Jeremias Coster entwirrt die Welt und verknuddelt sie wieder

was-die-Flamme-zusammenhältErstaunlich sei die innere Logik von Lebenswegen, sagte Coster. Leben sei doch eigentlich ein Durcheinander von Absichten, ein Chaos von Handlungen, Worten und Gefühlen, so dass jede Voraussage eine wilde Spekulation wäre. Schaue man sich jedoch eine Entwicklung rückblickend an, müsse man fast immer sagen: Es ist plausibel. Plausibilität sei die wichtigste Ordnungsregel im Chaos des Lebens.

"Sie meinen, es ist plausibel, dass wir beide uns heute am Münsterplatz getroffen haben“, fragte ich.
„Das nicht“, sagte Coster. „Doch dass wir in der Folge des zufälligen Zusammentreffens im Cafe sitzen und … „
„Vrouwen kijken?“
„… und uns dem Müßiggang hingeben, - das ist plausibel. Denk dir mal das Leben als ein gewaltiges Chaos, stelle dir die Kreuzungen und Verwirrungen der Lebenswege räumlich vor wie Schnüre, die sich verwickeln, verknäueln und aber auch durchdringen können. Wie können sich da Ordnungen entwickeln, die für das Leben nötig sind?“
Ich zeige mit dem Kinn zum Dom hinüber und sage: „Die dort drüben glauben an die ordnende Kraft eines Gottes.“
„Ja, das Naive im Menschen verlangt nach Bildern. Sie erleichtern enorm das Verständnis. Deshalb sprechen wir ja auch über ein Bild, die Chaoswelt. Also sag, wie können sich die wirren Strukturen des Lebens zu Ordnungen fügen?“
„Indem sich Ähnliches zu Ähnlichem gesellt, weil’s plausibel ist?“
„Stell dir vor, dass auch in einem völligen Chaos gelegentlich zufällige Ordnungen entstehen müssen. Du sprichst von Ähnlichkeit. So mag es sein. Wie sich zwei Wassertropfen zusammenziehen, wenn du sie dicht beieinander träufelst, so ziehen sie sich an. Wäre es so, dann hätten diese zufällig entstehenden Ordnungen die Tendenz, sich zu erweitern. Sie beziehen Elemente aus den Randbereichen ein und verbauen sie in bestehende Kontexte."
"Ach so. Und warum ordnet sich dann die Welt nicht, sondern verfällt in ihren Randbereichen immer wieder aufs Neue? Guck dir die heutige Welt an. Man kann doch nicht ernsthaft behaupten, sie sei geordneter als vor einem Jahrhundert."
"Die Erweiterung einer Ordnungsstruktur schreitet niemals fort, bis alles geordnet ist. Das wäre ein paradiesischer Zustand. Doch den wird es nicht geben, nicht in einem Einzelleben, nicht in der gesamten Menschheit, weil …" Coster stutze.
„Weil?“
„Ich zuerst noch einen Kaffee brauche“, sagte Coster, indem er sich nach der Kellnerin umsah, die ihm augenscheinlich so sehr gefiel, dass er in Gedanken versank. Dann aber beobachteten wir beide, wie sie mit dem Kellner eine vertraute Geste austauschte, genauer, er legte ihr flüchtig die Hand auf die Hüfte.

Coster rührte in seiner leeren Kaffetasse. „Da siehst du, warum sich Ordnungen nicht beliebig erweitern können. Sie treffen irgendwann auf andere Ordnungssysteme, die sich nicht einverleiben können, weil sie zu groß sind. Das kann zu zeitweiligem Stillstand, Reibungsverlusten, zu einer langsamen Erosion und sogar zu Zerstörungen in den Randbereichen führen.“
„Auf Deutsch: Du hast Interesse an der Kellnerin, doch der Kellner hat ältere Rechte. Also kannst du deine Ordnungsstruktur nicht um die Erfahrung mit der Kellnerin erweitern.“
„Es sei denn, es würde mich gewaltig hinziehen, weil die Ähnlichkeiten zu groß sind, dann käme es…“
„ … zu Reibungsverlusten, und Sie würden den Verstand verlieren, Coster. Chaos im Kopp.“

Er sah mich prüfend an. Dann sagte er: „Das musst du einmal erlebt haben.“
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