Kopfkino - Nachteile eines Haufenkriechers

Heute Morgen habe ich unter der Dusche einen träumerischen Spaziergang gemacht wie durch einen warmen Frühlingsregen. Ich überwand dabei mühelos Zeit und Raum. Irgendwann erwachte ich, und als ich die Augen öffnete, war ich ganz erstaunt, mich in meiner Duschkabine wieder zu finden. Rasiert habe ich mich nicht, denn wenn ich mich morgens rasiere und abends noch wohin will, muss ich mich zweimal rasieren. So werde ich den Tag über unrasiert herumlaufen, was einen gewissen Nachteil hat. Wenn ich nicht rasiert bin, sehe ich aus wie ein Bärremkrüffer, und die Leute fürchten sich ein bisschen vor mir.

Bärremkrüffer ist ein Wort aus meiner Kindheit, es ist Nettesheimer Platt, (eine Form des Ripuarischen, nahe verwandt mit Kölsch Platt), und bedeutet „Haufenkriecher“. Ein Bärrem ist ein Strohballenstapel, ein haushoher Quader auf einem Stoppelfeld. Als Kinder haben meine Freunde und ich gerne am Bärrem gespielt, bis der Bauer mit seinem Traktor übers Feld herankam und uns verjagt hat. Wir sind hochgeklettert und runtergesprungen oder haben Strohballen aus dem Bärrem herausgezogen und uns darin eine Höhle gebaut, in der Hoffnung, es würde regnen und wir könnten gemütlich drinnen sitzen. Manchmal bauten wir auch ausgedehnte Labyrinthe. Dann lockten wir Mädchen herbei und forderten sie auf, durch das Labyrinth zu kriechen. Damit sie sich in der absoluten Finsternis erschreckten, hatten wir an verschiedenen Stellen Kohlblätter ausgelegt. Die fühlten sich dann feucht und unheimlich an.

Einmal entdeckten wir weit draußen im Feld eine fertige Höhle im Bärrem. Die war eingerichtet wie eine Wohnung, hatte eine Schlafstelle mit Decken, da waren Kochgeschirr, Kleider, alte Zeitschriften und diverses Kleinzeug, was man halt zum täglichen Leben braucht. Wir stöberten ein wenig herum, fanden eine runde Dose mit Veilchenpastillen und klauten uns welche. Später sagte meine Mutter, die Wohnung habe sich ein Bärremkrüffer gebaut. Das ist ein Landstreicher, der für eine gewisse Zeit in einem Bärrem lebt.

Schriftkartei

Vorgestern hatte ich mich morgens auch nicht rasiert und fuhr am späteren Nachmittag ein bisschen mit dem Rad herum. Plötzlich fiel mir ein, dass ich mir eigentlich in der Leibnizbibliothek einen Vortrag anhören wollte, wusste aber die Uhrzeit nicht mehr. Außerdem wollte ich nicht wie ein Bärremkrüffer in der Leibnizbibliothek sitzen. Also fuhr ich wieder nach Hause, suchte die Programmankündigung hervor, und siehe da, die Veranstaltung würde in genau zwei Minuten beginnen, nämlich um 17 Uhr. Das war nicht mehr zu schaffen, selbst wenn ich sofort aufgebrochen wäre, ohne mich zu rasieren. Verpasst habe ich die Lesung von Dr. Olaf Thomsen, Berlin: Buchskorpione, Leseratten, Nackenbeißer. Zur Geschichte der Schrift, des Buches und des Lesens.

Kleine Pause, ich muss Wäsche aufhängen und mal kurz weg.

Weiter: Jean Pauls vergnügtes Schulmeisterlein Maria Wutz zu Auenthal war sein Lebtag so bettelarm, dass er sich keine Bücher leisten konnte. Darum besorgte er sich den Leipziger "Meßkatalog" und schrieb sich die Bücher selbst, unter anderem auch Kants „Kritik der reinen Vernunft“.

Ich wäre zwar nicht zu arm gewesen, mir den Vortrag von Dr. Olaf Thomsen aus Berlin zu leisten, aber aus den oben geschilderten Gründen muss ich mir jetzt die Geschichte der Schrift, des Buches und des Lesens selber schreiben. Sie befindet sich aber schon in der oben abgebildeten Schublade. Diese vorwärts wie rückwärts beschriebenen Karteikarten enthalten nämlich die Ergebnisse meiner Studien von etwa zehn Jahren. Dazu bin ich durch einen ziemlich großen Bücherhaufen gekrochen, tauchte oftmals blankrasiert ein und kam bärtig wieder raus. Gerne hätte ich allerdings erfahren und dem geneigten Leser mitgeteilt, wie Dr. Olaf Thomsen es angestellt hat, etwa 3000 Jahre Schriftgeschichte und über 500 Jahre Buchproduktion und -rezeption in höchstens zwei Stunden zu packen und nebenher noch zu erklären, was Buchskorpione, Leseratten und Nackenbeißer sind. Das könnte ich nicht, wie hier und hier zu sehen, wo nur ein Geringes schon zusammengetragen ist. Die Kunst liegt eben im Weglassen, und daher ist es wohl gut, dass ich schon mal den Vortrag von Dr. Olaf Thomsen weggelassen habe.
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