Herumfliegende Worte

Ein schöner Tag, vorausgesetzt, man guckt nicht in die Zeitung. Wo ich heute herumlief, war es jedenfalls erbaulich. Ich kannte einmal eine Frau, die beim Stadtbummel nicht ansprechbar war, sobald sie irgendwo in der Nähe ein paar Gesprächsfetzen erhaschte. Meist bleib sie dann stehen und tat so, als müsse sie an Ort und Stelle irgendwas Wichtiges tun, um in Wahrheit noch mehr vom Gespräch zu erlauschen. Heute habe ich kurz hintereinander drei Gesprächsfetzen aufgefangen. Danach war ich in Sorge, einen Bekannten zu treffen oder etwas Ungewöhnliches zu sehen, - dann würden die Gesprächfetzen unweigerlich im Orkus des Vergessens versacken. Diese Sorge zwang mich, die Zitate im Stehen zu notieren und ich vermisste dabei eine Unterlage. Es wäre prima, wenn in den Innenstädten hier und dort Stehpulte angebracht wären. Ein solches Stadtmöbel fehlt.

Ich hätte natürlich in ein Cafe gehen können, doch ich hatte mir vorgenommen, zuerst die Schaufensterfensterpuppe einer Apotheke zu fotografieren. Sie war nämlich im Dezember ein Engel, und jetzt ist sie kein Engel mehr, sondern hat einen Knieverband. Bin gespannt, ob und wie die Metamorphose fortschreitet. Eigentlich müsste Figur derzeit eine rote Pappnase haben. Nach Karneval steht die Osterzeit an, dann wäre die Puppe als Bunny ganz hübsch und könnte für Potenzmittel oder Kondome werben.
Engel-mit-Knieverband

Vom Thema abgekommen. Meinen liebsten Gesprächsfetzen hörte ich einmal auf der Kölner Domplatte. Ein junger Mann sagte zu einem alten: "Reg dich nicht auf, Onkel Franz, ich mach das schon." Aus irgendeinem Grund ist dieser Satz für mich wie Poesie. Heute fing ich den ersten Gesprächsfetzen am Aachener Markt auf. Vor dem Lokal Postwagen, gleich neben dem Standesamt, hatte sich eine staatsgemachte Hochzeitsgesellschaft versammelt. Ein Mitvierziger sprach auf zwei Frauen und einen Mann ein, zeigte einer imaginären Person mit heftiger Geste einen Vogel, beugte sich vor und sagte empört: „… und feiert da Silvester!“ Warf sich in die Brust und fuhr fort: „ Ja gut, Okay, dat issss ….. „
Die Worte, der Mann, man hätte die Rolle nicht besser besetzen können. Vielleicht ging es erneut um die ominöse Nicole? Jedenfalls dachte ich mir, egal, um wen es geht, man sollte als Außenstehender nie so heftig urteilen. Man ist dann grundsätzlich im Irrtum.

Später überholte ich ein
älteres Ehepaar, und er sagte: „ … ja, isch hab an und für sisch … " - Diese Wendung hatte ich schon lange nicht mehr gehört. Sie gehört einem Soziolekt des Nichtssagenden an, kann ohne Informationsverlust gestrichen werden, hat aber etwas Kommunikatives. Die Wendung ist nur zu gebrauchen, wo es nötig oder erlaubt ist, sich sprachlich auszubreiten. Da braucht man als Zuhörer Zeit. Nur wer Zeit hat, kann sich so unterhalten.

Im Cafe sprach eine alte
Dame mit einer Kellnerin, die ihr mit den Krücken half. „Ne, ne, dat jehört sich nicht!“, sagte sie immer wieder. Was genau sich nicht gehörte, konnte ich nicht herausfinden. „Das gehört sich nicht“, wird sowieso mit den derzeit Alten aussterben. Die nachfolgenden Generationen haben nämlich sehr divergierende Ansichten darüber, was sich wie gehört. „Das gehört sich nicht“ gehört in eine Welt des Anstands. Diese Welt ist dabei, im Orkus des Vergessens zu verschwinden.


Guten Abend
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