Reich durch Handtaschen und trotzdem nackt
von Trithemius - 12. Aug, 20:02
Die Georgstraße in Hannover ist eine belebte Fußgängerzone zwischen Kröpcke und Steintor. Sie ist sehr breit, hat in der Mitte noch Platz für eine als Allee angelegte Fahrradstraße. Vom Kröpcke bis zum Steintor verändert die Georgstraße ihren Charakter. Das liegt an den Läden. Gegen Ende der Georgstraße verkauft man mehr Ramschware. Entsprechend sortiert sich das Publikum.
Es ist ungefähr fünf Uhr, da sitze ich eine Weile auf einer der weißen Bänke, die entlang der breiten Fahrradstraße aufgestellt sind. Um diese Zeit dürfen hier keine Radfahrer fahren, hätten aber auch keinen Platz zwischen den vielen Menschen. Hinter mir ist das Gebäude von Karstadt. Es hat eine Arkade, und darunter sind große Grabbeltische aufgestellt, übervoll mit Taschen und Geldbörsen. Eine Vertreterin rennt dazwischen auf und ab wie eine aufgescheuchte Ballerina und redet reißerisch in ihr Mikrophon: „Preise wie zu DM-Zeiten, meine Damen! Sie zahlen nur die Hälfte des angegebenen Preises. Und jetzt geht’s los. In den nächsten 20 Minuten bekommen Sie an die Kasse noch mal 20 Prozent von dieser Hälfte! Wenn die Tasche 60 Euro kostet, zahlen Sie die Hälfte, also 30 Euro. Und davon gehen an der Kasse noch einmal 20 Prozent ab! Sie zahlen nur 24 Euro!“
Das klingt besser als 60 Prozent Preisnachlass, ist werbewirksamer und anschaulicher. Man bekommt nicht einen Preisnachlass auf die Tasche, sondern zwei. Da will ich mir glatt eine schöne große Damenhandtasche kaufen, wenn mir quasi noch 36 Euro obendrauf geschenkt werden. Ich weiß aber nicht, wie viel Zeit schon vorbei ist von den 20 Minuten. Am Ende komme ich mit meiner aus den Tiefen der Grabbeltische erbeuteten Damenhandtasche zur Kasse, und da guckt die Kassiererin ostentativ auf ihre Uhr und sagt: Eine Minute drüber, die 20 Prozent auf die Hälfte können wir Ihnen leider nicht schenken.“ Das, stelle ich bald fest, ist eine überflüssige Befürchtung, denn die Frau mit dem Mikrophon kommt alle 10 Minuten und ruft 20 Minuten aus. Sie gehen also von morgens bis abends, ja, sind sogar eine Verdoppelung der Zeit. Und du sagst doch immer: „Zeit ist Geld!“
Ich wurde also reich, als ich mit dem Rücken zum Karstadt-Gebäude saß. Habe nichts ausgeben, und dann hat mir die Vertreterin noch 40 Minuten geschenkt, davon die Hälfte und noch mal 20 Prozent Abzug. Weil dadurch aber mein Zeitkontinuum ein wenig durcheinander geriet, bin ich jetzt vom Thema abgekommen... ach so: In der Minute gingen Hunderte an mir vorbei oder querten die Straße von einem Geschäft ins andere. Es ist unfassbar, welche Spielarten der Natur es gibt. Und alle hatten ja am Morgen ihre Kleidungsstücke aus dem Schrank genommen und sich damit bedeckt. Es gibt Moden, aber auch Vielfalt. Aber für einen Augenblick hatte ich die Vision, alle Kleidungsstücke, die in Ostasien gefertigt wurden, wären plötzlich verschwunden. Dann wären die Tausende, die ich in den 40 Minuten sah, allesamt nackt gewesen. Und die Taschen wären natürlich auch weg. Bekleidet hingegen wäre man vielleicht noch auf dem Teilstück der Georgstraße, jenseits vom Kröpcke, wo die feineren Geschäfte locken. Zumindest hätte der eine oder andere noch ein Trigema-Hemdchen an.
Mehr: Ethnologie des Alltags
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Es ist ungefähr fünf Uhr, da sitze ich eine Weile auf einer der weißen Bänke, die entlang der breiten Fahrradstraße aufgestellt sind. Um diese Zeit dürfen hier keine Radfahrer fahren, hätten aber auch keinen Platz zwischen den vielen Menschen. Hinter mir ist das Gebäude von Karstadt. Es hat eine Arkade, und darunter sind große Grabbeltische aufgestellt, übervoll mit Taschen und Geldbörsen. Eine Vertreterin rennt dazwischen auf und ab wie eine aufgescheuchte Ballerina und redet reißerisch in ihr Mikrophon: „Preise wie zu DM-Zeiten, meine Damen! Sie zahlen nur die Hälfte des angegebenen Preises. Und jetzt geht’s los. In den nächsten 20 Minuten bekommen Sie an die Kasse noch mal 20 Prozent von dieser Hälfte! Wenn die Tasche 60 Euro kostet, zahlen Sie die Hälfte, also 30 Euro. Und davon gehen an der Kasse noch einmal 20 Prozent ab! Sie zahlen nur 24 Euro!“
Das klingt besser als 60 Prozent Preisnachlass, ist werbewirksamer und anschaulicher. Man bekommt nicht einen Preisnachlass auf die Tasche, sondern zwei. Da will ich mir glatt eine schöne große Damenhandtasche kaufen, wenn mir quasi noch 36 Euro obendrauf geschenkt werden. Ich weiß aber nicht, wie viel Zeit schon vorbei ist von den 20 Minuten. Am Ende komme ich mit meiner aus den Tiefen der Grabbeltische erbeuteten Damenhandtasche zur Kasse, und da guckt die Kassiererin ostentativ auf ihre Uhr und sagt: Eine Minute drüber, die 20 Prozent auf die Hälfte können wir Ihnen leider nicht schenken.“ Das, stelle ich bald fest, ist eine überflüssige Befürchtung, denn die Frau mit dem Mikrophon kommt alle 10 Minuten und ruft 20 Minuten aus. Sie gehen also von morgens bis abends, ja, sind sogar eine Verdoppelung der Zeit. Und du sagst doch immer: „Zeit ist Geld!“
Ich wurde also reich, als ich mit dem Rücken zum Karstadt-Gebäude saß. Habe nichts ausgeben, und dann hat mir die Vertreterin noch 40 Minuten geschenkt, davon die Hälfte und noch mal 20 Prozent Abzug. Weil dadurch aber mein Zeitkontinuum ein wenig durcheinander geriet, bin ich jetzt vom Thema abgekommen... ach so: In der Minute gingen Hunderte an mir vorbei oder querten die Straße von einem Geschäft ins andere. Es ist unfassbar, welche Spielarten der Natur es gibt. Und alle hatten ja am Morgen ihre Kleidungsstücke aus dem Schrank genommen und sich damit bedeckt. Es gibt Moden, aber auch Vielfalt. Aber für einen Augenblick hatte ich die Vision, alle Kleidungsstücke, die in Ostasien gefertigt wurden, wären plötzlich verschwunden. Dann wären die Tausende, die ich in den 40 Minuten sah, allesamt nackt gewesen. Und die Taschen wären natürlich auch weg. Bekleidet hingegen wäre man vielleicht noch auf dem Teilstück der Georgstraße, jenseits vom Kröpcke, wo die feineren Geschäfte locken. Zumindest hätte der eine oder andere noch ein Trigema-Hemdchen an.
Mehr: Ethnologie des Alltags
Aus Ihnen wird nochmal ein zweiter Loriot, aber ach,
was sag ich denn - Heinz Erhardt!
Was das Ding mit der Zeitersparnis bzw. -vermehrung betrifft, sind Sie
mit den Grundlagen der Zeitdilatation vertraut?
Sie wissen schon, das Relativitätsding von Einstein?
Natürlich sind Sie das - vielleicht vorwiegend intuitiv, aber: Sie sind es!
Was Ihre Frage betrifft, möchte ich beinah auf den vorletzten Satz des Schwammtextes verwiesen. Man muss nicht Versicherungsmathematiker sein, um die Zeit in jede beliebige Richtung sich dehnen und schrumpfen zu sehen. Also intuitiv.