Hormone killen den Stil - Ethnologie des Alltags

Hat Tage gegeben, da mochte ich gar nicht dran glauben, dass die Natur, so kältestarr, sich noch mal besinnen würde. Und jetzt: Sonne, Vorfrühling. Auf der Bank nebenan im hannöverschen Georgengarten sitzt ein junges Paar. Sie schon die Arme nackt, er, die Beine lang vor sich ausgestreckt, deklamiert selbstgefällig. Ab und zu wehen Wortfetzen zu mir herüber. Ich lese Schopenhauer, wie immer, wenn mein Seelchen etwas durcheinander geraten ist.
Er selbst rät vom vielen Lesen ab:

„Wenn wir lesen, denkt ein Anderer für uns: wir wiederholen bloß seinen mentalen Proceß.“

Genau deshalb fühle ich mich beim Lesen oft wie ein Kalb hinter einem Karren angebunden, immer in der Spur trottend und nicht wissend, wo es hingeht. Da schallt es herüber: „Aber mit Stil! Das mache ich mit Stil!“

Wer so etwas durch den Park trompetet, wird es nötig haben, denke ich, und sofort schilt mich die innere Stimme, wie ich denn angesichts der geringen Informationslage so hart urteilen könne. Na gut, wenn das innere Meckern gleich losgeht, lese ich lieber wieder Schopenhauer. „(…) Zu diesem Allen kommt, daß zu Papier gebrachte Gedanken überhaupt nichts weiter sind, als die Spur eines Fußgängers im Sande: man sieht wohl den Weg, welchen er genommen hat; aber um zu wissen, was er auf dem Weg gesehn, muß man seine eigenen Augen gebrauchen.“

Ja, Mann, was ist dran an der Behauptung: „Aber mit Stil. Das mache ich mit Stil.“? Ich hatte das intuitiv als eine Aussage angesehen, die ein Mensch mit Stil nicht machen würde. Und auf mein inneres Auge kann ich mich meistens verlassen. Aber die mahnende Stimme zwingt mich, darüber nachzudenken. Weit komme ich nicht, mit Schopenhauer auf dem Schoß. Da gibt der Mann mir selbst ein Beispiel: „Na klar, da passt doch auch ein Babykopf durch. Was glaubst du, was Frauen sich alles reinschieben!“

Hätte er seinen gynäkologischen Befund nicht mit ein bisschen mehr Stil vortragen können? Sie hat die Jacke wieder übergezogen, denn eine große Wolkenbank ist von Nordwesten herein gezogen und lässt von der Sonne nur einen Lichtstreif vorbei. Die beiden sind zu weit weg, als dass ich ihre Reaktion sehen könnte, aber ihre Körperhaltung wirkt so gleichgültig wie zuvor. Vermutlich kennt sie ihren Nebenmann gut und ist an derlei Stil gewöhnt.

Schopenhauers Stil ist erfreulich redundant, indem er seinen Gegenstand gründlich von allen Seiten betrachtet und immer noch mit feinen Unterscheidungen aufwartet, an die man selbst gar nicht gedacht hätte. Leider hat er mir das Weiterlesen quasi verboten, der Wind zieht mir kühl ins Kreuz, der stillose Kerl fläzt sich weiterhin auf der Bank, das sind allesamt gute Gründe, nach Hause zu fahren.
1233 mal gelesen
Shhhhh - 25. Mär, 19:08

Das erinnert mich irgendwie an ein Gespräch in einer verrauchten Eckkneipe vor nicht all zu langer Zeit, bei dem sich zwei junge Herren derart lautstark unterhielten, dass es mir mitunter schwerfiel, die Konzentration zu wahren.

Trithemius - 25. Mär, 19:12

Kann sein, dass ich dabei war, weiß aber nicht, was der mit dem Kugelkopf gesagt hat, derweil er mit der Hand auf den Tisch klopfte. War irgendwas mit Rap oder Musik.
Shhhhh - 25. Mär, 19:17

Ja, stimmt, die Themen waren wohl etwas unverfänglicher.
Merzmensch - 27. Mär, 00:14

„Wenn wir leben, denkt ein Anderer für uns: wir wiederholen bloß seinen mentalen Proceß.“

Nur eine kleine Änderung im Dritten Punkt - und sind wir schon fasi bei einer Matrix-ialischen Offenbarung über unsere Realität.

Trithemius - 27. Mär, 12:43

Ein Buchstabe macht den Unterschied zwischen einer Erkenntnis, dass nämlich das Lesen nicht das eigene Denken ersetzt, und einer literarischen Idee, die zwar reizvoll ist, aber nichts erklärt, denn wenn mich einer denkt, wer denkt dann ihn?
Jan Franciso (Gast) - 28. Mär, 19:37

Was der Schopenhauer da sagt ...

... ist schon irgendwie nicht ganz falsch, aber sehr verkürzt. Ich finde, hier ist es sehr treffend beschrieben: http://www.viceland.com/blogs/de/2011/03/27/der-implizite-autor-3/

Trithemius - 28. Mär, 20:11

Danke für den Link, ich werde den Text gleich lesen. Nur rasch zu Schopenhauers Ehrenrettung. Ich habe nur ganz wenig zitiert aus seinen Überlegungen und wenn andere den Vorgang auch beschreiben, vielleicht bildhafter und eingängiger, so hat es Schopenhauer für sie vorausgedacht.

EDIT - nach der Lektüre - Schopenhauer meinte vermutlich keine erzählende Literatur, sondern wissenschaftliche Werke. Ich glaube, auf einen Roman lässt man sich ganz anders ein als auf einen Essay z.B.
Jan Franciso (Gast) - 29. Mär, 17:51

Natürlich, das ist ein Unterschied. Aber auch ein gutes Sachbuch bringt einen einerseits auf einen bestimmten vom Autor intendierten Trip, dessen Beschaffenheit und Intensität andererseits von individuellen Umständen abhängt. Und man beobachtet zusätzlich noch sich selbst, während man eine Haltung zum Gelesenen entwickelt. Ist natürlich nicht gut möglich, wenn man dabei von solch einem frühlingsaktivierten Vollspaten im Park gestört wird.
Trithemius - 29. Mär, 18:05

Aus diesem Grund liebe ich dünne Bücher, also Büchlein. Es gibt freilich nur wenige Autoren, die welche schreiben können (z. B. Ivan Illich, Vilém Flusser). Es ist nämlich viel einfacher, ein dickes Buch über einen Gegenstand zu verfassen als ein dünnes Buch. Hat man das Glück, ein Büchlein dieser Art zu finden, dann liest man sehr lange daran, denn fast jeder Satz ist der Beginn einer Kopfreise. Man muss das Büchlein immer wieder sinken lassen, damit man in Ruhe nachdenken kann. Und das Wiederaufnehmen geht ganz leicht, es handelt sich ja um ein dünnes Büchlein.

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