Frau Nettesheim
Hier sieht es ja aus wie bei Hempels unterm Sofa.
Trithemius
Kein Lebender hat je unter das Sofa von Hempels geguckt, Frau Nettesheim, also trifft mich ihre Bemerkung nicht.
Frau Nettesheim
Wollen Sie mir eine sophistische Diskussion aufzwingen? Ich meine das Chaos hier.
Trithemius
Ja, mir sind die Dinge ein wenig entglitten, weil ich anderweitig beschäftigt war. Wenn das Durcheinander nicht mehr mit 30 Handgriffen zu beseitigen ist, neige ich dazu, zu kapitulieren und es eine Weile zuzulassen, bis die mahnende Stimme mich zum Handeln veranlasst.
Frau Nettesheim
Dann ist ihre mahnende Stimme vermutlich heiser, weil sie seit Tagen auf taube Ohren stößt.
Trithemius
Hat sie sich deshalb Verstärkung durch Sie geholt, Frau Nettesheim?
Frau Nettesheim
Nein, das ist letztlich Ihre Sache. Meine Bemerkung war ein spontaner Ausruf des Schreckens. Wenn Sie sich in dem Durcheinander wohlfühlen …
Trithemius
Ich fühle mich nicht wohl darin. Und wenn ich auch noch nicht zur Tat geschritten bin, so mache ich mir seit gestern schon Gedanken darüber, was es damit auf sich hat und wie ich es am besten beseitige.
Frau Nettesheim
Und? Müssen Sie zuerst noch eine Zeichnung davon machen, bevor sie tätig werden?
Trithemius
Mich interessiert die Theorie des Unzulänglichen, Frau Nettesheim. Zum Unzulänglichen gehören verschiedene Erscheinungen, und sie alle unterliegen dem gleichen Prinzip, das ich zu Ihrer Erbauung „Hempel-Effekt“ nennen möchte. Gestern stand ich am Service-Point der Bahn in einer Warteschlange. Es ging und ging nicht voran, so dass die Schlange wuchs. Ja, einige gaben sogar entnervt das Warten auf und suchten das Weite. Ich hatte Zeit, die Damen an den Schaltern zu beobachten. Und dabei fiel mir auf, dass ihre Bewegungen sich umgekehrt proportional zum Anwachsen der Schlange verhielten. Je mehr potentielle Kunden sich in die Schlange einreihten, desto langsamer arbeiteten sie. Ja, eine der Frauen schien sogar in eine Art Starre zu verfallen, wie es die Kaninchen angeblich auch tun, wenn sie eine Schlange sehen.
Frau Nettesheim
Was hat das mit dem Chaos im Teppichhaus zu tun? Mir scheint, Ihr Versuch, den „Hempel-Effekt“ zu beschreiben, ist pures Vermeidungsverhalten.
Trithemius
Um Ihrer Unterstellung zu entgehen, will ich mich kurz fassen: Der Hempel-Effekt: Jeder Zustand des Unzulänglichen im menschlichen Dasein zieht dem jeweils Betroffenen Energie ab, und zwar mit dem Quadrat zur Belastung durch den als unzulänglich empfundenen Umstand. Wenn ein solcher Zustand nicht mehr mit 30 Handgriffen beseitigt werden kann, reicht die Energie des Menschen nur noch dazu, den augenblicklichen Zustand zu halten, nicht aber, ihn zu beseitigen.
Frau Nettesheim
Selten habe ich erlebt, dass einer sich auf so komplizierte Weise darum zu drücken versucht, in seinem Umfeld Ordnung zu machen. Jetzt brauche ich erst einmal einen Kaffee.
Trithemius
Leider ist keine Tasse mehr sauber, Frau Nettesheim.