Eventuell du selbst - Ausfahrt in fünf Etappen

BlattwerkZeit der Saatkrähen. Fett und selbstgewiss sonnen sie sich auf der Hangwiese, zwischen ihnen wartet ein Graureiher. Mal erhebt sich eine Krähe mit leichtem Flügelschlag und zieht die anderen mit. Sie segeln im Wind, landen auf Weidenpfählen, fliegen wie nach gemeinsamem Ratschluss wieder auf, lassen ihr aggressives Kräääh hören, landen und suchen mal schreitend, mal hüpfend nach Nahrung.

Da entfernt sich eine Krähe übermütig von der Gruppe und steigt hoch hinauf in den blauen Himmel. Plötzlich ist ein Baumfalke bei ihr. Ein hartnäckiger Luftkampf beginnt. Für eine Weile ist nicht auszumachen, wer Jäger, wer Gejagter ist. Offenbar hat sich der Falke vertan, denn gemeinhin vergreift er sich an kleineren Vögeln. Er ist schneller als die Krähe, doch sie ist kein ängstlich flatternder Star. Sie wehrt sich und entzieht sich immer wieder durch enge Kreise, so dass der Falke über sein Ziel hinausschießt. Mal ist er über, mal unter ihr – nur ein richtiger Fangstoß gelingt ihm nicht. Die Krähe ermüdet, umrundet eine kleine Baumgruppe und rettet sich auf einen Weidenpfahl. Ihr Widersacher zieht einen suchenden Kreis, dann schießt er hinab und scheucht seine Beute auf. Erneut steigen sie in den Himmel, umkreisen sich im Tanz auf Leben und Tod. Endlich besinnt sich der Falke, lässt von der widerspenstigen Beute ab und fliegt davon. Matt kehrt die Krähe in ihre Gruppe zurück. Sie wird hungrig sein und bald nach einem Happen Ausschau halten. Dann muss Fräulein Spitzmaus unter der schönsten Herbstsonne sterben.

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Mitten im Anstieg auf den Höhenrücken war ich vom Rad abgestiegen, aufmerksam geworden durch das Geschrei der beiden Vögel. Jetzt steige ich wieder in die Pedale – es geht mühsamer als zuvor. Dabei führt der Weg hier noch schräg den Hang entlang. Beim Radsporttraining fuhr ich einmal mit einer großen Gruppe in die Eifel. Plötzlich bogen die Vorderleute ab, und es ging steil hinauf. Ich schaltete zweimal kurz hintereinander, und nach dem zweiten Mal sagte einer hinter mir: „Dat wor dä Letzte!“ Für einen Augenblick sank mein Mut, denn ich hatte keine Ahnung, wie lang der Anstieg sein würde und ob er eventuell noch steiler zu werden beliebte. Solche Bemerkungen gehören zur Zermürbungstaktik. Man darf sich davon nicht beeindrucken lassen, sonst verkrampft man und sackt wie ein Stein durchs Fahrerfeld. Hier hilft ein Gedanke: Was dir selbst weh tut, tut auch anderen weh. Denn es ist nicht ausgemacht, ob der andere nicht blufft und sich auf deine Kosten zu stärken versucht.

Trotzdem ist es gut, einen Gang in Reserve zu halten, was ebenfalls eine allgemeine Lebenslehre ist. „Alles uit de kast“ - „Zijn duivels ontbinden“ - alles geben, was möglich ist, sollte man nur in Ausnahmesituationen. Bald wird der Weg zum Hang hin abbiegen, als hätten seine Baumeister keine Lust mehr gehabt, die Steigung zu mildern. Dann brauche ich den Letzten, und aus dem Sattel muss ich auch, um die kleinste Übersetzung drehen zu können. Zum Glück ist niemand hinter mir, der es höhnisch trocken quittiert.

Zeit übers Rauchen zu fluchen, aber meine schlechte Kondition hat auch etwas mit den bequemen Wegen der letzten Wochen zu tun. Über den steilen Weg nur Gutes, denn mit seiner Hilfe habe ich mich aus dem lauten Talgrund der Maastrichter Laan erhoben, und schon auf halber Höhe gewährt er einen weiten Blick übers Tal und auf die dunstige Hügelkette am Horizont. Weiter oben verschwindet der Weg in einem Einschnitt, und dort werfen Bäume und Büsche seltsame Schattenmuster, in die sich aus der Ferne allerhand hineinsehen lässt. Die blitzende Herbstsonne gaukelt mir tagträumerisch einen Schattenmann vor, der oben im Hohlweg einen schwarzen Hund an der Leine führt.

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Bekanntlich symbolisiert ein geträumter Hund die menschlichen Triebe; diesen Hund gelegentlich an die Leine zu legen, das macht den kultivierten Menschen aus. Indem ich mich zwinge, den Anstieg zu nehmen aus purem Übermut und ohne äußeren Grund, habe ich mich selbst an der Leine. Und ist der Weg auch steil, es ist stets angenehmer, sich selbst anzutreiben als sich dem Zwang eines Stärkeren zu unterwerfen.

Mann und Hund lösen sich im Herannahen auf, sind harte Schatten im Hohlweg, und das Gesicht des Mannes ist nur trockenes Blattwerk. Steinchen und Blätter knistern unter den Reifen, noch zwanzig Tritte und ich habe das steilste Stück hinter mir. Diese Wegstrecke ist wie eine symbolische Ypsilonabzweigung. Der linke Ast des Ypsilons ist weiterhin asphaltiert und bequem zu fahren. Der rechte bleibt steil. Er ist nur eine Karrenspur im Gras, von einem Maisfeld gesäumt. Mehrfach schon war ich versucht, ihn zu fahren, und für einen Augenblick halte ich auf ihn zu. Doch dann ertönt vom Feld oben der aufbrausende Motor eines Traktors. Zu blöd, denke ich, dass einem auf dem rechten Weg neuerdings Traktoren entgegenkommen, so dass man unter die Räder zu kommen droht, weil die Böschung keinen Platz zum Ausweichen bietet.

Der linke Weg führt an einer längst abgeernteten Apfelplantage vorbei, dann stößt er im spitzen Winkel auf die Straße. Ich biege um die Ecke nach Osten ab. Einige Kilometer geht es jetzt durch die Felder über einen Höhenkamm. Leider rollt es nicht, ein kalter Wind aus Ost bremst die Fahrt. Es wird immer schwieriger, den rechten Weg zu finden. Die Sachverhalte werden stetig wirrer. Seit Tagen schwirrt mir der Kopf – zu viele Informationen aus zweiter Hand, allgemeines Hörensagen, nur selten eigene Anschauung, wie soll man da den Durchblick bewahren. Was alltäglich vom medialen Affenfelsen gerufen, getutet und geblasen wird, diese nervtötende Kakophonie ist kein getreuliches Abbild des Lebens, sondern im hohen Maße selbstbezüglicher Medienrummel. In unserer Welt vollzieht sich ein gewaltiger Umbruch, und das meiste geschieht im Verborgenen, ist schwer zu erhellen und einzuschätzen. Da ist es auch für ehemals seriöse Journalisten bequemer, irrelevante Nachrichten über eine durchgeknallte Ex-Tagesschausprecherin zu verbreiten. Dabei kann sich doch jeder denken, dass eine Frau, die früher alles vom Blatt abgelesen hat, mit eigenen Gedanken überfordert ist.

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Genug davon und
kein Wort mehr darüber. Es ist ein Kreuz, dass die Aufnahmekapazität des postmodernen Menschen beständig zugekleistert wird mit Schwachsinn und Berichten über die Produzenten von Schwachsinn. Ein Hinweisschild am Straßenrand zeigt eine Telefonnummer. Wer mutwillige Milieuvervuiling (Umweltverschmutzung) beobachtet, kann dort anrufen. Auf den ersten Blick ist’s eine gute Idee. Allerdings ist der Denunziant keine erfreuliche Erscheinung. Jedermann sein eigner Polizist, nicht der seines Nachbarn. Wenn wir wollen, dass unsere von Informationen und Daten geprägte Gesellschaft lebenswert bleibt, müssen wir neue Regeln des Zusammenlebens finden. Die umfassende Kontrolle durch den Staat wird das Leben nur härter machen, denn Überwachung ist ein Produkt der moralischen Verkommenheit. Die Deppen mit dem Ohr an der Tür des Nachbarn sind nur asozial, eine Staatsmacht, die ihre Bürger aushorchen will, ist antisozial.

Wir alle sind Opfer der Überwachung durch Wirtschaft und Staat. Doch einige Untaten verüben wir an uns selbst. Leichtfertig tragen wir private Dinge in die Öffentlichkeit. Bequemlichkeit oder Technikverliebtheit verstellt uns den Blick auf die Folgen für das eigene Leben und die Gesellschaft. Vor etwa zehn Jahren sah ich in der Stadt einen jungen Mann, der an einem Hemdenständer drehte und dabei jemanden per Handy befragte: „Verdammte Scheiße, wie soll ich denn wissen, welche Farbe dir gefällt!“, schimpfte er. Ich war verwundert, dass da jemand seinen privaten Kram so ungeschminkt in die Öffentlichkeit trug. Inzwischen zählt diese Form der Geistesverwirrung zum Normalverhalten.

Nicht nur
Banales, auch was früher verschämt unters Sofa geschoben wurde, das liegt im Scheinwerferlicht, wird abgefilmt und über diverse Kanäle der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Welt scheint oktoberbunt, doch im künstlichen Licht der Scheinwerfer wirft ein jeder von uns einen stetig größer werdenden Datenschatten. Er bildet verschiedene Facetten unserer Leben ab, und durch die Vernetzung der Facetten entstehen digitale Schattenmenschen.

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Zu-hohe-Spannung

Entschuldigung, war nicht so gemeint, so unter der hellen Oktobersonne - die äußeren Umstände ließen mich in schwere Gedanken geraten. Gegen den kalten Ostwind an, da rollt es einfach nicht. Bin auch, wie gesagt, ein wenig aus der Übung. Doch wenn der Geist überspannt ist, hilft die Anspannung der Muskeln. Da ist immer noch jemand stärker als du - eventuell du selbst.

Guten Abend
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