Rock Werchter - Ein Junge wird verrückt gemacht

Alljährlich zwischen Ende Juni und Anfang Juli findet in dem kleinen flämischen Ort Werchter ein mehrtägiges Rockkonzert statt, zu dem sich rund 100.000 Besucher einfinden. Beim diesjährigen Rock Werchter trat auch die Indie-Rockband Editors auf. Unter anderem sang der Frontmann der Band, Tom Smith, ein Mann mit hinreißend schöner Bariton-Stimme, solo den Song: No Sound But The Wind.

Im Mitschnitt dieses Auftritts kommt bei 1:45 ein Junge ins Bild, der mit geschlossenen Augen mitsingt. Bei 2:08 erfasst ihn die Kamera wieder. Er scheint den Song hingebungsvoll zu beten. 2:48 - Erneuter Schnitt auf den Jungen. Der Gesang lässt ihn mitschwingen und seine Umgebung vergessen. Da gibt es nur den Sänger auf der Bühne und ihn, mit dem er eins zu werden scheint. 3:09 - Jetzt hat der junge Mann offenbar realisiert, dass er von der Kamera erfasst wurde und sein Bild auf mehreren Großbildschirmen erscheint. Er senkt einmal den Kopf, und dann irrt sein Blick erfreut Richtung Kamera. Er ist offenbar überwältigt, steckt vor Schreck den Finger in den Mund. Bei 3:30 wirft er sich in Pose, singt jetzt mit ausgestrecktem Arm und vergewissert sich seiner, indem er wieder nach rechts in die Kamera lugt. 3:31 - Die Menge jubelt ihm zu, er schließt die Augen und fasst sich auf den Kopf, ist überglücklich, derart im Rampenlicht zu stehen, ja, für einen Moment dem Sänger die Show zu stehlen. 3:33 - Schnitt auf Tom Smith. Er lächelt, weil er offenbar mitbekommen hat, was die Menge so begeistert. 3:45 – Das Lied klingt aus, Schnitt auf den Jungen, der jetzt mit hochgereckten Armen applaudiert und danach erneut glücklich zur Kamera schielt.




Kameraleute und Regisseure suchen nach solchen Bildern, denn unverfälschte Gefühle können eindrucksvoller sein als professionelle Darbietungen auf der Medienbühne, die ja vom Kalkül und der ausgefeilten Inszenierung geprägt sind. Demgemäß haben die Massenmedien längst alle Hemmungen abgelegt, wenn es darum geht, solche Augenblicke ans Licht zu zerren und aufzusaugen. Dabei werden diese Augenblicke ihrer Eigentlichkeit beraubt, werden ihrerseits zu medialen Inszenierungen und damit verfälscht.

Wie die Massenmedien solche Ereignisse ausschlachten, ist im zweiten Video zu sehen. Auf Canvas, einem Fernsehprogramm des Flämischen Rundfunks VRT, wurde ein Zusammenschnitt der Szenen gezeigt, ergänzt um weitere Kameraeinstellungen. Dieser Mitschnitt hat bei YouTube inzwischen über 241.000 Aufrufe.



Mediale Aufmerksamkeit ist die Droge unserer Tage, und Medienmacher sind die Dealer. Dealer machen sich um die Auswirkungen ihres Drogenhandels keine Gedanken, wie auch die beiden TV-Moderatoren von Canvas beweisen. Sie finden es nur "schön" und "super", dass ein Fan so mit der Musik mitgeht, wobei sie geflissentlich unterschlagen, dass die Kameraaufmerksamkeit das Ausflippen des Jungen erst provoziert hat, zu sehen ab 1:40. Die Massenmedien verabreichen ihre Droge selbst jungen und ungefestigten Menschen, zerren sie in Castingshows oder holen sie aus der Menge. Wie mag der Junge mit dieser urplötzlichen Popularität umgehen? Kann er sich einfach wieder einer vernünftigen Ausbildung und Zukunftsplanung widmen? Und wie wirken solche Medienereignisse auf andere Jugendliche?

Das erinnert mich an eine griechische Sage: Einem Bauern fällt die einzige Hacke in den Fluss, und er sieht seinen Lebensunterhalt bedroht. Da fleht er die Götter an, ihm zu helfen, und jammert dabei so laut, dass die Götter es nicht mehr ertragen können, worauf sie dem Bauern eine goldene Hacke vom Himmel werfen. Da werfen auch andere Bauern ihre Hacken in den Fluss und beginnen ebenfalls zu jammern. Aber soviel Mitleid haben die Götter dann doch nicht und vermutlich auch nicht so viele goldene Hacken.

Einem Bauer haben die Götter vielleicht geholfen, die anderen aber ins Elend gestürzt. Und es ist auch hier zu fragen, ob eine goldene Hacke überhaupt dazu taugt, den Acker ordentlich zu bearbeiten.

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