Vagabundierende Texte - Ethnologie des Alltags

Das erste Beispiel eines vagabundierenden Textes habe ich während meiner Schriftsetzerlehre gesehen. Der Juniorchef der Druckerei war unser Setzereileiter. Nachmittags hängte er seinen grauen Kittel an den Haken, zog ein Jackett an und begab sich auf Kundenbesuch, um neue Aufträge zu akquirieren. Die Gesellen machten sich dann über seinen Kittel her, denn in der Brusttasche klemmten hinter ein paar Papiermustern ein pornografisches Foto, und dahinter ein zusammengefaltetes DIN-A4-Blatt, worauf mit Schreibmaschine ein pornografischer Text geschrieben war. Das Blatt war so oft geöffnet und wieder gefaltet worden, dass die Kanten schon Risse hatten. Solche Blätter waren immer Originale, denn wer sie weitergeben wollte, musste sie abtippen.
Textvagabunden

Fotokopien aus den 80er des letzten Jahrhunderts, Sammlung Trithemius

Das änderte sich, als der Fotokopierer in die Büros einzog. Es wurden natürlich nicht nur pornografische Texte kopiert und per Hand weitergegeben. In vielen Büros der Verwaltungen hängen launige Sprüche oder längere Texte an der Wand, an der Tür oder am Schwarzen Brett, mit denen man sich den Büroalltag versüßt. Inzwischen werden solche Texte auch per E-Mail weitergereicht und verbreiten sich im Internet, so beispielsweise die Typbeschreibung des Trabbis 601 S auf Sächsisch, die Geschichte vom Hund des Gewerkschafters oder die Anleitung Wie man andere in den Wahnsinn treibt.

Solche Texte haben eine Weile Konjunktur, verschwinden dann in der Versenkung, bis sie irgendwer wieder hervorholt und erneut in Umlauf bringt, vielleicht in modifizierter Form. Wer sie erdacht und niedergeschrieben hat, ist fast nie festzustellen. Es handelt sich wie bei Witzen oder urbanen Sagen um Textvagabunden.

Vor einigen Tagen sandte mir Jeremias Coster, Professor für Pataphysik und Leiter des Instituts für Datengeräte an der Technischen Hochschule Aachen, ein Rundmail zu. Es war nicht die erste dieser Art, denn Coster sammelt schon seit Jahrzehnten schriftliche Belege der Volkskultur. Costers neuestes Exemplar passt gut in die Jahreszeit. Der Textvagabund scheint relativ jung zu sein. Den frühesten Beleg fand ich im Jahr 2006. Hier Costers Sendung, von mir für das Teppichhaus formatiert:
Kälte ist relativ
Über weitere Textvagabunden freue ich mich.

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