Reich durch Handtaschen und trotzdem nackt

Die Georgstraße in Hannover ist eine belebte Fußgängerzone zwischen Kröpcke und Steintor. Sie ist sehr breit, hat in der Mitte noch Platz für eine als Allee angelegte Fahrradstraße. Vom Kröpcke bis zum Steintor verändert die Georgstraße ihren Charakter. Das liegt an den Läden. Gegen Ende der Georgstraße verkauft man mehr Ramschware. Entsprechend sortiert sich das Publikum.

Es ist ungefähr fünf Uhr, da sitze ich eine Weile auf einer der weißen Bänke, die entlang der breiten Fahrradstraße aufgestellt sind. Um diese Zeit dürfen hier keine Radfahrer fahren, hätten aber auch keinen Platz zwischen den vielen Menschen. Hinter mir ist das Gebäude von Karstadt. Es hat eine Arkade, und darunter sind große Grabbeltische aufgestellt, übervoll mit Taschen und Geldbörsen. Eine Vertreterin rennt dazwischen auf und ab wie eine aufgescheuchte Ballerina und redet reißerisch in ihr Mikrophon: „Preise wie zu DM-Zeiten, meine Damen! Sie zahlen nur die Hälfte des angegebenen Preises. Und jetzt geht’s los. In den nächsten 20 Minuten bekommen Sie an die Kasse noch mal 20 Prozent von dieser Hälfte! Wenn die Tasche 60 Euro kostet, zahlen Sie die Hälfte, also 30 Euro. Und davon gehen an der Kasse noch einmal 20 Prozent ab! Sie zahlen nur 24 Euro!“

Das klingt besser als 60 Prozent Preisnachlass, ist werbewirksamer und anschaulicher. Man bekommt nicht einen Preisnachlass auf die Tasche, sondern zwei. Da will ich mir glatt eine schöne große Damenhandtasche kaufen, wenn mir quasi noch 36 Euro obendrauf geschenkt werden. Ich weiß aber nicht, wie viel Zeit schon vorbei ist von den 20 Minuten. Am Ende komme ich mit meiner aus den Tiefen der Grabbeltische erbeuteten Damenhandtasche zur Kasse, und da guckt die Kassiererin ostentativ auf ihre Uhr und sagt: Eine Minute drüber, die 20 Prozent auf die Hälfte können wir Ihnen leider nicht schenken.“ Das, stelle ich bald fest, ist eine überflüssige Befürchtung, denn die Frau mit dem Mikrophon kommt alle 10 Minuten und ruft 20 Minuten aus. Sie gehen also von morgens bis abends, ja, sind sogar eine Verdoppelung der Zeit. Und du sagst doch immer: „Zeit ist Geld!“

Ich wurde also reich, als ich mit dem Rücken zum Karstadt-Gebäude saß. Habe nichts ausgeben, und dann hat mir die Vertreterin noch 40 Minuten geschenkt, davon die Hälfte und noch mal 20 Prozent Abzug. Weil dadurch aber mein Zeitkontinuum ein wenig durcheinander geriet, bin ich jetzt vom Thema abgekommen... ach so: In der Minute gingen Hunderte an mir vorbei oder querten die Straße von einem Geschäft ins andere. Es ist unfassbar, welche Spielarten der Natur es gibt. Und alle hatten ja am Morgen ihre Kleidungsstücke aus dem Schrank genommen und sich damit bedeckt. Es gibt Moden, aber auch Vielfalt. Aber für einen Augenblick hatte ich die Vision, alle Kleidungsstücke, die in Ostasien gefertigt wurden, wären plötzlich verschwunden. Dann wären die Tausende, die ich in den 40 Minuten sah, allesamt nackt gewesen. Und die Taschen wären natürlich auch weg. Bekleidet hingegen wäre man vielleicht noch auf dem Teilstück der Georgstraße, jenseits vom Kröpcke, wo die feineren Geschäfte locken. Zumindest hätte der eine oder andere noch ein Trigema-Hemdchen an.

Mehr: Ethnologie des Alltags
1251 mal gelesen
romeomikezulu - 12. Aug, 20:33

Großartig, lieber Triceratopsemius, wirklich großartig.
Aus Ihnen wird nochmal ein zweiter Loriot, aber ach,
was sag ich denn - Heinz Erhardt!

Was das Ding mit der Zeitersparnis bzw. -vermehrung betrifft, sind Sie
mit den Grundlagen der Zeitdilatation vertraut?
Sie wissen schon, das Relativitätsding von Einstein?

Natürlich sind Sie das - vielleicht vorwiegend intuitiv, aber: Sie sind es!

Trithemius - 12. Aug, 21:50

Ja, ich wollte schon immer ein Zweiter sein, egal was, lieber romeomikezulu. Vielen Dank für das Lob.

Was Ihre Frage betrifft, möchte ich beinah auf den vorletzten Satz des Schwammtextes verwiesen. Man muss nicht Versicherungsmathematiker sein, um die Zeit in jede beliebige Richtung sich dehnen und schrumpfen zu sehen. Also intuitiv.
Mimiotschka - 12. Aug, 21:19

Ich denke, dass es eher heißen sollte: Zeit ist Geld ist Handtasche, also Geld oder Handtasche. Aus Sicht eines Handtaschendiebes dann aber doch wieder Geld und Handtasche, mit nur geringer oder gar keiner Zeit. So eine Tasche ist ja im Gewusel einer Fußgängerzone schnell entwendet.

Was die nackten Menschen angeht hoffe ich, dass sich die in Ostasien gefertigte Kleidung nicht in Nichts verwandelt. Manches möchte ich nämlich nie zu Gesicht bekommen. Ich bin schon froh, dass sich die Hüfthosen-Kurztop-Stringtanga-Bekleidung langsam aus dem Stadtbild verflüchtigt. Ich esse keinen Rollbraten und muss auch keine Menschen sehen, die sich als solche verkleiden.

Guten Abend!

Trithemius - 12. Aug, 21:45

Sie berühren einen wunden Punkt. Darüber wollte ich eigentlich nichts sagen, aber meine Vison war leider so, dass sich die Kleidung in Nichts auflöste. Und was man da zu sehen bekam, war manchmal unerfreulich. Rollbraten war auch dabei. Aber da waren auch gutgewachsene Handtaschendiebe und -diebinnen. Sie guckten verwundert, als auch die Handtaschen und Geldbörsen verschwanden, dachten vermutlich, sie wären von der eigenen Zunft beklaut worden.

Guten Abend!
Videbitis (Gast) - 13. Aug, 12:17

50 + 20 sind ja auch 70, also 10 Mehr als 60 Prozent, der Vorteil liegt also auf der Hand, eine Win-Win-Situation, wie der Fachmann sagt: Der Kunde erhält 10 Prozent mehr Nachlaß, und der Verkäufer erhält genau so viel Geld, als wenn er von Anfang an 60 Prozent gegeben hätte. Der Verkäufer könnte zukünftig noch schlauer kalkulieren: Er sollte den Ursprungspreis so hoch ansetzen, daß er 50 % erlassen kann, und für Schnellkäufer dann noch mal 50 %. Der Kunde glaubt, das Geschäft seines Lebens zu machen, weil ihm 100 % erlassen wird (die leichte Irritation an der Kasse steckt er so weg), und der Verkäufer reibt sich die Hände, alle sind mehr als zufrieden!

Ich freu mich immer, wenn ich chinesische Touristen sehe, die ihre Taschen mit Köln-Souvenirs für die Lieben daheim vollstopfen: Eine Art von Recycling, der Müll kehrt zum Ursprungsort zurück.

Trithemius - 13. Aug, 12:36

Ich bin schon durcheinander von all den Rabattprozent. ;)

Das mit den Toruristen, die den Schrott mitnehmen, der zuvor aus ihrem Land eingeführt wurden, gefällt mir. Würde das Schule machen, wären die Deutschen allerdings schlecht dran. Wir exportieren ja Maschinen, ganze Produktionsanlagen. Die sind vielleicht ein bisschen schwer.
schreiben wie atmen - 13. Aug, 12:25

... da weiß man nicht was furchtbarer wäre: all die Leiber, genau so bekleidet wie sie gerade an einem vorbeitreiben, oder nackt. Na ja, vielleicht doch eher nackt, das stimmt milder.
Habe mir grade überlegt wie ich dastünde. Geht aber ganz gut, seit ich mich ausschließlich aus zweiter Hand bekleide.

Trithemius - 13. Aug, 12:40

Wenn das Wetter auch mild ist, gehts ja noch. Aus zweiter Hand müssten die Sachen wohl schon recht alt sein, wenn sie noch hier gefertigt worden sind, oder? Ich habe mir jetzt für die Tour einiges neu anschaffen müssen. Aber egal, was es für eine Marke ist, alles kommt aus Fernost, sogar die Teile an meinem neuen, nicht billigen Fahrrad.
schreiben wie atmen - 13. Aug, 17:57

Ja, Sie haben recht, das Öhlend wird ein immer größeres. Vielleicht sollte ich wieder anheben, mir meine Kleidung selbst zusammenzusticheln. Nur, wo kommt der Stoff gleich wieder her? Ach, es ist nicht einfach. Und Fahrräder bauen kann ich sowieso nicht.
Was geschähe eigentlich, mal so über den Daumen gepeilt, wenn alle Produkte, die in Deutschland unter Mithilfe von Billiglohnempfängern hergestellt wurden, plötzlich verschwänden? Also wenigstens die, die exportiert wurden.
Trithemius - 13. Aug, 21:45

Wir müssten uns wahrscheinlich mit Blechen und Motorteilen bekleiden. Und aus unseren Haushalten würde so viel verschwinden, dass wir mit einem Mal viel Platz hätten.
schreiben wie atmen - 13. Aug, 23:41

Vielleicht war ja DAS damals die Steilvorlage für die Ritterrüstungen?
Im Übrigen hätte ich gegen mehr Platz in meinen vier Wänden nichts einzuwenden, vor allem dann nicht, wenn mir das Mirakel die ganze Wegräumerei abnehmen würde.
dreckscheuder (Gast) - 17. Aug, 22:27

hierdurch...

...melde ich berechtigte zweifel an der bekleidetheit der sich jenseits vom kröpcke (netter name übrigens...) befindlichen akteure dieses ausgesprochen unterhaltsamen stückes deutscher marktgeschichte an... ;-)

Trackback URL:
https://trithemius.twoday.net/stories/reich-durch-handtaschen-und-trotzdem-nackt/modTrackback

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Teppichhaus Trithemius / Teestübchen Trithemius

Aktuelle Beiträge

Die Papiere des PentAgrion...
<img alt="Papiere des PentAgrion bd 2" style="margin:5px;"...
Trithemius - 23. Apr, 13:18
Die Papiere des PentAgrion...
Folge 2.1 Die Macht der Jacke - Folge 2.2 Von den Socken...
Trithemius - 3. Feb, 09:49
Papiere des PentAgrion...
Folge 2.1 Die Macht der Jacke - Folge 2.2 Von den...
Trithemius - 3. Feb, 00:20
Die volle Wahrheit über...
Dienstagmorgen kurz vor der Teestübchen-Redaktionskonf ernenz....
Trithemius - 25. Apr, 19:16
Besser aufrecht sterben,...
Besser aufrecht sterben, als mit kalten Knien leben! Nach...
Lo - 25. Feb, 17:03
An einem Sonntagmorgen...
Allmorgendlich klappe ich den Tagesschau-Feadreader...
Trithemius - 25. Feb, 10:45
Teestübchen Humorkritik...
Morgens werde ich wach, ist mein Humor weg, die heitere...
Trithemius - 13. Feb, 17:30
Hallo Melanie,
welch eine Überraschung. Du bist mir offenbar nicht...
Trithemius - 3. Jan, 17:02

RSS Box

Links

Suche

 

Kalender

August 2010
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 
 
 
 3 
 6 
 8 
11
13
14
16
18
19
20
21
22
23
27
29
30
 
 
 
 
 
 

Web Counter-Modul

Status

Online seit 6251 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:09

Credits


Abendbummel online
Bild & Text
Ethnologie des Alltags
Frau Nettesheim
freitagsgespräch
Gastautoren
Hannover
Internetregistratur
Kopfkino
Pataphysisches Seminar
Pentagrion
Schriftwelt im Abendrot
surrealer Alltag
Teppichhaus Intern
Teppichhaus Textberatung
Textregistratur
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren