Abendbummel online - Die hohen Schuhe wären nicht nötig gewesen

Heute bin ich zweimal beim Radfahren von einer Frau überholt worden. Die erste habe ich ziehen lassen. Sie war in Sportkleidung. Später jedoch rauschte eine Mutter mit leerem Kindersitz auf dem Gepäckständer an mir vorbei und lächelte überlegen, als sie auf meiner Höhe war. Sie trug auch noch hohe Schuhe. Da wunderte ich mich, denn ich war zügig gefahren. An einer Wegkreuzung habe ich sie wieder überholt, weil sie einen kleinen Umweg machte. Um die Schmach nicht noch einmal zu erleben, bin ich schneller gefahren und habe sie abgehängt. Jedenfalls wähnte ich mich bald allein auf der windigen Vennbahntrasse. Und da ich nicht verschwitzt im Institut ankommen wollte, fiel ich wieder in meinen alten Trott, zumal ich noch ein wenig die Landschaft genießen wollte, das Wechselspiel des Lichts unter den jagenden Wolken.

Diesen Teil der Vennbahntrasse fahre ich besonders gern. Er ist ein bisschen wellig und geht leicht bergauf. Doch zunächst taucht man in einen schnurgeraden Abschnitt, der links und rechts von halbhohen Bruchsteinmauern begrenzt ist. Darüber wölbt sich ein dichtes Blätterdach. Hier ist es stets ein wenig feucht und deutlich kühler als unter dem Himmel. Man fährt über nasse Blätter und kleine Zweige, die vom Sturmwind der letzten Tage herabgerissen wurden.

Weit hinten lockt hell
der Ausgang aus dem grünen Dämmer des Kanals. Es geht hinaus auf einen Viadukt, der in beachtlichen Bögen aus Bruchstein das Tal eines kleinen Flusses überspannt. Das schwarzbunte Vieh unten auf den Wiesen trampelt manchmal hindurch, und so sind die Ränder des Flüsschens schlammig ausgefranst.

Vennbahntrasse01

Drei Fugenrinnen hat die betonierte Fahrbahn der Brücke. Dort rumpelt es ordentlich, weil sie mit den Jahren etwas abgesackt sind. Links öffnet sich der Blick auf ein zweites Tal. Da gehen die Wiesen steil hinab, und für die Pferde dort wäre es bequemer, wenn sie zur Bergseite hin kürzere Beine hätten. Auf der anderen Talseite ragen aus dem Gebüsch die rötlichen Klippen eines Steinbruchs auf. Auch dieses Tal ist von einem Viadukt überspannt, denn von Osten schwingt eine weitere Bahnlinie heran. Anders als auf der Vennbahntrasse liegen dort noch Gleise. Der Nachtschwärmer ist vor gut einem Jahr darüber gerollt, von Walheim zur gallo-romanischen Kultstätte Varnenum.

Hinter einer Biegung taucht man erneut unter ein Blätterdach, und dann kommt von links aus einer Schneise das alte Gleis heran und begleitet die Vennbahntrasse. Und grad als ich am Gleiskörper entlang fuhr, die Schwellen und den Schotter kaum noch sah und dachte, „bald ist alles vom Gras überwuchert, dann könnte auch die Nachtschwärmer-Draisine nicht mehr rollen“, in diesem Moment strampelte die Frau mit dem Kindersitz hinten drauf an mir vorbei, lachte mich an und rief: „Da bin ich wieder!“
Ich hab mich erschreckt und aus tiefem Herzen gesagt: „Heute sind die Frauen stark.“
„Der Wind ist stark!“ rief sie zurück. Und als sie schon ein ganzes Stück enteilt war, verstand sie erst und rief: „Ach so, die Frauen sind stark!“

Vennbahntrasse02

Über einer kleinen
Straßenbrücke kreuzt die Vennbahntrasse das Gleis und hat auch eine steil gewundene Abfahrt zur Straße hinunter. Da musste ich abbiegen. Als ich unter dem Brückengewölbe hinab in den Ort sauste, da wurmte mich vor allem, dass die Frau kein bisschen verschwitzt ausgesehen hatte oder, um es feiner auszudrücken: Das bisschen, was sie transpirierte, wurde vom Wind verblasen.

Frauen sind eindeutig von der Natur begünstigt. Das hat ja schon Frau Nettesheims Vorfahr Agrippa gesagt.

Guten Abend
1863 mal gelesen
Juleika (Gast) - 14. Mai, 22:59

Nettesheim hat auch gesagt:

benutze deine inneren vier Sinne - also deinen Gemeinsinn, deine Einbildungskraft deine Phantasie und dein Gedächtnis.

Du hast die deinen wieder eindrucksvoll ein und umgesetzt.
Danke für diesen Abendbummel.

Herzlichst,
deine Juleika

Trithemius - 15. Mai, 19:11

Sach ma, liebe Juleika, haste eigentlich wie Franz Beckenbauer "alle Philosophen" gelesen? So aus der Hüfte Agrippa zu zitieren, ist jedenfalls beachtlich.

Liebe Grüße
Dein Jules
Juleika (Gast) - 16. Mai, 09:29

*niemalsnimmer*

werd ich sie alle lesen :-)

Doch die vier inneren Sinne von Agrippa sind eben hängengeblieben

Grüße aus dem Regen, von einem sonnigen Gemüt,
Juleika
Prinz Rupi - 14. Mai, 23:32

Lass die Frauen getrost an Dir vorbeiziehen, lieber Jules.

Hauptsache, das Leben zieht nicht vorüberi!

Trithemius - 15. Mai, 19:13

Meinst du das ernst, lieber Rupi?

Dann muss ich mich von der Irrlehre befreien, Frauen gehörten zum Leben. Doch dein Rat gefällt mir trotzdem: Ich lasse alle Frauen vorbeiziehen, die einen leeren Kindersitz mit sich führen.
Prinz Rupi - 15. Mai, 21:47

Claro, Frauen sind das Salz in der Suppe … aber ich kenne einige Herren, die inzwischen die Nase voll haben und gut ohne Damen zurecht kommen. Das soll in Deinem Fall aber kein Tipp sein!
Trithemius - 15. Mai, 22:41

Siehste, jetzt sagst du es selbst, Salz in der Suppe. In den Anfängen des Blog.de-Teppichhauses habe ich einmal die pataphysische Aktion "Acht Stunden Frauenlob" gemacht, in der ich zu jeder vollen Stunde ein Frauenlob veröffentlicht habe. Daran kannst du ablesen, dass ich noch nicht zu den Herren gehöre.

Der Beitrag ist übrigens gelöscht, denn mir fehlte danach Speicherplatz. Ich könnte ihn eigentlich einmal als Flashback bloggen. Danke für die Anregung!
immekeppel - 15. Mai, 21:41

immerhin

hast du ja bei aller nachtschwärmerei auch tagsüber das flirten nicht verlernt ;)

und ich warte noch auf die weihnachtliche draisine - oder hatten wir das unter den tisch gekehrt und ich habe es bloß nicht bemerkt?

oder lag es daran, dass ich bei unserem ausflug ebenfalls recht hohe schuhe trug?

Trithemius - 15. Mai, 22:32

Die hohen Schuhe waren doch fein. Ich habe unsere Besprechung zum Thema Nachtdraisine nicht vergessen, hatte nur noch keine Zeit, mich drum zu kümmern. Wieviel Vorlauf brauchen wir eigentlich, also wann wird's dringend?
immekeppel - 16. Mai, 14:49

vorlauf

dringend? nun, wenn ich bis 67 arbeiten muss, dann haben wir jetzt noch rund 19 jahre zeit ;)

ansonsten könnte man ja mal die vorweihnachtszeit anpeilen - wenn der text erst mal da ist, dann dauert die durchführung ja auch nicht so lange - kommt dann immer darauf an, wann ich mich "zwischenmogeln" kann im studio ;)

Trithemius - 16. Mai, 20:44

67?

Zur Not kannst du ja auch noch ein paar Jahre Verlängerung beantragen.

Irgendwie gruslig, jetzt das Wort "Vorweihnachtszeit" zu verwenden, findest du nicht? Aber die Wintermode muss auch im Sommer fotografiert werden. Also machen wir es dann, wenn's dir recht ist. Ich werde dir jedenfalls rechtzeitig das Manuskript schicken.

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