine Texte hören wollen. Hier brauche ich erst gar nicht zu fragen. Das ist natürlich eine Unverschämtheit gegenüber den Güterslohern. Aber wie da ständig welche ins Rathaus rennen, das verheißt nichts Gutes. Vermutlich müssen die Gütersloher Bürger einmal im Monat hin und kriegen dann im zuständigen Amt was zwischen die Hörner, damit sie willfährig bleiben.
Das würde erklären, warum diese Stadt keine nennenswerten Persönlichkeiten hervorgebracht hat. Zwei Komiker stehen auf der Liste der berühmten Bürger und natürlich der Firmengründer Carl Bertelsmann, der im 19. Jahrhundert fromme Bücher gedruckt hat. An der Carl-Bertelsmann-Straße aber sitzt die Bertelsmannstiftung. Und das macht Gütersloh zur heimlichen Hauptstadt der Republik. Viele der Scheußlichkeiten, mit denen uns die neoliberalen Regierungen unserer Tage das Leben schwer machen, die hat man sich bei der Bertelsmannstiftung ausgedacht, die Eckpunkte von Schröders Agenda 2010 und mithin Hartz IV, die Studiengebühren, die neoliberale Ausrichtung der Hochschulen und des Arbeitsmarktes. Die Stiftung wächst beständig. Ihr gehören rund 77 Prozent des Medienriesen Bertelsmann, und weil die Stiftung weniger ausgibt als der Bertelsmannkonzern durch sie an Steuern spart, finanziert hier der Steuerzahler seinen eigenen Kriechgang in die Knechtschaft des Geldadels.
Bielefeld, das war Spaß, aber hier bin ich in feindseliger Stimmung. In Touristinformationszentralen legen sie keinen großen Wert auf durchreisende Radfahrer. Die geben kaum etwas aus in der Stadt, schlürfen abends nur eine 5-Minuten-Terrine, und am nächsten Morgen sind sie wieder weg. Wer mit dem Fahrrad unterwegs ist, sollte in der Touristinformation nicht nach einer Unterkunft fragen, das lerne ich in Gütersloh. Sie schicken mich jedenfalls zu einem nahen Hotel. Dessen Außenwerbung ist völlig verrottet, so dass ich zuerst gar nicht glaube, dass es noch besteht. Die Rezeption ist auf der ersten Etage, und wenn ich sage, der Teppich vor dem Aufzug war nicht sauber, dann ist das euphemistisch. Der Teppich ist ein lumpiges Bazillenmutterschiff. Seine Flecken beherbergen uralte Universen von Mikroben. Der Aufzug ächzt bedenklich. Er kann schon 20 Jahre nicht mehr. Aber der Tüv verweigert ihm böswillig die Verschrottung. Vermutlich sitzt da ein Schwager des Hoteliers.
Als ich den Hotelier an der Rezeption sehe, wird mir ein wenig mulmig, und seine Freundlichkeit ist mir nicht geheuer. Aber das ist ein Vorurteil, durch sein Umfeld hervorgerufen. Wenn ihm Novizen mit Weihrauchfässern vorweg laufen würden, könnte er gewiss auch als katholischer Bischof durchgehen. Nein, er habe in seinem Hotel kein Zimmer frei. Aber in seiner Pension könne er mich für 30 Euro Vorkasse unterbringen. Ich weiß, dass es ein Fehler war, den Aufzug zu betreten. Mit dieser Entscheidung habe ich mich ausgeliefert. Jetzt ist mir alles egal. Ich händige dem Mann willenlos 30 Euro aus, er gibt mir einen Schlüssel, skizziert mir, wie ich die Pension finde, und schon bin ich auf der Treppe nach unten. Den Teppich schaue ich nicht mehr an, denn wenn ich Ekelherpes möchte, zahle ich nicht auch noch 30 Euro dafür.
Die Skizze stimmt nicht. An einer Tierbedarfshandlung frage ich eine Frau, die gerade mit ihrer Tochter aus dem Auto gestiegen ist, nach dem Weg. Wir sind uns sogleich sympathisch, und sie hilft mir nach Kräften. Garantiert würde sie mich bei sich lesen lassen. Aber ich habe leider schon die Pension bezahlt und den Schlüssel in der Tasche. Ja, so ist das, wer mit Vorurteilen in eine Stadt fährt, hat die bitteren Konsequenzen zu tragen.
Das unansehnliche Haus steht auf der Ecke einer stark befahrenen Straße. Inzwischen hat es heftig zu regnen begonnen. Die schmutzige Haustür, das vernachlässigte Treppenhaus, das alles ist mir egal. Ich will nur noch ins Trockene und ein Bett. Die Zimmer sind auf der ersten Etage. Man kann sich nicht verlaufen, denn der Treppenabsatz der zweiten Etage hat eine Barriere aus stark riechenden Schuhen. Hinter einer Tür tut sich eine große, fensterlose Diele auf, die eine Küche und einen Wohnbereich beherbergt. Mein Zimmer liegt zur Straße hin. Es ist ziemlich geräumig, weshalb ich in den Keller gehe und mein Fahrrad hoch hole. Ich will es lieber bei mir haben. Im Keller läuft eine Waschmaschine, und vor ihr auf dem Boden … was ist das? Sind es nasse Lumpen? Ein Toter, der sich festgetreten hat? Zweifellos bin ich auf einer pataphysischen Forschungsreise, aber das zu erforschen, dazu bin ich einfach zu schwach. Beim erneuten Aufschließen der Tür habe ich die Klinke in der Hand, und ich beschließe, sie vorerst mit hinein zu nehmen. Einst hatte das Zimmer Wandleuchten, doch davon sind nur noch die Kabel da. Es gibt aber in die Decke eingelassene Spots, scheinbar wahllos angeordnet. Erst am späten Abend erkenne ich darin das Sternbild des großen Wagens. Ob seine Hinterachse aber genau zum Polarstern zeigt, kann ich nicht überprüfen, der Regenwolken wegen.
Das Bett steht unterm Fenster, und so wiegen mich prasselnder Regen, zischende Reifen und der brausende Verkehr in den Schlaf. Als ich erwache, tönt RTL 2 durch die Diele, und raue Worte werden gewechselt. Ich gehe hinaus, um zu sehen, wer meine Nachbarn sind. Da steht einer in Unterwäsche, kämmt sich die frisch gewaschenen Haare und redet durch die offene Tür mit einem Zweiten. Man fühlt sich offenbar wie zu Hause, ist wohl schon länger in diesem Etablissement. Es gibt übrigens drei Duschen. In der größten hat der Unterhosenmann seine Utensilien ausgebreitet. Die angrenzende Dusche liegt voller Schutt. Die dritte ist so eng, dass man für die erforderlichen Bewegungen einen Plan machen muss. In allen Duschen sind Fliesen heraus geklopft, so dass man einen guten Eindruck von der Beschaffenheit und Anordnung der Rohrleitungen bekommt. Wenn jemand zufällig einen Film über eine Räuberhöhle drehen will, ich wüsste eine passende Location.
In der Not wächst das Rettende auch. Unweit der Pension finde ich die restaurierten Ziegelgebäude einer alten Weberei. Darin ist ein Kulturzentrum untergebracht sowie ein großes Lokal mit mächtigen Belüftungsrohren an der Decke, einer Theke im Loungestil und tätowierten Kellnerinnen. Durch eines der großen Fenster sehe ich im Schein einer Hoflampe den Regen gülden aufleuchten. Ich esse eine leckere Pizza, trinke das eine oder andere Pils und schreibe in mein Büchlein. Als mich eine junge blonde Kellnerin mit Pferdeschwanz später fragt, ob alles zu meiner Zufriedenheit wäre, das sage ich aufrichtig ja, nur hätte ich keine Bierschaumphobie, man habe mich bestimmt mit einem verwechselt, als man mir das letzte Pils zapfte. „Oh“, sagt sie, „das war bestimmt ich. Ich bin nämlich neu hier.“ „Gut“, sage ich, „dann werde ich demnächst mal über Sie schreiben, und wenn Sie mir Ihren Namen sagen, dann werde ich andere Pilstrinker vor Ihnen warnen.“ Sie heißt Yvonne. Und das schlecht gezapfte Pils hatte Yvonne mir gar nicht gebracht, sondern eine Kollegin. Aber wer so bereitwillig einen Fehler auf sich nimmt, verdient es, lobend genannt zu werden.
Die Weberei kann ich dem Reisenden empfehlen. Sie versöhnt mit Gütersloh. Man kann sich da sogar eine verrottete Pension schön saufen. Heiter gehe ich zu Bett, schlafe wie tot unter dem Großen Wagen, und als ich am nächsten Morgen die Dusche aufsuchen will, da steht der Unterhosenmann fertig zum Aufbruch. Er trägt die orangefarbene Warnkleidung eines Straßenarbeiters. Die Küche ist tipptopp aufgeräumt, das Geschirr sauber gespült, da werfe ich mich vor ihm auf die Knie und leiste Abbitte. Solche Straßenarbeiter verdienen Respekt, auch wenn sie in Unterhosen nicht schön sind und nach Feierabend RTL 2 schauen.
Bald breche ich ebenfalls auf. Vor einer Bäckerei frühstücke ich, bin aber irgendwie durch den Wind, so dass ich unachtsam ein Gesteck umwerfe und das gelbe Zeug verstreue, in dem ein paar künstliche Grashalme stehen. Eine Bäckereifachverkäuferin sitzt am Nebentisch, sagt, das wäre nicht schlimm und räumt alles wieder ein. Sie hat beste Laune, weil sie heute in der Zeitung steht. Ständig kommen Leute vorbei und beglückwünschen Sie. Man hat sie zu Google Street View interviewt. Das aber spielt keine Rolle, alle reden nur von ihrem schönen Foto. Es muss ein guter Fotograf bei ihr gewesen sein. Hey, denke ich, mit Google Street View könnte man auch die Pension sehen, der ich glücklich entkommen bin. Aber der schlaue Hotelier wird sie gewiss verpixeln lassen.
Fortsetzung: Ein Polizist lässt mich klettern - Seltsame Gletscher in der Stromberger Schweiz - Wenig Staub in Soest