Schriftwelt im Abendrot
Einladung zum Schrift-Seminar in der offenen bloguni

Liebe Kunden,
Sie sind herzlich eingeladen zu einem Blog-Seminar am
Dienstag, 8. Februar - Donnerstag, 10. Februar 2011 um 20:20 Uhr, Zeitaufwand jeweils etwa 90 Minuten. Theorie, praktische Übungen und Diskussion.
Voraussetzung: Anmeldung, Online-Verbindung zur offenen bloguniversität, möglichst ein Scanner, und die Bereitschaft, handschriftliche Ergebnisse zu veröffentlichen.
Dienstag: Tres digiti scribunt - Abschreiben wie im Mittelalter
Mittwoch: Schrift und Schreiben - Aspekte der Handschrift
Donnerstag: Realer Schreibanlass - Online-Reportage
Materialien zur Vorbereitung finden Sie unter den Rubriken Schriftwelt im Abendrot, Teppichhaus Textberatung sowie
Schrift, Sprache, Medien (im alten Teppichhaus).
An Handschrift gedacht und nur Tasten gedrückt
Zunächst fiel mir eine ähnliche Entwicklung beim Zeichnen ein. Vor einigen Jahren besuchte ich eine Papierfabrik in Düren. Ihr Hauptgeschäft waren Jahrzehnte lang Transparentpapiere gewesen, also Entwurfpapier für Grafiker und Architekten. Ein Manager des Unternehmens sagte mir, der Markt sei völlig eingebrochen, denn Grafik-Designer oder Architekten würden nicht mehr mit der Hand zeichnen. Diese Entwicklung war schon in den 90ern abzusehen. In einer großen Werbeagentur, die ich besuchte, saßen alle Grafik-Designer an Rechnern, und der Firmenchef sagte stolz: „Sie finden hier im ganzen Haus keinen Bleistift mehr.“ An der Fachhochschule für Design in Aachen emeritierte im Jahr 2004 Klaus Endrikat, Professor für „Zeichnerische Darstellung und Gestaltung, insbesondere Figürliches Zeichnen.“ Mit Endrikat endete auch das Zeichnen an der Fachhochschule, das Fach wird nicht mehr angeboten. Seine letzten beiden Diplomanden hatten das Ende des Zeichnens ironisch überhöht. Sie waren als reisende Zeichner durch die Republik gezogen und hatten darüber ein zeichnerisches Fahrtenbuch geführt.
Im professionellen Bereich ist die Handzeichnung also schon exotisch und wird langfristig nur in der Bildenden Kunst überdauern. Letzlich droht ihr ein Schicksal wie der Kalligrafie – sie wird Kunsthandwerk, etwas für Weihnachts- oder Jahrmärkte bzw. den Volkshochschulkurs.
Könnte das Schreiben mit der Hand ebenso verkommen und allenfalls noch im Hinkritzeln einer Notiz und in der Unterschrift überleben? Wäre es ein Verlust? Schon jetzt ist der persönliche Brief seltener geworden. Dadurch gewinnt er natürlich an Wert, wie alles Seltene als wertvoll empfunden wird, abgesehen von einer seltenen Krankheit oder rarem Erfolg. Sehr verdächtig scheint mir der Prestigewert der teuren Füller. Wer auf sich hält, wer etwas darstellt in dieser Welt, will auch ein edles Schreibgerät besitzen, schreibt aber in der Regel kaum damit. Indem der Füllhalter zum Prestigeobjekt degeneriert, verweist er auf seine schwindende funktionale Bedeutung. Hinsichtlich der Kulturtechnik Schreiben sind solche Füllfederhalter ein Zeichen von Dekadenz. Natürlich lässt sich einwenden, dass viele Erwachsene noch ihre Handschrift pflegen und in Gebrauch nehmen. Ob die Enkelgeneration aber noch genauso empfindet, scheint fraglich.
Noch wird jeder bestätigen, das Schreiben mit der Hand habe einen Wert. Doch worin besteht er? Kaum ein Mensch schreibt heute noch getreulich einen Text ab, wie es die Kopisten des Mittelalters getan haben. Wer mit der Hand schreibt, verfasst selber Texte. Er ordnet seine Gedankenkreise und formt sie zu Zeilen aus, das Denken bekommt eine Richtung, bei der Alphabetschrift von links nach rechts, von der Emotion (dem Antrieb zu schreiben) zur Logik (der wirkungsvollen Ausformulierung) hin. Das geschieht auch beim Schreiben mittels Tastatur. Aber in der Handschrift ist Langsamkeit, Auseinandersetzung mit Material, sie erfordert und trainiert die Feinmotorik. Handschreiben ist ein im besten Sinne ganzheitlicher Vorgang, denn es fordert und fördert gleichermaßen Herz, Hand und Verstand.
Wenn das zeichnende und schreibende Handwerk an Bedeutung verlieren, so deutet sich an, dass der Mensch des Computerzeitalters das praktische Handgeschick aufzugeben bereit ist. Das handwerkliche Geschick wird museal, weil der postmoderne Mensch sich immer seltener als ganzheitlich erlebt, wie auch die ganzheitliche Bildung aus Schulen und Universitäten verschwindet. Zudem ist er kein Handelnder mehr, sondern ein Getriebener unter Zeitdruck.

Abgelegt unter: Schriftwelt im Abendrot
Mehr: Die Handschrift hat Schwindsucht
Warnung vor dem Graphologen!
An einem Frühlings Abende von 1794 sah ein Mann durch das Fenster seines Gartenhauses eine junge Dame, die zum Besuch da war, beschäftigt, mit einer Schere seinen Namen, den er mit Kresse gesäet hatte, für ein Butterbrot abzuschneiden, das auf dem Teller neben ihr auf der Erde stund.
Was machen Sie da, rief er, indem er das Fenster aufriß: Schneiden Sie mir meinen guten Namen nicht ab, das will ich mir verbitten.
Das Frauenzimmer, ohne sich im mindesten in ihrer Arbeit stören zu lassen, antwortete vortrefflich: Ihrer Ehre thut es keinen Schaden, und für mich ist es ein kleiner Gewinn.
Der Mann, der seinen Namen mit Kresse gesät hatte, war Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799). Wie mag der Schriftzug aus Kresseblättchen wohl ausgesehen haben? Lichtenberg schrieb Kurrent, die handschriftliche Variante der Fraktur. Er selbst sagt: Wir glauben öfters, daß wir zu verschiedenen Zeiten verschiedene Hände schrieben, während als sie einem Dritten immer einerlei erscheinen.
Man muss noch einen Schritt weiter gehen: Die Handschrift bleibt immer charakteristisch und unverkennbar, gleich welches Schreibgerät man benutzt, gleich welche Größe der Schriftzug hat, ob papiersparend klein oder Ergebnis einer weit ausladenden Körpergeste des Sämannes. Eckhard Henscheid, Lichtenbergs geistiger Urenkel, springt eines Morgens aus dem Bett und notiert unbeschwert in sein Sudelbuch:
Dass man jeden Morgen, wenn's wieder losgeht, noch immer dieselbe Handschrift hat, obwohl im Kopf doch nichts mehr stimmt: Charmantcharmant
Es war da wohl kein Graphologe in der Nähe. Die Konstanz der persönlichen Handschrift ist der Hebel der Graphologie. Ihr Begründer ist Ludwig Klages, der sie 1916 mit seinem Buch: "Handschrift und Charakter" erstmals wissenschaftlich zu fundieren versucht hat. Indem die Natur selbst ein "rhythmischer Sachverhalt" sei, so müssten sämtliche Bewegungen des Menschen umso rhythmischer verlaufen, je mehr er sich im "Naturzustande" befinde. Rhythmusstörungen gehen demnach auf psychische Zustände zurück und zeigen sich in der Handschrift. Klages und seine Anhänger profitieren von der Umorientierung in der Schreibdidaktik, weg von der Duktusschrift, hin zur Ausdrucksschrift. In der persönlichen Ausdrucksschrift zeigen sich die charakterlichen Prägungen deutlicher als im Duktus der Vergangenheit, so dass sich dem Graphologen neue Anhaltspunkte bieten.
Den rechten Aufwind bekommt die Graphologie im Nationalsozialismus. Auf Klages diffuser Lehre aufbauend, isoliert man nicht nur charakterliche, sondern auch rassische Merkmale aus der Handschrift. Die Graphologie wird zum probaten Selektionsinstrument. Im Dienste der Nationalsozialisten wächst dem Graphologen erstmals eine unheilvolle Macht über Menschen zu. Er wird zum Taxator, der den Daumen hebt oder senkt, der vermeintlich rassisch oder charakterlich Minderwertige aussortiert und sich dabei vor seinen Opfern nicht zu rechtfertigen braucht, da er seine zweifelhafte Kunst, dieses pseudowissenschaftliche Kaffeesatzlesen, im Geheimen ausübt. Von diesen Wurzeln her stinkt die Graphologie noch heute. Sie ist weiterhin ein missbräuchliches Machtmittel von fragwürdiger Natur.
Lichtenberg konnte sich noch getrost über die Charakterlehre und Handschriftendeutung seines Zeitgenossen Johann Caspar Lavater (1741-1801) erheitern, heute ist die Handschrift und somit die Persönlichkeit des Schreibers kaum vor dem Zugriff des Graphologen und dessen Auftraggeber zu schützen. Wer im Bewerbungsverfahren einen handschriftlichen Text vorlegen soll, nehme tunlichst davon Abstand. Unternehmen, die immer noch auf das Urteil von Graphologen vertrauen, sind nicht unbedingt seriös.
Ludwig Klages Idee vom ruhig dahin fließenden Naturzustand des Menschen ist ein Ideal, das von den Gegebenheiten des Alltags gestört wird. Annähern kann man sich diesem Zustand schon, wenn für eine Weile die innere Sammlung gelingt. Das zeigt sich dann an der Handschrift, wenngleich es anderen nicht unbedingt auffällt, wie Lichtenberg sagt. Man selbst kennt sich besser.
Es gab eine Zeit, in der ich viel kalligraphisiert habe. Damals war ich innerlich ruhig. Denn die Kalligraphie bringt Sammlung, es ist wie Meditation. Man tut etwas Schönes mit der Hand. Der Geist bummelt, und das Herz erfreut sich an den Formen der Buchstaben. Sehr zu empfehlen.
Die Handschrift hat Schwindsucht

Manchmal, wenn ich mich mit einem Stift in der Hand erwische, frage ich mich: Was, zum Teufel, tue ich da? Dann ist mir das Schreiben mit der Hand ganz fremd. Die Auseinandersetzung zwischen Ausdrucks- und Formwillen, Beschreibstoff und Schreibgerät kommt mir anachronistisch vor, gehört in die Vorzeit des Computers.
Der niederländische Kabarettist, Autor und Sänger Wim de Bie veröffentlichte schon in den 80ern in einer Tageszeitung eine Glosse, worin er das Schreiben mit dem Computer ironisch lobte. Der Text ist mit der Hand geschrieben, weil der Computer des Autors kaputtgegangen war. Und was stellt Wim de Bie fest? Seine regelmäßige, geläufige, männliche Handschrift, mit der er früher manches Mädchen zu betören wusste, ist verschwunden.

Das ist der Preis für die wundersame neue Schreibtechnik. Aber die Vorteile überwiegen. Umberto Eco hat bereits in den 80ern den Computer als „spirituelle Maschine“ gefeiert, weil man mit ihm fast so schnell schreiben wie denken könne. Er hat sich vertan. Mancher Tastenvirtuose kann sogar viel schneller schreiben als denken.
Handschrift dagegen hinkt dem Denken hinterher. Aber das wirkt sich auf die sprachliche Form aus. Mit der Hand zu schreiben, zwingt zu einer gedanklichen Durchdringung, zumal jede Korrektur mit Aufwand verbunden ist. Daher ist ein handschriftlicher Text näher am Schreiber, man spürt ihn als Leser fast noch. Diese Zeilen hier wurden beim Schreiben ständig korrigiert. Manches wurde spurlos getilgt, anderes ebenso spurlos an eine andere Stelle verschoben. Das Ergebnis ist ein künstliches Produkt und auf bedauerliche Weise steril. Und das liegt eben nicht nur daran, dass mein Text sich dem Leser in 12 p Verdana präsentiert.
Eine schöne Handschrift will geübt sein. Die Voraussetzungen dafür werden in der Grundschule gelegt. Deutsche Schulkinder haben jahrzehntelang nach hässlichen Schriftvorlagen lernen müssen, und viele haben sich dabei eine ministeramtlich verordnet Sauklaue zugezogen. Hier ist ein Änderungsbedarf. Der bundesweite Grundschulverband hat in seinem Maiheft von Grundschule aktuell das Problem der Ausgangsschriften für Grundschüler thematisiert und dabei eine beachtliche Kehrtwende vollzogen, denn seit den 70ern hatte man die missratene Vereinfachte Ausgangsschrift propagiert. Das Heft enthält unter anderem eine überarbeitete und erweiterte Version meines Blogbeitrags „Einiges über Handschrift“. Die neue Fassung ist hier vorab als PDF zu bekommen.
Der Grundschulverband schlägt vor, keine Ausgangsschrift mehr zu lehren, sondern nur noch eine Grundschrift, die von den Kindern individuell abgewandelt werden soll. Ich halte das für einen genialen Befreiungsschlag. Mein Künstlerfreund Rudolf hat mich letztens einen Verräter gescholten, holte Notizbücher hervor, um mir die Schönheit der Lateinischen Ausgangsschrift zu beweisen. Es war aber seine Schrift, die vom Formwillen durchdrungene Handschrift eines Künstlers. Man kann sie nicht als Maßstab nehmen. Die meisten Adaptionen der gängigen Ausgangsschriften sind weit davon entfernt auch nur geläufig zu wirken. Wie soll sich auch eine Kinderschrift ästhetisch entwickeln können, wenn überkommene barocke Formen gelehrt werden und zudem kaum noch Zeit für die Vermittlung mehr ist?
Stattdessen müssen sich Kinder schon im zarten Alter mit einer Unzahl von Dingen beschäftigen, die nicht zu ihrer Lebenswirklichkeit gehören, z.B. Autoren suchen, die gar kein Buch geschrieben haben, nicht mal mit der Hand.

Unnötig groBer Rucksack - Eszett wurde aufgepumpt
Das Eszett ist in jungen Jahren ein Doppel-S gewesen. In der damals verwendeten Frakturschrift gibt es zwei verschiedene Formen des „s“, ein langes (es sieht fast wie ein kleines f aus) und ein rundes. Man hatte das aus eugraphischen Gründen, weil es schöner aussah. Trafen nun zwei s an der Silbengrenze zusammen, dann nahm man das lange s für den Schluss der ersten Silbe, das runde für den Beginn der zweiten. Heraus kam die Ligatur „ß“, auch „scharfes S“ oder „Rucksack-S“ genannt.
Ligaturen sind zwei Buchstaben, die in der Bleizeit zusammen auf einen Kegel gegossen waren, weil sie in der Orthographie häufig zusammen auftreten. Ligaturen wie „ß“, „ch“ oder „ck“ erleichterten das Setzen mit der Hand, sie sparen einen Griff ein.Irgendwann, als man noch Fraktur druckte und Kurrent schrieb, wurde das Eszett verlesen. Das heißt, man sah in den Resten des runden „s“ in der Ligatur ein „z“. Der Name Eszett für den Buchstaben „ß“ ist also ein volksetymologischer Irrtum. Das Eszett ist ein Kleinbuchstabe. Bei ausschließlicher Großschreibung von Wörtern oder Eigennamen wird es wieder zu dem, was es einmal war, dem Doppel-S. Um einer Verwechslung von Wörtern wie Masse oder Maße vorzubeugen, gilt bislang die Regel, „SZ“ oder „SS“ zu schreiben, also: „IN MASZEN GENOSSEN“ oder „IN MASSEN GENOSSEN“. Da solche Fälle eher selten auftreten und auch kein deutsches Wort mit einem „ß“ beginnt, erübrigt sich ein großes Eszett. Schwierigkeiten bereitete allerdings die Schreibung von Familiennamen wie „Eßer“ mit Großbuchstaben oder Kapitälchen.

„Das Schriftzeichen ß fehlt leider noch als Großbuchstabe.
Bemühungen, es zu schaffen, sind im Gange.“
Die falsche Schreibung "GROßE" war also der Versuch der Leipziger Dudenredaktion, die angeblichen Bemühungen um ein großes ß als Ergebnis vorwegzunehmen, - ein eigenmächtiger Eingriff in die amtlich festgelegte Schreibweise. Ähnlich arrogant verfuhr damals auch die Mannheimer Dudenredaktion (Duden West), indem sie der Stadt Cuxhaven die Eindeutschung „Kuxhaven“ verpasste (14. bis 16. Auflage), obwohl Städtenamen nicht den amtlichen Regeln unterliegen. Über Änderungen der Städtenamen entscheiden nur die jeweiligen Stadträte.
Dieses Recht nahm sich der Neußer Stadtrat am 21.11.1968 und beschloss die Änderung von "Neuß" in die Schreibweise "Neuss". Kurioser Weise gab ein Designkonzept den Anstoß: Der Werbegrafiker Herbert Dörnemann hatte ein Logo für die Stadt entworfen, das "Nüsser N". Es war aus fünf Kreisen konstruiert und entsprach damit den fünf Buchstaben von NEUSS in Majuskelschrift. In Groß- und Kleinschreibung hatte Neuß aber nur vier Buchstaben, was die Symmetrie des Entwurfes zerstört hätte. Mit einem 4-seitigen Schreibmaschinenskript "Zur Konzeption des einheitlichen Erscheinungsbildes der Stadt Neuss" gelang es Dörnemann, den Stadtrat auf seine Idee einzuschwören. Der Name der Stadt sollte in Schrift (Helvetica), Schreibweise (NEUSS, Neuss) und Logo (Nüsser N) nur noch einheitlich auftreten.
Der Neusser Stadtrat entledigte sich damit einer deutschen Schreibweise, die zur Hypothek geworden war. Für die Stadt mit großem Rheinhafen und wachsenden internationalen Geschäftsbeziehungen war das deutsche Eszett in "Neuß" eine zunehmende Belastung. Wie sollten denn die ausländischen Handelspartner den Namen der Stadt korrekt schreiben, wo doch das "ß" im Typenvorrat der Schreibmaschinen und Setzkästen anderer Länder fehlte? Manche fanden die elegant wirkende Lösung, ein kleines griechisches Beta zu setzen, andere schrieben grob "NeuB", da dem "ß" nicht anzusehen ist, dass es einen scharfen S-Laut wiedergibt. So taten die Neusser dem Ausland und sich selbst einen Gefallen. Denn nach Auskunft der Neusser Stadtverwaltung haben auch die Neusser Bürger die "neue Schreibweise der Stadt Neuss mit zwei 's'" "schnell", "dankbar" und "froh" aufgenommen. So einfach kann man eine Orthographiereform machen und die Bürger dankbar froh stimmen, - wenn geschäftliche Interessen vorliegen.
Mit der jüngsten Orthographiereform ist das „ß“ in Bedrängnis geraten. Zu einer radikalen Tilgung des Buchstabens konnte sich die Reform-Kommission nicht durchringen, obwohl es den Schweizer Vertretern gewiss gefallen hätte, denn in der Schweiz wird das Eszett nicht verwendet und offenbar auch nicht vermisst. Die neuen Regeln sehen bei vielen Wörtern, die lange Zeit mit ß geschrieben wurden, das Doppel-s vor. In Texten fällt besonders die neue Schreibung der Gliedsatzkonjunktion „dass“ auf. Über die weitere Verwendung des „ß“ herrscht große Unsicherheit, und es wird auch dort getilgt, wo es eigentlich noch geschrieben werden sollte. So sieht man oft die falsche Schreibweisen „Grüsse“ oder „heissen“, obwohl die Regel besagt, dass nach langem Vokal und Diphthong weiterhin Eszett geschrieben werden soll, also „Grüße“ und „heißen“.
Im Juni 2008 frohlockte der TAGESSPIEGEL: "Die letzte Lücke im deutschen Alphabet ist geschlossen - zumindest technisch. Das ß gibt es nun auch als Großbuchstaben erstmals verankert in den internationalen Zeichensätzen ISO-10646 und Unicode 5.1. Es hat dort den Platz mit der Bezeichnung 1E9E. Das bestätigten das Deutsche Institut für Normung (DIN) und die Internationale Organisation für Normung (ISO). Die Änderung werde in Kürze veröffentlicht, sagte ein ISO-Sprecher. Damit hatte ein Antrag der DIN-Leute, eine Norm für das große ß zu schaffen, teilweise Erfolg."
Das rätselhafte Vorpreschen des Deutschen Instituts für Normung ist wohl primär eine sprachpflegerische Maßnahme, um das vermeintlich bedrohte ß zu retten. Wie alle sprachpflegerischen Bemühungen ist auch eine DIN-Norm für das große Eszett unsinnig. Es verstößt gegen die amtlichen Orthographieregeln und findet vor allem keine Entsprechung im Typenvorrat der verbreiteten Schriftfonts, für die es ja erst noch geschaffen werden müsste. Vielleicht werden unterbeschäftigte Typographen das tun, zumindest für Schriften mit Kapitälchen. Trotzdem wäre Herr Eßer nicht gut beraten, seine Visitenkarte mit einem großen Eszett setzen zu lassen. Es könnte ihm dann passieren, dass ihn ausländische Geschäftspartner erst recht mit "Herr Eber" begrüßen.
Wenn auch die Lotsen verwirrt sind
Die freie Presse ist das wichtigste Kontrollorgan einer Demokratie. Die Alliierten haben nach 1945 ein kluges System erdacht, wie den Deutschen Demokratie und eine Idee von Meinungsfreiheit beizubringen wäre. Die Lizenzen für Zeitungsgründungen wurden so vergeben, dass sich in den jeweiligen Verbreitungsgebieten eine linksliberale und eine rechtskonservative Zeitung gegenüberstanden, zum Beispiel: Aachener Nachrichten (linksliberal) - Aachener Volkszeitung (rechtskonservativ), Kölner Stadtanzeiger (linksliberal) – Kölnische Rundschau (rechtskonservativ), Frankfurter Rundschau (linksliberal) – Frankfurter Allgemeine Zeitung (rechtskonservativ). Diese Ordnung brachte eine lebendige politische Diskussion und hat die Entwicklung unserer Demokratie entscheidend geprägt.
Inzwischen sind in unserer Zeitungslandschaft nur noch Reste dieser Struktur zu sehen. Mit dem Ende der Bleizeit in den 70er Jahren gerieten viele Zeitungen in wirtschaftliche Probleme, gegen die man sich mit Zusammenschlüssen half. So fusionierten Aachener Nachrichten und Aachener Volkszeitung, gingen auf in einem gemeinsamen Zeitungsverlag, der wiederum seit 2007 in Teilen der Mediengruppe Rheinische Post gehört. In Köln ging es ähnlich zu. Die Verlagsgruppe M. DuMont Schauberg gibt seit 1999 zusätzlich zum linksliberalen Kölner Stadtanzeiger auch die konservative Kölnische Rundschau heraus. 2006 kaufte DuMont sich bei der angeschlagenen Frankfurter Rundschau ein. Diese Beispiele der bedenklichen Pressekonzentration in Deutschland lassen sich fortführen. Sie gehen mit einer inhaltlichen Nivellierung einher und kennzeichnen so den Abstieg eines stolzen und wichtigen Publikationsmediums.
Wer in der Buchkultur aufgewachsen ist und es sich leisten kann, nimmt noch allmorgendlich ein Zeitungsbad, wenn’s auch immer lauer wird, weil Journalisten zunehmend Rücksicht auf wirtschaftliche Zwänge nehmen. Den Kindern der Internetkultur ist die Zeitung zu lahm. Mit der überwältigenden Vielfalt der Internetangebote kann sie nicht konkurrieren. Dieser Autoritätsverlust der etablierten Medien ist nicht mehr umzukehren, solange das Internet besteht.
Der Medienphilosoph Vilém Flusser (* 12. Mai 1920 in Prag, † 27. November 1991) hat die Entwicklung schon Ende der 80er Jahre vorausgesehen. Er sah die Buchkultur im Abendrot versinken und eine „telematische“ Gesellschaft heraufziehen, deren wesentliches Merkmal die Entwertung der Schrift, die Aufwertung der Zahl und des technischen Bildes ist. Mit dem Entstehen der Internetkultur hat sich Flussers Idee konkretisiert. Sie hat Gestalt angenommen, obwohl sie gestaltlos ist, nulldimensional, wie Flusser sagt. In der von ihm beschriebenen telematischen Gesellschaft gibt es keine Autoritäten. Hier dominiert die Diskussion. Durch ihre Vernetzung lenkt die telematische Gesellschaft sich selbst, ist in Flussers Vorstellung ein „kosmisches Hirn“. Eine ähnlich positivistische Idee ist die der Schwarmintelligenz.
„Aber Bloggen“ - Gelegentlich fragt sich mancher Blogger, was er eigentlich macht. Wozu ist es gut, unentwegt Texte und Bilder zu publizieren, sollte man das nicht besser den Profis überlassen? Die Frage ist müßig, denn indem ein Medium zur Verfügung steht, wird es genutzt. Die Entscheidung des Einzelnen, ob er bloggt oder nicht, ist ohne Belang, solange die Zahl der Blogger weltweit zunimmt. Derzeit wissen viele Blogger noch nicht recht einzuschätzen, welches Werkzeug ihnen in die Hand gegeben wird. So geht es zu in den Anfängen eines Mediums, es gibt wenig Fachkenntnis, kaum Regeln und daher allgemeinen Wildwuchs. Ob sich hier tatsächlich etwas Ähnliches wie kollektive Intelligenz entwickelt, muss sich noch zeigen.
Das Internet hat unseren Alltag nachhaltig verändert. Es zeigt uns die ungeheure Komplexität der Welt und raubt uns die Begriffe. Und indem sich die Welt nicht mehr allein von Redaktionen gefiltert darbietet, reiben wir uns die Augen und erkennen, dass wir von allem, was wir sicher zu wissen glaubten, nur den Schein der Oberfläche kannten. Doch auch das Internet bietet nur Oberflächen, und schaut man dahinter, erscheint eine neue Oberfläche. Wir erkennen, dass ein jeder Gegenstand der Betrachtung einer Zwiebel gleicht, Schale über Schale. Das ist das Dilemma unserer globalisierten und überinformierten Welt. Niemand kann mehr alle Zusammenhänge überblicken oder gar begreifen. Das gilt auch für die einst so kundige Fährleute aus den Redaktionen. Und da selbst sie die Untiefen im Ozean der Informationen nicht mehr überblicken, verlegen sie sich zunehmend auf Meinungsmache, ein Trend, der sich in allen Zeitungen ablesen lässt. Die Stilformen der Zeitungen verwischen, viele Berichte, die einst nur die Information darbieten sollten, enthalten Meinungsanteile. In den 90ern hat die Frankfurter Rundschau ihre Leser noch typographisch auf solche Mischtexte aufmerksam gemacht. Man setzte die Überschrift kursiv, wenn der Bericht auch kommentierende Elemente enthielt. Diese typographische Achtungsbezeugung vor der Selbstbestimmung des Lesers wirkt zehn Jahre später nur noch altmodisch.
Die Fehlentwicklungen beim Printmedium bringen eine Abkopplung von Traditionen der Buchkultur. Damit beschleunigt es den eigenen Niedergang. Es liegt eben nicht nur an der Konkurrenz durch Blogs und anderen Erscheinungen des Internets, wenn unsere Zeitungslandschaft erodiert.
Flussers Idee der telematischen Gesellschaft ist eine Utopie. Und da sich Utopien nicht zu verwirklichen pflegen, dürfen wir auf das Entstehen von kollektiver Intelligenz nur hoffen. Vielleicht sind selbst Blogs eine vorübergehende Erscheinung, denn sie sind Zwitter, stehen mit einem Bein in der Buchkultur und tasten mit dem anderen in die Nulldimension des technischen Bildes. In diesem Sinne bilden sie auch eine Klammer und sorgen dafür, dass der Geist nicht gar so rasch im Internet-Orkus verschwindet. Man muss sich das Weltgeschehen als Rückkopplungsmodell vorstellen. Was an Information erzeugt wird, wirkt auf das Geschehen zurück und verändert es. So hat jeder, der sich eines Publikationsmediums bedient, seinen Anteil an der Gesamtentwicklung. Das ist ein guter Grund, eine Zeitung zu machen wie auch zu bloggen.
Universalie Hüpfekästchen

Das Hüpfekästchenfeld entdeckte ich vorgestern. Es ist die Botschaft aus einer versunkenen Zeit. Sie wurde über Jahrtausende hinweg getreulich von Kindern weitergegeben. Damit gehört sie zu den ältesten Informationen aus der Vergangenheit, die sich im Alltag finden lassen. Straßenspiele tauchen im Frühling auf. Vielleicht gehörte Hüpfekästchen anfangs zu einem Frühlingskult. Wir wissen nicht, welche Überlegung dem Feld und den Regeln zu Grunde lag. Doch es hat irgend etwas mit Aufbruch zu tun.
Du stehst vor dem Spielfeld, wo noch nichts ist. Dann wirfst du den Stein und hüpfst. Das heißt, du trittst ins Leben, bestimmst ein Ziel und versuchst es auf eine bestimmte Weise zu erreichen. Sie ist dir vorgeschrieben, denn im Spiel des Lebens gibt es Schwierigkeiten. Das Hüpfen auf einem Bein symbolisiert die Unwägbarkeiten. Man kann aus dem Gleichgewicht geraten und verbotene Grenzen übertreten. Bevor du hüpfen darfst, musst du einen Stein in die Zukunft werfen. Der Wurf muss gut gezielt sein. Er ist wie ein gut gewähltes Lebensziel. Das kannst du nicht in einem Sprung erreichen. Es sind viele kleine und sorgsam abgewogene Schritte erforderlich. Doch es winkt nach jedem erfolgreichen Werfen und Hüpfen eine Belohnung. Du darfst weiter voran, steigst auf und erreichst vielleicht den Olymp. Das obere Feld heißt bei uns Himmel. Wer es in den Himmel schafft, darf aufatmen. Dann muss er wieder zurück. So steht Hüpfekästchen als spielerisches Lehrbeispiel für den Jahreslauf, für das Auf und Ab des Lebens und die eigene Vervollkommnung.
Vierzig Sekunden Text
Oje, mein armer Duden

Früher wäre mir nie in den Sinn gekommen, einen Duden so schmählich als Abstandshalter zu missbrauchen. Dazu diente ja Sicks albernes Schulmeisterlatein. Die Entwicklung der Dudenorthographie war viele Jahre eines meiner Studienobjekte. Deshalb besitze ich vom Rechtschreibduden 27 Ausgaben. Woher kommt also diese neue Gleichgültigkeit? Selbst ein unerschütterlicher Optimist kann sich ausmalen, dass der Duden unter der allabendlichen Fensterklemme aus dem Leim gehen wird. Dann wird’s keine Freude sein nachzuschlagen, wie ich zum Beispiel Teichoskopie schreiben soll. Der Link zu Wikipedia zeigt einen Grund, weshalb mir der Duden beinah gleichgültig geworden ist. Meist geht es schneller, im Internet nachzuschauen und dann einen Link zu setzen statt einer Erklärung. Freilich ist das Internet mit Vorsicht zu genießen, weil dort viele Fehler kursieren, wie das Beispiel des dreihufigen Urpferds zeigt. Das habe ich zwar nicht erfunden, doch ich besitze darauf das Internetmonopol.

Trotz meiner Bedenken schaue ich immer öfter im Internet bei Wikipedia nach als in einem Wörterbuch. Offenbar machen es viele so, weshalb der Verlag Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG. jüngst den gedruckten Brockhaus aufgegeben hat und Neubearbeitungen nur noch im Internet veröffentlichen will. Der Duden wird ebenfalls vom Bibliographischen Institut herausgeben. Eventuell droht ihm ein ähnliches Schicksal. Gedruckte Nachschlagwerke wie Brockhaus und Duden sind zu langsam, werden für unsere schnellebige Zeit zu selten aktualisiert. Die Duden-Neuauflagen erscheinen zwar im Abstand weniger Jahre. Doch wenn dazwischen in der Alltagssprache neue Wörter auftauchen, werden sie von der Dudenredaktion vorerst nur mit Anwendungsbeispielen registriert. Dann kreisen sie in der Warteschleife, um irgendwann in der Neuauflage zu landen. Für Wörter in der Warteschleife herrscht Anarchie, soweit sie orthographische Varianten zulassen. Die Dudenredaktion soll sich übrigens hinsichtlich der Schreibweise eines Wortes an der Gemeinschaft der kompetenten Sprecher und Schreiber orientieren und zusätzlich die amtlichen Regeln anwenden, was nicht immer so getreulich geschehen ist.
Oft hat die jeweilige Dudenredaktion höchst eigenmächtig gehandelt. So war sie besonders in den Auflagen 14 bis 16 von einem kapitalen Teufel des Mutwillens geritten und hat eindeutschende Schreibweisen festgelegt, nach denen niemand gefragt hatte: „Rutine“ (Routine), „Schef“ (Chef) oder „Kontainer“ (Container), um nur einige zu nennen.
Immerhin garantierte der Duden eine gewisse Kontinuität in der Orthographie, solange er allein amtliche Geltung hatte und „maßgebend in allen Zweifelsfällen“ war. Mit der jüngsten Orthographie-Reform hat der Duden dieses Monopol verloren. Auch andere Verlage dürfen jetzt die Schreibweisen aus den amtlichen Regeln ableiten und im Zweifelsfall interpretieren. Daher weichen die Wörterbücher voneinander ab. Konrad Duden wollte einst das deutsche Kaiserreich von seiner „buntscheckigen Rechtschreibung“ befreien. Bis 1903 hatte jede große Druckerei ihre eigene Hausorthographie. Das gleiche galt für viele Schulen. Daher wurde Duden von Otto von Bismarck beauftragt, das orthographische Chaos zu regeln, womit auch der staatliche Zusammenhalt gefördert werden sollte. Die von Duden und den Buchdruckereiverbänden geschaffene Ordnung bestand gut hundert Jahre. Nun ist die deutsche Orthographie erneut buntscheckig, denn wegen der Verwirrung um die Orthographiereform haben alle Verlage sich wieder eine Hausorthographie zugelegt. Auch die Presseagenturen sahen sich genötigt, eigene Schreibregelungen einzuführen. Im schreibenden Volk kursieren derweil witzige Missverständnisse, zum Beispiel das Doppel-s nach Diphthong, man schreibt fälschlich „Viele Grüsse“ (Grüße), "ausser" (außer) oder „heissen“ (heißen). Andererseits ist mit dem Internet eine Demokratisierung der Orthographie eingetreten. So haben Blogger sich Gedanken gemacht, ob es das Blog oder der Blog heißt. Man sieht beides, und das ist erfreulich tolerant. Verschiedene Schreibweisen gelten zu lassen, tut der Schriftsprache gut. Zu rigide Regeln hemmen die Sprachentwicklung.
All das hat meine Einstellung zum derzeitigen Duden verändert. Da ich jedoch zugeben muss, dass das Blättern in einem Buch wie auch das satte Geräusch beim Zuklappen etwas ganz wunderbar Edles hat, muss ich hiermit eingestehen, dass der Missbrauch des Dudens als Abstandshalter ganz und gar verwerflich ist, wie gut die Gründe auch sein mögen, die ich oben angeführt habe. Wo ist bloß dem Sick sein Buch?