Ringsum Lebenswege

aula-carolinaKennst du das? Du wachst morgens auf, und wunderst dich, wer du bist und dass du allerlei Dinge erledigen sollst, bis hin zum Kaffee machen. Und während du alles ohne groß zu denken zu erledigen verstehst, denkst du, na gut, dann füge ich mich eben in dieses Leben als Mensch des 21. Jahrhunderts.

Wenn es blöd kommt, fremdelst du den ganzen Tag als wärst du im falschen Film. Wer gibt dir eigentlich die Gewissheit, dass du gestern nicht jemand anderes warst? Beweisen kannst du es nicht. Am Ende warst du gestern noch die Ex-Geliebte von Horst Seehofer und hast gerade der BILD alles gebeichtet, wie es war mit Seehofer und so. Was hast du dir gedacht, als du ein Verhältnis mit einem verheirateten Politiker begonnen hast? Das war nicht gerade klug, oder? Na ja, wo die Liebe hinfällt. Vorstellen kannst du dir das heute nicht mehr, denn heute bist du im Körper eines Mannes erwacht und ins Bad gewankt. Ja, so geht es zu in der Welt. Alleweil ändert sich was.

Jetzt sitzt du in der Aachener Pontstraße vor dem Laden einer Bäckereikette, die keinen guten Ruf hat, da sich ihr Name dummerweise auf „goebeln“ reimt. Bist trotzdem mutig hineingegangen, hast dir Kaffee und ein Brötchen aufs Tablett laden lassen, nach Milch musstest du fragen und bekamst die pampige Antwort, die stehe irgendwo auf den Tischen, und jetzt sitzt du draußen in der Sonne, trinkst deinen Kaffee, und was ist? Dein Brötchen fühlt sich auf der Unterseite feucht an. Das ist ein bisschen eklig, und hättest du jetzt Lust, dir die Zimpe der Verkäuferin noch einmal anzuschauen, dann würdest du hineingehen und das Brötchen reklamieren. Doch du hast dich ja auch in deiner früheren Existenz als Ex-Geliebte von Horst Seehofer nicht gut um deine Belange gekümmert. Also hoffst du, das Brötchen werde in der Sonne rasch trocknen, am besten, bevor du beim Beißen an die nasse Stelle kommst.

Gegenüber werden die oberen Etagen des Hauses Nr. 117 renoviert. Bist du vielleicht vor 157 Jahren Julius Reuter gewesen? Dann hättest du dort unterm Dach einen Taubenschlag gehabt. Deine Täubchen fliegen für dich nach Brüssel und zurück. Das ist recht weit, und du bist stolz darauf, dass deine Täubchen die Strecke so sicher und rasch bewältigen. Selten verfliegt sich eine oder landet in einem wallonischen Kochtopf. Und deshalb versorgst du deine Täubchen gut, stehst unterm Dach, und durch die offenen Luken blinzelt die Morgensonne herein. Du magst es, die Staubteilchen im Lichtbündel tanzen zu sehen. Es ist, als hätten sie sich im Sonnenlicht zum Hochzeitstanz versammelt. „Hochzeit?“ Das Wort rührt etwas in dir an. Hattest du nicht gegen Morgen noch von einer schönen Hochzeit geträumt? Du wolltest einen bekannten Politiker heiraten, der leider schon eine Frau hatte. Seltsamer Traum.

Egal jetzt, die Depeschen müssen nach Brüssel gesandt werden. Du wickelst sie zu kleinen Rollen zusammen und steckst sie in Hülsen. Nun kommt, meine Täubchen! Seid meine Boten! Tragt die Depeschen brav nach Brüssel hin. Und während du ein ums andere Täubchen gen Himmel wirfst, denkst du, dass du sie nicht mehr lange brauchen wirst. Werner von Siemens hat dir geraten, nach London zu gehen und dort ein Telegraphenbüro zu eröffnen. „Julius! Die Telegraphie wird die Welt verändern!“, das hat Siemens dir gesagt. Und dann hast du deine Frau überzeugt, dass es gut ist, nach London zu gehen. Siemens hat dies gesagt! Siemens hat das gesagt! Die Tauben können wir vergessen, meine Liebe.

Unfassbar denkst du, während du leider in die feuchte Stelle des Brötchens beißt, dass die große stolze Nachrichtenagentur Reuters hier im Haus Nr. 117 der Pontstraße ihre Wurzeln in Taubenkot hat. Der Dachboden ist auch renoviert worden. Da gibt es jetzt ein chices Appartement. Wer wird da wohl einziehen? Vielleicht die Geliebte irgendeines Prominenten?

Komm, wir bummeln die Pontstraße hinunter zum Markt. Alle Cafés, Restaurants und Imbissbuden haben Stühle vor der Tür. Hier summt und brummt es von atzenden Studenten. Da erhebt sich gerade ein ganzer Tisch Maschinenbauer. Wenn davon mal einer eine gute Frau findet, die ihm Verantwortung beibringt, wer weiß, welche Innovation er sich ausdenkt. Aber jetzt ... gut, wenn wir da endlich durch sind. Guck, die Tür zur Aula Carolina steht auf. Da hängen ganz schöne Bilder. Die Künstlerin weiß noch nicht so recht, in welche Richtung ihre Kunst gehen soll, das sieht man. Trotzdem ist es gut, dass sie einmal so prominent ausstellen darf. Daraus kann sich etwas entwickeln, oder?

Findest du nicht auch, dass es unzählige gute Ansätze in der Welt gibt? Man muss nur beständig an einer Sache arbeiten und ab und zu etwas wagen. Es gilt natürlich eine Lücke zu finden. Wo andere schon sitzen, hat man wenig Platz zum aufrechten Stehen.

Guten Abend
1383 mal gelesen
webgeselle - 2. Aug, 11:22

Wieder ein ganz entzückender Text...

... lieber Herr Trittenheim (nee, ich will nich' kratzen, warum sollte ich), und eigentlich wollte ich ja Pause machen: ich habe nämlich 'n Mausarm (nein, kein Witz: seit Monaten habe ich diese sehr merkwürdigen Beschwerden im rechtem Oberarm, und jetzt habe ich per Googelung oder so ähnlich endlich das passende Syndrom gefunden: da sieht man wieder, wohin unproduktive Leidenschaft führt!), aber ich kriege meinen Kopp nicht abgeschalten, der denkt immer weiter und entläd sich lustvoll enzephalo-elektrisch (oder so ähnlich), so er Texte wie diesen rezipieren darf; ach, wie wäre ich mit IQ 70 glücklich (?)...

Diese Situation des "Fremdelns", die Du da beschreibst, kommt mir - bitte nicht zu laut lachen! - bekannt vor; sie hat auch was damit zu tun, daß die unter anderem von Piaget und ähnlichen Denkmeistern erforschten Mechanismen nicht (mehr) funktionieren; man lernt ja, normaler Weise, in der frühen Kindheit etwas über Kontinuität in Zeit und Raum, indem man zum Beispiel begreift, daß die Dinge nicht verschwinden, wenn man selbst "verschwindet", zum Beispiel in den Schlaf, und wenn das eben nicht (mehr) funktioniert, weil es zum Beispiel nicht ausreichend ausgebildet wurde, dann hat man, harhar, ein Problem... Schlimmstensfalls nennt man das dann Psychose, aber diese Lösungsmöglichkeit ist mir verwehrt.

Ich bin ein ganz besonderer "Kranker": ein Gott gab mir zu sagen, was ich leide, ach (das ist, glaube ich, von Dipl.-Psych. John W. Goethe?): kriege ich 'n Bundesverdie..., sorry!

"Atzende Studenten" ist "...höchst, höchst, höchst spaßhaft!" (Bankier Kesselmeyer in den "Buddenbrooks")

"Wenn davon mal einer eine gute Frau findet, die ihm Verantwortung beibringt, wer weiß, welche Innovation er sich ausdenkt"... scheint mir nicht ganz zutreffend, vielmehr mich deucht, daß Frauen das "Energiefeld" schaffen, das Männern ermöglicht, "im Materiellen" zu wirken und zu schaffen (so weit meine bisherigen Forschungsergebnisse zum Thema, hä-ähümm!), was übrigens von unzähligen so genannten "großen Männern" bestätigt wurde und wird, die mehr oder weniger durchblicken ließen und lassen, daß sie ohne das Weibchen der Gattung nämlich nicht wirklich was Erstaunliches zustande gebracht hätten.

Im nächsten Leben wird frühzeitig ein, hihi, atzender Student

Mit vorzüglicher Zerknirschung

Der Webgeselle Graphodino

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