Fragen Sie den Pförtner

Eine Sekunde der Ewigkeit
Jacob und Wilhelm Grimm; Das Hirtenbüblein
Suchbild: Trithemius 05/07
Drei Jahre war Hauptlehrer Schmidt mein Lehrer, doch auch schon in den unteren Klassen hatte ich diesen Mann mehr gefürchtet als geachtet. Während jeder Pause stand er seitlich auf der Eingangstreppe auf einem flachen Sockel aus Ziegelsteinen, in den das Geländer eingelassen war. Von dort überwachte er das Treiben auf dem Schulhof. Im Laufe der Jahrzehnte hatte er in den Sockel eine kleine Mulde getreten.

Der Maurer, der den Sockel einst aus Ziegeln hochgezogen hatte, konnte am Abend seine Arbeitsleistung sehen, ein Lehrer kann das nicht. Er sieht seine Schüler mit den Jahren heranwachsen, kennt ihren Lernstand, soweit er sich messen lässt, und trotzdem ist es für ihn unwägbar, wie sich sein Unterricht auf den einzelnen Schüler auswirkt oder was sich gar in dessen Erinnerung eingräbt. Ich jedenfalls vergesse von Hauptlehrer Schmidt niemals die eindrucksvolle Mulde, die er während der Pausen unmerklich getreten hatte. Sie ist aus meiner Sicht seine beste Leistung, denn die Mulde gab mir eine Idee vom Wirken der Zeit, dem auch fest gefügte Backsteine nicht zu trotzen vermögen, wenn nur ein paar ungeduldige Ledersohlen beständig auf ihm scharren.

Wenn der Blaustein der Eifel verwittert, wird er hellgrau. Die Treppenstufe des Hauses Nr. 3 in einer Aachener Straße ist gewiss einige hundert Jahre alt und glänzt in ihrer Mitte trotzdem wie poliert in mattem Blau. Viele Füße haben diese Schwelle ausgetreten, haben sie ausgeschliffen und wundersam verformt. Wem gehörten die Füße? Wer waren diese Menschen, und welche Schicksale führten sie hinein und hinaus? Die Geschichte jedes einzelnen ist verweht wie das Stäubchen, das der Fuß von der Stufe nahm.

Der Pförtner des Hauses Nr. 3 könnte vielleicht Auskunft geben. Doch dazu müsste man ihn zuerst einmal finden.

Pataphysisches Seminar
1958 mal gelesen
immekeppel - 22. Mai, 17:07

er zeigt sich zwar, der pförtner, aber leider spricht er nicht zu mir....

beim lesen fiel mir übrigens ganz spontan der geldautomat unserer dorfsparkasse ein - dort sind bestimmte tasten auch stärker abgenutzt als andere, was auf die häufigkeitsverteilung bestimmter ziffern schließen lässt.

Trithemius - 22. Mai, 23:31

Er spricht nicht? Dann müssen wir die Geschichten selbst erzählen.

Die Abnutzung der Tasten beim Geldautomaten habe ich noch nie bewusst wahrgenommen. Danke für den Tipp.
Juleika (Gast) - 27. Mai, 18:31

Die eindrucksvolle

Mulde die Hauptlehrer Schmidt getreten hat, erinnert mich an Beharrlichkeit.
In meiner Küche liegt ein unscheinbarer, ziemlich unförmiger Stein. Den habe ich mal unter einer Viehtraufe auf einen Bauernhof gefunden. Er beschwert meine Zettelwirtschaft :-)
In der Oberfläche dieses Steins befindet sich auch eine Mulde, über Jahre geschaffen von Abertausenden von Wassertropfen.
Das ist für mich ein handfester Beweis von Beharrlichkeit und das Selbige sich lohnt wenn ich etwas zu schnell aufgeben will, und enttäuscht bin weil mir meine Kräfte zu schwach und meine Mittel zu gering erscheinen.

Lieben Gruß nach Aachen,
Juleika

Trithemius - 27. Mai, 21:28

Danke, meine Liebe, ein schöner Bericht aus deinem Alltag. Ich will mir die symbolische Bedeutung merken. Denn das Gefühl kenne ich auch.

Herzliche Grüße aus Aachen
Dein Jules

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*** sha-mash *** - 21. Mai, 22:52

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