schreiben wie atmen - 9. Feb, 20:28

Also könnte man sagen, dass uns die Schrift aus dem wunderbaren Leben im Jetzt, im wahrhaftigen Moment, herausgerissen hat (wenn die Missetäterin nicht die zu-gemessene Zeit war). Können wir auch weniger gut (zu-)hören seit man schriftlich festhalten kann, was ehedem noch gemerkt werden musste?

Careca - 9. Feb, 20:29

Schreiben als konstituierendes Element von Zukunft-Gegenwart-Vergangenheit.
schreiben wie atmen - 9. Feb, 20:32

Ja, vielleicht eine Tätergemeinschaft von Zeit und Schrift. Die Zeit hat uns das ewige Jetzt gestohlen, die Schrift hat uns mit der Illusion versehen, dass es sich vollkommen erübrigt Aufmerksam zu sein, da alles zu speichern und später /irgendwann einmal nachzulesen ist.
schreiben wie atmen - 9. Feb, 20:33

Da fällt mir grade auf, dass ZEIT und SCHRIFT sich zu Zeitschrift harmonisch zusammenfügt. Was stehlen uns also Zeitschriften?
Careca - 9. Feb, 20:39

Zeit gibt es eigentlich nicht. Zeit ist eine Erfindung der Menschen, um regelmäßig wiederkehrende Ereignisse zu strukturieren. Schrift diente zur Strukturierung der eigenen oder der anderen Gedankenwelt.
Trithemius - 9. Feb, 20:43

@ Frau SWA - In der Tat. Die wesentliche Kritik an der Schrift hat schon Platon formuliert. Hier nachzulesen: http://trithemius.twoday.net/stories/4656768/
schreiben wie atmen - 9. Feb, 20:45

Insofern gibt es die Schrift eigentlich auch nicht. Sie hinterlässt zwar über Jahrtausende erhaltene Spuren (was die Zeit im Sinne von Kalendarien z. B. ja auch tut), aber diese Spuren entbehren der Sinnhaftigkeit, sobald es niemanden mehr gibt, der den Symbolen eine Bedeutung zuordnen kann.
Edit: bezieht sichn noch nicht auf Ihren Beitrag Herr Trithemius - muss erst noch lesen ...
Trithemius - 9. Feb, 20:46

@ Careca

Ich habe gelesen, dass mündliche Kulturen einen zyklischen Zeitbegriff haben, der am Jahreslauf orientiert ist.
Trithemius - 9. Feb, 20:51

@ Frau SWA - Sie überdauert aber die Speicherung durch den Computer. Floppy-Disc, ich habe keine Gerät mehr, das sie lesen kann, und sie sind doch grad mal 20 Jahre alt.
schreiben wie atmen - 9. Feb, 20:53

Das Leben in Zyklen ist dem Menschen sicher näher als das Leben nach Uhren und Kalendern. Die Zyklen berücksichtigen einander wenigstens teilweise, d.h. sie sind durch ihr paralleles Entstehen aufeinander abgestimmt. Leben in Zyklen ist an sich jedoch unserem Begriff von Zeit insofern unähnlich, als Frühjahr eben Frühjahr ist, einerlei ob vergangenes Jahr, dieses Jahr oder all die Jahre die noch folgen könnten. Diese Gedanken kamen wohl erst mit dem Kalender auf.
schreiben wie atmen - 9. Feb, 20:56

Da ist mit den Floppy discs in einem superkurzen Zeitraum das Gleiche (na ja, fast) passiert, was auch den Steinritzungen oder ähnlichen Zeugnissen früherer Kulturen geschah. Die Zeichen sind nicht mehr entzifferbar, ergo ohne Bedeutung wenn jemand nicht die Möglichkeit hat, sie zu entschlüsseln. Es ist genau dieser Unterschied: sind es komische Zeichen im Stein oder ist es eine Warnung, dass in dieser Höhle gefräßige Bären hausen? Ist es ein komisches viereckiges Ding aus Kunststoff oder eine Dissertation über Teilchenphysikalische Experimente?
Trithemius - 9. Feb, 21:01

Aber die älteste Literatur, die wir haben, das Gilgamesch-Epos (1800 v.Chr.), ist auf Tontafeln überliefert, die entziffert wurden.
Careca - 9. Feb, 21:03

Es brauchte die Schrift aber nicht, um ein Volk zu lenken. Llactapata und Machu Pichu ärgern die Archäologen noch heute, weil es zu diesen Inka-Städten keine Schriften gibt, dort aber wohl eine Hochkultur geherrscht haben musste.
schreiben wie atmen - 9. Feb, 21:04

Ja, da kann man nur hoffen, dass unsere Floppy discs so lange durchhalten, bis sie wieder interessant genug sind um erforscht zu werden. Leider ist eher anzunehmen, dass die Wissenschaft vor der schieren Menge der Artefakte zurückschrecken wird.
;o)
schreiben wie atmen - 9. Feb, 21:09

Existieren Erkenntnisse darüber, ob sich hirnmedizinisch im Laufe der Zeit irgendein Teil des Hirns zurückgebildet hat? Ich stelle mir vor, dass der Sektor, der für's Auswendiglernen zuständig ist, seit drei bis vier Generationen am Verkümmern sein muss. Ein Teufelskreis eigentlich: die Schrift sorgt dafür, dass die Flut an verfügbarem Wissen immer größer wird. Je größer diese Flut wird, desto chancenloser ist der Einzelne, sich eines gewissen Universalwissens zu erfreuen. Gibt es ihn eigentlich noch, den Universalgelehrten?
Trithemius - 9. Feb, 21:11

Der letzte war wohl Leibniz, er hatte das Wissen seiner Zeit auf 75.000 Karteikarten.
schreiben wie atmen - 9. Feb, 21:15

Erfüllt einen dann doch irgendwie mit einer traurigen Sehnsucht - also mich jedenfalls. Man stelle sich vor: eine Welt, die verstandesmäßig zumindest einigermaßen handhabbar ist!

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