Pentagrion

Die Papiere des PentAgrion - Fehler in der Software

Folge 2.9 Händchenhalten überm Höllenschlund

Heute sah ich in der Mensa eine aparte Studentin. Sie kam vorbei, setzt sich an einen Tisch in meinem Blickfeld, an dem bereits ein junger Mann saß. Nicht lange, da hielten die beiden übern Tisch hinweg Händchen. Sie wippte mit dem Stuhl nach hinten und ließ sich von ihm wieder heranziehen, eine ganze Weile. Dieses Hin und Her war ein Anblick, von dem ich kaum lassen konnte. Plötzlich flog mich der Wunsch an, mit ihm zu tauschen, die Hände der Schönen zu halten und ihr wippendes Spiel mitzumachen.

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Papiere des PentAgrion - 2.8 Ein Netz wird zerfetzt

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Folge 2.1 Die Macht der Jacke - Folge 2.2 Von den Socken - Folge 2.3 Realer Ruch des Blutes - Folge 2.4 Der Autor ist verwirrt - Folge 2.5 Planet der Postboten - Folge 2.6 Forschungsreise durch den Kopf und andere Netze - Folge 2.7 Große Welt ist kleine Welt

Draußen hebt ein Sturm an, schüttelt und rüttelt alles durch, was sich nicht halten kann, erfasst auf dem Bahnhofsvorplatz Metalltische und Stühle und schleudert sie umher. Eine Weile setze ich mich auf eine Bank und lasse mich zausen, lasse mir vom Sturm den Kopf zu Recht rücken, bis der von Coster vorhergesagte Regen aufkommt. Da flüchte ich in den Bahnhof und gehe auf den Bahnsteig.

Bald sitze ich im Taxi nach Stolberg. Wir machen eine hübsche Erinnerungstour durch die Stadt. Es ist nicht so, dass ich mit dem Taxi habe nach Stolberg fahren wollen. Die Deutsche Bahn hat mich dazu genötigt. Einst muss die Bahn ein Muster an Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit gewesen sein. Da warb sie mit dem Slogan: „Alle reden vom Wetter. Wir nicht.“ Dieses robuste, ja, stoische Image hat sie längst verspielt. Die Bahn ist heute ein filigranes Netzwerk von höchst fragiler Natur. Das Gebilde Bahn gerät aus den winzigsten Anlässen sofort aus dem Takt, beispielsweise wenn Wetter ist, also Kälte, Hitze, Sturm oder Gewitter. Ja, selbst wenn ein Verantwortlicher an den Schaltstellen nur ein Fürzchen quer sitzen hat, pflanzt sich diese kleine Unpässlichkeit über das filigrane Netzwerk fort, richtet hier und da erste Schäden an, die im weiteren Verlauf kulminieren, sich zu wahren Unwettern aufblähen und in der Folge als Tornado den gesamten Bahnverkehr zum Erliegen bringen.

Dem stofflichen Netzwerk der Bahn fehlt Redundanz, es fehlen alternative Verbindungen, auf der sich eine Störung umgehen lässt. „Früher“, sagt ein hilf- und ratloser Lokführer aus der Tür seiner Lok heraus, „früher wären sofort zwölf Mann ausgerückt, um die Schäden an der Strecke zu beseitigen. Aber heute müssen die erst zusammengerufen werden.“ Seine Lok steht still auf dem Bahnhof von Stolberg, wohin die Reisenden mit dem Taxi gekommen sind. Ab Stolberg werde ein Zug fahren, hatte man uns gesagt. Aber diese Information gilt nicht mehr. Der Furz aus dem Bahnvorstandssessel war leider verheerend. „Wann es weiter geht, weiß ich auch nicht“, sagt der Lokführer. „Die Strecke ist nicht frei.“ Nie zuvor hätte ich gedacht, dass die gewaltigen Lokomotiven, die so eine immense Kraft und Geschwindigkeit entfalten können, von Männern gesteuert werden, die nichts wissen. Die Unwissenheit aber ist eine Begleiterscheinung fragiler Netzwerke. Solche Netzwerke sind streng hierarchisch organisiert. Das Wissen verdünnt sich von oben nach unten, denn es ist per Definition Herrschaftswissen und festigt die Macht der Entscheidungsträger. Es heißt, schlanke Netze seien kostengünstiger und effektiver. Verschlankung bedeutet aber Ausdünnung. Was nicht oft gebraucht wird, kommt weg. Weg kommt auch, was mehr Kosten verursacht als es beim Normalbetrieb einbringen könnte. Da nun aber der Normalbetrieb von unzähligen Faktoren gestört werden kann, sind wir also auf dem Stolberger Bahnsteig gestrandet. Mich erwartet niemand, aber um mich herum wird heftig diskutiert und geflucht, weil man Termine hat.

Bahnreisende sind üblicherweise eine Zwangsgemeinschaft, und das Kennzeichen solcher Strukturen ist die gegenseitige Abschottung. Daher fließt im Netzwerk der Bahnkunden selten eine Information, die über das Gucken, Schubsen und Anrempeln hinausgeht. Im Netz der Bahn werden Informationsträger befördert, die zu anderen Netzwerken gehören. Ein Menschentransportmedium kann natürlich auch gesellig sein, zumindest einst ist es so gewesen, als die Menschen noch in den unbequemen Rollwagen saßen, dessen Wände hochgeflochten waren, so dass man nicht hinaussehen konnte. In Jörg Wigrams Rollwagenbüchlein aus dem Jahr 1555 sind die Schwänke versammelt, die man sich zur Reiseunterhaltung erzählte. Offenbar hat die Kommunikationsbereitschaft des postmodernen Menschen enorm unter der Verstädterung und der Ausweitung seines privaten und beruflichen Netzwerkes gelitten, hat sich dadurch verdünnt und ist eigentlich zum Stillstand gekommen unter Fremden. So geht es auch jetzt auf dem Bahnsteig von Stolberg. Zuerst müssen alle in ihr Mobiltelefon sprechen und die aktuellen Wasserstände melden, wo sie sind, was passiert ist, dass niemand was weiß. Und Rückrufe kommen.

„Nein, niemand weiß, wann es weitergeht!“

Das ist zweifellos eine wichtige Information, die über die diversen Funknetze verbreitet werden muss. Sie zieht in den Äther hinaus, einmal um den Mond und zurück, wird von diversen Satelliten weitergeleitet, zurückgestrahlt in Parabolantennen, umgewandelt und wieder in die Funknetze eingespeist, um hier und da in Köpfe zu flutschen: "Keiner weiß was, ich weiß auch nichts." Es ist klar, dass sich Informationen verdünnen, je größer und dichter ein Netzwerk ist, in dem sie herumschwirren. Wie Autobahnen Verkehr erzeugen, so erzeugt jede Datenautobahn Informationen, die es nur gibt, weil die Datenautobahn da ist. Und je höher die Nachrichtendichte, desto redundanter werden Informationen. Auf einen Großteil könnte man verzichten, ohne den Informationsgehalt zu senken. Zusätzliche Fernkommunikationsnetze wie Internet und Festnetzanschluss, sie alle in Kombination bewirken nicht nur ein Absinken des Informationsgehalts der digitalen Nachrichten, die Nachrichten können sich auch gegenseitig stören, überholen, den zeitlichen Ablauf durcheinander bringen.

Anders ist das bei stofflichen Netzen wie bei der Bahn oder einer Solidargemeinschaft, die sich aus Gründen höherer Gewalt zu einem losen Netz zusammenschließt. Denn nachdem auch der letzte dreimal herumtelefoniert hat, dass niemand was weiß, besinnt man sich auf die Leute in der Umgebung. Das Niederliegen des Beförderungsnetzes lässt ein unmittelbares, menschliches Netz entstehen. Horror vacui, die Angst der Natur vor dem leeren Raum. Dieses neue soziale Netz ist nur eine Augenblicksbildung, aber sie lässt ahnen, wie die Welt anders und besser sein könnte, wenn die Menschen mehr miteinander reden würden, Aug in Aug und nicht per Fernkommunikation. Im Laufe der holprigen Reise sollte ich jedenfalls eine Reihe Leute kennen lernen und die kurzweiligste Bahnreise meines Lebens haben, die ich je alleine unternommen habe.

Fortsetzung: In Vorbereitung

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Papiere des PentAgrion - 2.7 Große ist kleine Welt


Folge 2.1 Die Macht der Jacke - Folge 2.2 Von den Socken - Folge 2.3 Realer Ruch des Blutes - Folge 2.4 Der Autor ist verwirrt - Folge 2.5 Planet der Postboten - Folge 2.6 Forschungsreise durch den Kopf und andere Netze

Jeremias Coster, Professor für Pataphysik und Leiter des Instituts für Nachrichtengeräte der RWTH Aachen, hat Käse gekauft, alle möglichen Sorten, ungefähr fünf. Er selbst isst keinen, also steht der ganze Käse meinetwegen auf dem kleinen Balkontisch. Wenn man mehr haben kann als man will, das nennt man Luxus. Ich säbele mir Altamsterdamer Käse aufs Brötchen. Das ist schon mehr als ich brauche, denn eigentlich brauche ich wenig. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, da hegte man früher keine großen Ansprüche. Und genießen mag ich sowieso nicht, wo mein Herz doch immer wieder einzufrieren droht, trotz der brütenden Schwüle dieses Morgens.

Auf Costers Balkon, das ist wie über der Stadt zu sitzen. Coster hat seine Stadt unter sich, ist auf Augenhöhe mit den Kronen prachtvoller Bäume und hoher Türme. Der Blick geht bekanntlich zum Lousberg hinüber, und es sind Luftlinie mal gerade zweieinhalb Kilometer bis zur anderen Seite der Stadt. Das hat mir Coster in der Nacht gesagt. Aber genau weiß ich es nicht mehr. Da aber Coster auch alles vergessen haben will, was wir in der Nacht beredet haben, kann’s mir egal sein. Wer schnell geht, ist jedenfalls in etwa 20 Minuten drüben.

Coster sitzt mit dem Rücken zu seiner Stadt, seinem Netzwerk, seiner sozialen Plastik, wendet ihr schnöd den Rücken zu und schneidet sorgfältig „ein Tomätchen“. Ist’s eine Zweikammer-Tomate, hat sie drei oder vier Kammern? „Wenn du eine Dreikammertomate aufschneidest, siehst du einen Mercedesstern“, hat Coster gesagt. In seiner Küche hängt eine Zeichnung, mehr eine Schautafel, wo er auf einzelnen Bildern die Tomaten selbst und die Schnitte durch die verschiedenen Tomaten zeigt. Mit einer kleinen, gezielten Handschrift ist dabei die gesamte Costersche Tomatenphilosophie erklärt. Etwas Ähnliches hat er mit Sektkorken gemacht, aber ich weiß nicht mehr, was. Es gibt auch eine Bildserie, auf der er die kleinen Kaffeemilch-Plastikdöschen zeigt, deren Aludeckel man auf- oder abreißen muss. Coster hat untersucht und gezeichnet, wie es am besten geht.

Ich bin froh, dass er sich mit scheinbar banalen Dingen beschäftigt. Da lerne ich von ihm. Rätselhaft ist mir allerdings Costers Kugelsammlung innen neben der Balkontür. Hundert Kugeln aus unterschiedlichen Materialien hatte er sich vorgenommen zu sammeln. Zuletzt schenkte man ihm einen leeren Kugelfisch, der nun obenauf liegt und für immer sein Maul aufreißt. Er war die hundertste Kugel und komplettierte die Sammlung. Nun ist ja das Kugelige durchaus ansprechend, wenn’s einen nicht gerade blöd anglotzt wie ein ausgehöhlter Kugelfisch. Aber diese einhundert Kugeln muss Coster gelegentlich abstauben, wenn sie offen auf dem Teppich liegen. Das würde mich abschrecken. Und der Kugelfisch erst. Er hat kleine Stacheln und kann folglich nicht gewischt, sondern muss gebürstet werden. Das hätte sich Mama Kugelfisch wohl auch nicht träumen lassen, als sie irgendwo im japanischen Meer ihren Laich absetzte, dass eines ihrer Jungen so weit rumkommen würde, um zuletzt bei Coster auf 99 anderen Kugeln zu verstauben. Verstauben! Frau Kugelfisch kennt nicht mal das Wort.

Aber angenommen, so ein Kugelfisch käme ursprünglich gar nicht aus dem japanischen Meer. Angenommen die Kugelfische wären hier fremd. Sie stammten vom Wasserplaneten eines Sonnensystems im Pferdekopfnebel. Ihr Heimatplanet wäre dabei gewesen auszutrocknen. Da hätten sich die letzten Kugelfische vor Äonen aufgemacht, neuen Lebensraum zu suchen und irgendwann hätten ihre Nachfahren auf dem Planeten Erde gewassert. Tief im japanischen Meer hätten sie eine ganze Weile gut gelebt. Aber seit einiger Zeit geschieht ihnen Merkwürdiges, was ihre Rasse auszurotten droht. Einer nach dem anderen wird von seltsamen Wesen rausgefischt und gefressen. Die Kugelfische sind ganz ratlos, denn diese Wesen leben nicht wie sie im Wasser, sondern irgendwo zu ihren Köpfen in einer für sie unzugänglichen Welt. Diese Wesen sind Allesfresser, und obwohl ihr Metabolismus den Kugelfisch nicht verträgt, fressen sie ihn doch, aus purem Mutwillen.

Ich habe schon am Münsterplatz unter Linden gesessen und gefrühstückt, derweil Coster noch schlief. Er steht immer erst um halb elf Uhr auf. So ist mein zweites Frühstück rasch beendet. Coster räumt ab und befiehlt, ich solle in Ruhe noch eine rauchen. Ob auf meinem Amsterdamer Käse vielleicht Außerirdische gelebt haben, die ich, weil sie so klein sind, nicht gesehen habe und gefressen? Habe ich versehentlich ganze Weltreiche vertilgt, eine Milliardenbevölkerung ins Unglück gestürzt? Nach dem ersten Bissen muss es schrecklich zugegangen sein in dieser Welt. Frauen weinten um ihre Kinder, Männer um ihre Autos, die öffentliche Ordnung zerfiel. Despoten rissen die Macht an sich. Erbarmungslose Religionen kamen auf, man brachte Opfer, meuchelte die junge, unschuldige Brut, um die Götter zu besänftigen, zettelte furchtbare Kriege mit den Nachbarn an, um deren vermeintlich sicheres Land zu erobern. Aber dann, das Meucheln, Morden und Brandschatzen ist noch voll im Gange, da reiße ich mein Maul auf und zerfetze und verschlinge den halben Kontinent mit Mann und Maus. Was soll ich machen? Ich habe kein einziges der Gebete gehört. Das ganze Betteln und Flehen, die Opfergaben, nichts davon ist bei mir angekommen. Ich bin einfach zu groß, bin ein ahnungsloser Riese.

Aber in meiner Welt bin ich das ganz und gar nicht. Da leide ich grad wie ein Hund. Warum nur? Wozu all das Leid in der Welt? Gibt es in einer für uns unbegreiflichen Dimension eine Lebensart, die sich schmausend ernährt von den Schmerzen und vom Leid dieses Planeten? Feiert man gerade mal wieder ein rauschendes Fest, und auch mein Herzblut schwappt in einem Pokal, den eine gierige, verwöhnte Göttin an die lackierten Lippen führt? Kennerisch schmatzend zieht sie mein Herzblut durch die Zähne, gurgelt damit und sagt: "Vorzüglich, dieser Tropfen." Und der Gastgeber tritt geschmeichelt heran und sagt: "Ja, den Tropfen habe ich vor Tagen in einem entzückenden kleinen Weingut in der Provence entdeckt. Seine Bitterkeit ist vorzüglich." Ähm, Tschuldigung. Mit dem letzten Satz bin ich ein bisschen aus dem Bild gerutscht. Mein Herz wuchs natürlich nicht in einem Weinberg, wurde nicht bedenkenlos gelesen und mit Füßen getreten. Auch wurde das ausgequetschte Herzblut nicht in Fässern gesammelt, vergoren, und auf Flaschen gezogen. Das fühlt sich nur so an.

Wie aber muss man sich die Leute von Usjh vorstellen, dem angeblichen Heimatplaneten des PentAgrion? Was PentAgrion über die menschliche Rasse sagt, lässt vermuten, bei ihm zu Hause geht es anders zu. Dann könnte ich mir vorstellen, die Wesen von Usjh sind zweigeschlechtlich. Oder sie sind sich selbst genug, brauchen nur sich, um sich fortzupflanzen, einfach durch Zellteilung. Was weiß ich. Jedenfalls scheinen sie nicht oder nicht mehr dem Diktat einer Tiernatur unterworfen zu sein, deren Streben nach Fressen, Macht und Paarung schier unendliches Leid hervorzubringen versteht, bis hin zum Meucheln, Morden und Brandschatzen, bis hin zur totalen Ausplünderung des Planeten und seiner Vernichtung.

Von Westen her, über den Höhenrücken des Stadtwalds hinweg ziehen schwarze Wolken auf. Als Coster zurückkommt, schaut er hoch und sagt: „Ich glaube, du gehst am besten sofort, sonst wirst du nass.“ Da packe ich meinen Kram und mache mich auf. In seiner Diele umarmen wir uns, und ich danke ihm für all die Wohltaten, die er mir hat zukommen lassen. Er ist jetzt froh, mich los zu werden, denn er hat alles getan für mich, was einer nur tun kann, der einen verwirrten Freund beherbergt. Am Vorabend hat er sogar auf seiner Trompete geblasen, die er kürzlich einer Freundin abgekauft hatte, die ein wenig klamm gewesen und Erbstücke hatte verhökern müssen.

Fortsetzung: 2.8 Ein Netz wird zerfetzt

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Die Papiere des PentAgrion - 2.6 Forschungsreise durch den Kopf und andere Netze

Folge 2.1 Die Macht der Jacke - Folge 2.2 Von den Socken - Folge 2.3 Realer Ruch des Blutes - Folge 2.4 Der Autor ist verwirrt - Folge 2.5 Planet der Postboten

Wie ich da sitze und in ein Buch schaue, blitzt plötzlich die freundliche Abendsonne durch die Bäume vor meinen Fenstern, und ich sehe die Haarstränen vor meinem rechten Auge glitzern. Ich lasse den Kopf gesenkt, schaue nicht hinein in den Sonnenball, sondern will Sonnenlicht auf meinem Haarschopf. Da stelle ich mir vor, es würde durch dringen, in meinen Schädel fallen und ein paar dunkle Kammern erhellen. Bald habe ich Lust, wieder zu schreiben und kritzele unschuldige Papierblätter voll. Sie haben sich nicht direkt beschwert bei mir, aber als ich mit ihnen fertig war, sahen sie doch recht vorwurfsvoll aus und sagten: „Vorher waren wir hübscher!“ Ich gebe zu, sie sind mir etwas wirr geraten, weil die Worte so ungeordnet über mich kamen. Aber auch nach dem Durchkämmen ist nicht jedes am richtigen Platz, vor allem, was die Chronologie der Ereignisse betrifft.

Früh morgens vor einem Café. Am Tisch hinter mir reden zwei Männer. Dann höre ich den in meinem Rücken sagen: „Ich fahre einmal im Jahr nach Thailand, ins Land der jungen Frauen.“ Was für ein Geständnis an einem unschuldigen Sommermorgen um 8:30 Uhr, denke ich, derweil ich sehe, dass mir Lindenblütenblättchen in den Kaffee fallen. Es ist freilich schon recht warm, beinah heiß, trotz der frühen Stunde. Eben im Café an der Theke blieb der schmucken Bäckereifachverkäuferin ein Zwei-Euro-Stück am Daumen kleben, von wo es sich löste, zu Boden fiel und ein bisschen im Kreis rollte. Schwül und klebrig kommt mir auch das Geständnis des Mannes vor. So etwas würde ich nicht dem engsten Freund erzählen. Die Sache selbst tät mich sowieso rundum beschämen. Wie es schien, waren die beiden nicht mal eng befreundet, sondern hatten sich zufällig getroffen. Der Thailandfahrer konnte nicht wissen, wie seine Aussage auf sein Gegenüber wirken würde. Das schien ihm aber nichts zu machen, sonst hätte er es nicht hinausposaunt. Vielleicht verkehrt er üblicherweise mit Männern, die es auch so machen, weshalb ihm die Sache als nichts Besonderes erschien.

Die Wörter in seinem Satz sind das Personalpronomen „ich“ (Subjekt des Satzes), das Verb „fahren“ (Prädikat), die Umstandsangaben der Zeit/des Ortes „einmal im Jahr“/„nach Thailand“, das Bezugssubstantiv „Land“, das Genitivattribut „der jungen Frauen“. An keinem Wort, an keinem dieser Satzteile ist etwas Anstößiges. Das Anstößige liegt nicht im Satz selbst, nicht in seiner grammatischen Struktur. Sprache muss erst mit Bedeutung aufgeladen werden. Der Sprecher verbindet mit seinem Satz offenbar lustvolle Erfahrungen. Mit welcher Bedeutung seine Äußerung vom Hörer gefüllt wird, hängt von vielen Umständen ab, von der Aufmerksamkeit, von der Akustik, vom Vorwissen und von der moralischen Haltung, von der Situation, vom sprachlichen Kontext, von der emotionalen Stimmung, von Gestik und Mimik oder deren Abwesenheit.

Ich habe diesen kurzen Abschnitt vorausgestellt, um einige Aussagen aus den Papieren des PentAgrion verständlich zu machen, zumindest aber so zu bebildern, dass du mir nichts nachsagen kannst, höchstens, „Danke, das wäre nicht nötig gewesen, ich kann selber denken.“


Menschensprache und die sekundären Medien
(aus den Papieren des PentAgrion)

Jedes Wort der Menschensprache ist seinem Wesen nach neutral. Deshalb ist die Menschensprache grundsätzlich ein perfektes Kommunikationsmedium. Eine jede Schriftsprache verfügt über Millionen Wörter. Ein Teil davon ist in Wörterbüchern verzeichnet und steht theoretisch jedem Sprecher zur Verfügung. Darüber hinaus kennt jedes Mitglied der Sprachgemeinschaft eine Fülle weiterer Wörter, die aus unterschiedlichen Gründen nicht lexikontauglich sind oder noch in Warteschleifen hängen. In der Praxis ist der Sprachschatz dem Sprecher aber nur in Teilen zugänglich. Wollte jemand etwa zwei Millionen Wörter seiner Sprache sprechen und nehmen wir für jedes Wort die Zeit von drei irdischen Sekunden, dann wäre er (3 * 2 000 000) / 60 = 100 000 Stunden damit beschäftigt, was
(((3 * 2 000 000) / 60) / 24) / 365 = 11.4155251 Erdjahren entspricht. In diesen 11 Jahren hätte er nicht kommuniziert, sondern nur Wörter geleiert. Im Regelfall geht der Umfang des Wortschatzes aber weit über zwei Millionen Wörter hinaus. Hinzu kommen Wörter aus den Dialekten, aus unzähligen Fachgebieten, aus Sonder- und Gruppensprachen, Augenblicksbildungen sowie private, idiomatische Ausdrücke. Diesen gewaltigen sprachlichen Ozean zu durchmessen, ist in einem Menschenleben praktisch unmöglich, auch wenn einer den Mund noch so voll nimmt.

Ein durchschnittlicher Sprecher beschränkt sich etwa auf 10.000 Wörter. Sie sind sein aktiver und passiver Wortschatz. Den letzteren benutzt er nicht, aber versteht die darin enthaltenen Wörter. Man sollte annehmen, dass der Mensch danach trachtet, seinen aktiven Wortschatz ständig zu erweitern, denn es brächte eine Verfeinerung der Denkgewohnheiten mit sich, würde mithin sein Denken und Handeln verändern, sein Urteilsvermögen schärfen, ihm ein tieferes Verständnis seiner Welt und seiner Mitmenschen bescheren und seine soziale Kompetenz erhöhen. Tatsächlich aber herrscht in allen Kulturen die Bestrebung, den Wortschatz einzuschränken. Bestimmte Wörter sind aus religiösen, moralischen oder politischen Gründen tabuisiert, bestimmte Wörter und Sätze nur besonderen Gelegenheiten, sozialen Situationen und sprachlichen Kontexten vorbehalten. Manche Wörter tauchen nicht in Fachliteratur auf, andere nicht in erzählenden Texten. Diese Gebrauchsweisen werden angestoßen von den Massenmedien und geraten meist ungefragt in die Alltagssprache. Nach der Herkunft der Sprachmoden wird selten gefragt, denn der Mensch lebt in einer Welt der Konventionen, kann sich kaum vorstellen, dass die Dinge anders betrachtet werden könnten, als er es üblicherweise tut, wie es alle tun.

Der Erweiterung des Wortschatzes steht eine Streitmacht von Verhinderern entgegen. Die geistige Trägheit hat viele Schutzheilige in Schulen, Hochschulen, in den Medien. All diese Sprachverhinderer setzten Normen, schlagen Pflöcke ein, wo nicht weiter gegangen und gedacht werden darf, weit vor den Grenzen des Denk- und Sagbaren. Diese geistige Unterdrückung geschieht nicht aus Bosheit, sie ist nicht das Werk einer weltweiten Verschwörung, sondern entspricht einem systeminhärenten Problem der menschlichen Sprache. Allen Sprachen ist zueigen, dass sie nur für die Kommunikation in kleinen Gruppen taugen, nur taugen, den unmittelbar überschaubaren Bereich zu bewältigen. In kleinen sozialen Gruppen sind die menschlichen Sprachen entstanden, und wie seine Sprache, so der Mensch. Er ist ein Gruppenwesen, versteht nur, was er in seinem unmittelbaren Bereich sehen, riechen, schmecken und hören kann. Seine Weltwahrnehmung formt sich danach, was er mit seinen Sinnen erfasst. Größere Zusammenhänge kann er demnach nicht gut begreifen, will sie auch nicht begreifen, weil sie ihn bei der Bewältigung seiner täglichen Pflichten stören.

Das Gruppenwesen Mensch aber findet sich in einem Staatswesen vor, von dem er nur über Fremdzeugnisse erfährt, also mittelbar über die Fernkommunikation durch die diversen sekundären Medien. Was er davon begreift, ist von Zufällen bestimmt und wird in der Regel nicht kontrolliert durch den Abgleich mit den Fakten. Denn viele der Informationen aus den Massenmedien werden erzeugt in sozialen Zirkeln, zu denen nur Medienvertretern eingeschränkten Zugang haben. Der mediale Einfluss auf den Einzelnen ist enorm. Die irdischen Massenmedien sind gigantische Manipulationsmaschinen, deren Macht täglich wächst. Sie sind die Denkfabriken, in denen der Inhalt der Köpfe erzeugt wird. Sie begründen die Ohnmacht des Menschen, denn wichtig und wirklich, das ist in seinen Augen nur, was den medialen Segen der Denkfabriken erfahren hat. Selten ist es sein eigenes Leben, wo er doch so gerne teil hätte und aufgenommen würde in die Sozialgemeinschaft des globalen, für ihn viel zu großen Dorfes. Seine Tiernatur treibt ihn dahin, wo die Musik spielt. Aber die Musik lockt ihn weg vom eigenen Herd, wo seine Aufmerksamkeit gefordert ist. Aus diesem Dilemma ist dem Menschen nicht zu helfen.

„Aber ja doch!“, hatte Coster bestimmt gesagt, in der Nacht, als wir trinkend in seiner Küche saßen, „natürlich ist dem Menschen zu helfen. Er muss vor allem in alten Büchern lesen. Und das ist durchaus nicht nur literarisch gemeint. Wir müssen auch in den Büchern der eigenen Vergangenheit lesen. Die Erinnerungen sind nicht nur Teil des eigenen gedanklichen Netzwerks; alles, was danach kommt, baut auf ihnen auf und wird beständig von ihnen modifiziert. So wirkt die Vergangenheit zu jeder Zeit auf die Wirklichkeitswahrnehmung ein. Wer freilich nur durch seine übermächtige Gegenwart taumelt und sich von ihr niederdrücken lässt, ohne seine Vergangenheit als Ursache und Wirkung zu betrachten, dem allein ist nicht zu helfen.“

Am Morgen dieser heißen Sommernacht, als er mir ein wenig verkatert schien, wollte er von all dem nichts mehr wissen. Was Costers eigene Themen betraf, so erinnerte ich mich zwar, aber nur ungenau. Vor allem die Fakten waren mir entfallen. Es ist eine meiner Plagen, dass ich mir keine Zahlen merken kann, wie ich überhaupt vieles ziemlich rasch soweit vergesse, dass ich nur noch weiß, dass ich es mal gewusst habe und wo es wieder aufzufrischen wäre. Deshalb brauche ich so viele externe Erinnerungsspeicher. Das zumindest habe ich als meinen Kardinalfehler erkannt und mich darauf eingestellt, mir erst einmal grundsätzlich nicht zu trauen, wenn es um die Einzelheiten einer Sache geht. Und das gleicht die Schwäche aus und bereitet mir eine ruhige Selbstgewissheit. Es ist nicht gut, eine Sache nur halb zu wissen und an ihr Entscheidungen fest zu machen. An welcher Seite setzen denn die Bäume Moos an, an der westlichen Wetterseite oder im geschützten Osten? Da ich das immer wieder vergesse, werde ich mich nie nach dem Moos richten.

Folge 2.7: Große ist kleine Welt
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Folge 2.1 Die Macht der Jacke - Folge 2.2 Von den Socken - Folge 2.3 Realer Ruch des Blutes - Folge 2.4 Der Autor ist verwirrt

Der Leibniztempel auf einer Halbinsel im Georgengarten der Stadt Hannover war lange Zeit verwaist. Jetzt ist Leibniz zurückgekehrt. Seine Büste steht zentral im Säulenrund auf einem Sockel und auf einer Tafel steht zu lesen, dass es Gottfried Wilhelm Leibniz ist, den man hier aufgestellt hat. Der große Philosoph und letzte Universalist hält den Kopf leicht schräg nach unten geneigt, als wollte er den Hügel hinab auf den Teich und durch den Park zum Horizont schauen. Der den Leibniz gemeißelt hat, wusste entweder nichts Genaues über die Raumverhältnisse im Leibniztempel oder er hat sich nicht drum gekümmert. Jedenfalls schaut Leibniz keinesfalls den Hügel hinab auf den Teich und durch den Park zum Horizont. Das musste ich für Leibniz machen, er selbst hat überhaupt keinen weiten Horizont, sondern schaut milde lächelnd genau auf eine dicke Säule, vor seiner Nase quasi. Ich saß in der Blickachse von Leibniz auf den Treppenstufen, und theoretisch schaute mir Leibniz in den Nacken. Und anders als er, konnte ich sogar den Kopf drehen und mich umschauen.

Durch den offenen Leibniztempel weht ein Lüftchen, der leichte Sommerwind kräuselt freundlich die Wasserfläche des Teiches. Sacht wehen die langen Triebe der Trauerweide übers Wasser, ringsum das träge Rauschen im Blattwerk der stattlichen Bäume, da gelingt es mir eine Weile, mich zu besinnen. Denn es ist so, meine Gedanken wollen derzeit immer abschweifen und um eine Stelle kreisen, vielmehr um drei, vier fünf solcher Stellen, zwischen denen sie hin- und herhüpfen. An manchen Stellen ist’s schön wie im Leibniztempel, nur genau dort verweilen die Gedanken am kürzesten, hüpfen rasch wieder zurück dahin, wo es weh und weher tut. Ja, und wenn es mir dann gelingt, diesen Spuk in meinem Kopf zu beruhigen, weil sich die Natur ringsum doch solche Mühe mit mir gibt, dann ist es plötzlich der Tempel selbst, der mich Schmerzen lehrt. Schließlich ist sie mir hier einmal begegnet oder erschienen.

Links im Hang der Halbinsel, nah beim Teichufer und hübsch im Schatten liegt ein junger Mann. Jetzt richtet er sich auf und spielt versonnen auf seiner Gitarre, klimpert leise für sich Harmonien. Sie werden ihm aber bald verbellt, mal solo, mal im kakophonischen Gekläffe. Wie zum Teufel ist es bloß zugegangen, dass der Mensch sich ausgerechnet den Hund zum besten Freund gemacht hat, der doch so unschöne Rufe hervorbringt. Wenn es darum ginge, blöde Tierlaute hören zu wollen, könnten die Hundebesitzer doch ebenso Schafe und Ziegen durch den Park führen. Oder Esel in allen Größen. Ob es um Seelenverwandtschaft geht? Ob das Hündische genau zur Menschennatur passt? Das weiß ich nicht, will aber auch gar nicht darüber nachdenken. Allenfalls, dass es wohl die Tiernatur ist, die Mensch und Hund vergesellschaftet. Da ähneln und ergänzen sie sich.

Im Menschen ist die Tiernatur das Subjektive. Ich habe lange nicht recht verstanden, warum es dem Menschen nicht gelingt, seine Tiernatur ordentlich zu bändigen. In den Papieren des PentAgrion hat gestanden:


„Wer den Menschen ein wenig studiert hat, kann seine subjektiven Verhaltensweisen voraussagen. Dieses Subjektive im Menschen ist das Universale in ihm, das ihn mit allen anderen Lebewesen verbindet. Der Mensch selbst hingegen erlebt die kollektive Tiernatur als sein Eigenes, das ihn von anderen unterscheidet.

Die Sozialbeziehungen des heutigen Menschen drängen ihn in die Vereinzelung. Individualität wird als hochwertig empfunden und speist überaus schädliche Verhaltensweisen. In diesem Dilemma befindet sich der Mensch. Seine egoistischen Verhaltensweisen wurzeln in seiner Natur. Die schädlichen Verhaltensweisen des Menschen sind sein schwarz eingefärbtes Kollektivbewusstsein.“

Vor ein paar Tagen habe ich in meinem Bücherschrank ein Buch wiederentdeckt. Grundlagen der tibetanischen Mystik von Lama Anagarika Govinda. Hin und wieder lese ich darin. Auch eben habe ich darin geblättert. Es hat mir geholfen, die Papiere des PentAgrion besser zu verstehen. Aber man muss kein Buddhist sein, um zu wissen, dass die Vereinzelung des Menschen zu seinem Scheitern führt. Alles Negative und alles Positive in der Welt des Menschen wurzelt in der gemeinsamen Tiernatur. Die Vereinzelung bringt beständig schwarze Netzwerke hervor, die verständige Vergesellschaftung schafft unzählige weiße Netzwerke. Schwarze Posthalter, weiße Postboten.

Der Junge liegt wieder rücklings im Gras, die Gittare neben sich. Ich bin froh, dass er eben gespielt hat. Da habe ich ein Weilchen anderes denken können, unabhängig von einer Postbotin namens Gina Enport, die meinen Träumen entsprungen ist.

Folge 2.6: Forschungsreise durch den Kopf und andere Netze
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Papiere des PentAgrion - 2.4 Der Autor ist verwirrt

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Folge 2.1 - Die Macht der Jacke - Folge 2.2 - Von den Socken - Folge 2.3 - Realer Ruch des Blutes

Wer nichts in Monschau zu suchen hat, der sollte nicht die Straße hinab ins enge Rurtal fahren. Im Gegenteil, wer da nichts verloren hat, sollte einen weiten Bogen um dieses Städtchen machen. Hallo? Ich sage, lieber nicht hinunter fahren, aber du sitzt schon auf dem Rad und freust dich, dass es prima rollt? Die Freude wird dir noch vergehen, denn der Ort, in den du hinabsaust, über den habe ich schon mehr Schlechtes gehört als ich dir an einem Abend beim Bier erzählen könnte, auch wenn nur ich spreche und du überhaupt nichts sagst. Aber, du trinkst ja kaum Bier, also haben wir auch nicht bei einem Bier zusammen gesessen, und schon schlägst du meine Warnung in den Wind.

Die Straße, hier oben ist sie noch weit offen, freundlich und bequem, je tiefer du ins Tal kommst, umso steiler und enger wird sie. Und auch der Belag ändert sich, oben Makadam, unten grobes Kopfsteinpflaster. Der kleinste, ja der winzigste und unbedeutendste Schrecken, der dich unten beim ersten Anhalten durchfährt, du wirst denken: Schlimm genug, dass ich jetzt hier in Monschau bin, aber noch schlimmer ist die Vorstellung, diesen elend langen Anstieg über die Pflastersteine wieder hoch zu fahren. Da stehst du wie gelähmt. Von beiden Seiten zwängen dich schiefergedeckte Fachwerkhäuser ein. Hier mussten ja früher nur Eselskarren durch, also hat man nicht mehr Platz gelassen. Ein seltsame Sitte der Monschauer ist: Wer da unten in so einem engen Schamott haust, der darf zum Trost sein Auto mit in die Stadt nehmen und vor seinem Haus parken, aber nur ganz eng an der Wand, versteht sich. Trotzdem kommt man da nur noch im Gänsemarsch vorbei, und wehe, es gibt Gegenverkehr von einem Hund z.B., dann heißt es aber: Mach dich dünn so gut du kannst. Und den Leuten erst komm lieber nicht in die Quere. Die sind hartmaulig. Die können eine Distel quer fressen.

Eine Frage: Was ist eigentlich aus dem Paradies geworden, nachdem Adam und Eva rausgeworfen worden, waren, wurden sind? Ich habe mal einen Stich gesehen, der war, glaube ich von Gustave Doré. Der geniale Doré hat ja fast die ganze bekannte Weltliteratur des 19. Jahrhunderts illustriert, die Bibel, The Raven von Edgar Allan Poe, Don Quijote, Dante Alighieris Göttliche Komödie, John Miltons Paradise Lost, Gargantua und Pantagruel von Rabelais, Balzacs Tolldreiste Geschichten, - und so war auch sein Wahlspruch: „Ich werde alles illustrieren!“ Zeitweilig beschäftigte Doré an die hundert Stahl-, Kupfer- und Holzstecher, die seine Entwürfe in Druckformen umsetzen mussten. Gustave Doré hat garantiert einen stattlichen Engel mit flammenden Schwert und mächtig gerunzelten Brauen stechen lassen. Und vor dem laufen Adam und Eva weg, halbnackt. Sie hält sich nen Fetzen vorn Leib. Der Engel guckt noch, ob sie auch wirklich abhauen, löscht sein Flammenschwert in der Schwertscheide und dann wirft er die Tür zum Paradies von innen zu. Und jetzt? Wird die ganze Prachtanlage abgerissen? Wenn nicht, steht sie unendlich lang leer? Oder sitzen da schon ein paar Mümmelgreise rum und spielen Karten?

Übrigens ein Tipp, wenn du mal nicht so gut drauf bist. Eine wirksame Methode habe ich jüngst herausgefunden. Du machst einfach mal eine ganze Weile Dinge, die verboten sind, außer Morden und Brandschatzen natürlich. Du könntest zum Beispiel mal kiffen, den ganzen Tag nackt herumlaufen, ungesunde Sachen essen oder ein Gedicht auf deine Socken im Wäscheschrank machen und ihnen das Ergebnis laut vortragen, wobei ich jetzt nicht weiß, ob es wirklich verboten ist, den eigenen Socken Gedichte vorzulesen. Deine Stimmung wird sich heben, augenblicklich, spätestens nach dem Sockengedicht. Wenn dann noch draußen ein ordentlicher Regenguss niedergeht und du nicht nass wirst, sondern angenehm erschauernd aus dem Fenster siehst, wie Bäume, Büsche und selbst die elendsten Gräser sich freudig dem Regen entgegenrecken … Ehrlich gesagt, die Gräser halten nicht lange durch. Grad haben sie einen ordentlichen Guss empfangen, legen sie sich auch schon lang.

Mir tut gerade was schrecklich weh. Nein, es ist nichts Organisches. Ich glaube, ich hatte mich in die Postbotin Gina Enport verliebt, aber das Schlimme daran ist, ich habe sie mir vermutlich nur eingebildet. Man kann sich manchmal nicht vertrauen, also sich selbst, meine ich. Die Papiere des PentAgrion habe ich sehr wohl im Internet gefunden. Mir ist klar, dass ich nach dem Geständnis eben nicht gerade der Glaubwürdigste bin. Aber andererseits, du hast die Zitate aus den Papieren gelesen, die ich veröffentlicht habe. Also, dich gibt’s, oder? Auf deinem Bildschirm hat dann auch alles gestanden, du hast es lesen können und kannst es immer noch lesen, wenn du die Seiten aufrufst. Diese Texte habe ich also nicht geträumt, und ausgedacht habe ich sie mir erst recht nicht. Solch komplizierte Sachen passen gar nicht in meinen Kopf rein. PentAgrion gibt es wirklich, nur dass er die Postbotin Gina Enport sein soll, das glaube ich jetzt nicht mehr.

Tut mir leid, wenn ich dich jetzt betrübt habe, aber ich hatte dich darauf hingewiesen, du solltest lieber nicht hinab in das Städtchen Monschau rollen. Es ist übrigens nicht verwandt oder verschwägert mit dem echten Städtchen Monschau in der Nordeifel. Ich war nur zu durcheinander, mir einen anderen Namen auszudenken.

Uff, das zieht in den Beinen. Ist das schwer, den steilen Berg wieder hoch zu radeln über die hubbeligen Pflastersteine. Wer die wohl alle verlegt hat von den Knien aus? Naja, hier liegt alt neben jung, denn wie man sieht, wurde häufig nachgebessert. Oder auch nicht wie bei dem Schlagloch da vorne. Ich habe mich schon immer gefragt, wieso sich die Steine im Kopfsteinpflaster nicht irgendwann mal so richtig aneinander angleichen, blankgehobelt von hundertausend Paar Füßen. Weißt du, warum das nicht gelingt? Die Menschen haben zu kleine Füße, die rutschen damit immer in die Rillen, und das rundete die Kopfsteine ab, statt sie zu egalisieren. Man müsste also kleinere Steine nehmen, aber das wäre vermutlich zu teuer. Die erste Generation müsste Unsummen aufbringen, ohne selbst was davon zu haben, weil sich die Steine ja höchsten nach zwei bis drei Generationen erbaulich abgeschliffen haben. Wer wollte für seine Urenkel soviel Geld ausgeben, nur damit deren Füße mal von glatten Steinen geschmeichelt würden. Es weiß doch kaum einer, ob er einmal Urenkel haben wird. Und für fremder Leute Urenkel muss man nun wirklich kein Geld ausgeben. Das ganze ließe sich also nur über deutlich größere Füße glätten. So Schuhgröße 84, das würde wohl reichen. Vielleicht bringt die Evolution ja mal solche Leute hervor, die quasi mit ihren großen Füßen für ihre Urenkel abstimmen.

Ich gebe zu, dass ich Quatsch erzählt habe. Aber es geschah zu deinem Nutzen, denn ich wollte dich von dem anstrengenden Anstieg ablenken. Wenn du nämlich glücklich wieder oben bist, erinnerst du dich kaum noch daran, wie weh es unterwegs getan hat, sondern nur an die Sache mit den Pflastersteinenurenkeln.

Folge 2.5: Planet der Postboten
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