Ende der Freiheit? Oder: Wer mir den freien Willen bestreitet, hat selber keinen

Da war eine Jazzband auf der Bühne im Lichthof der hannöverschen Leibnizuniversität. Fünf reifere Herren und eine Frau spielten populäre Stücke nach, aber nicht im Originaltempo, sondern langsamer als der Schall. An der Trommel saß ziemlich lustlos ein junger Mann. Er hatte viel Zeit zwischen den einzelnen Schlägen. Leider sah ich ihn nur verdeckt, aber ich vermute, er löste nebenher ein Kreuzworträtsel. Seine älteren Kollegen dagegen hatten Spaß an der Sache und wippten sogar im Rhythmus. Er war auch für Herzschrittmacher ungefährlich und somit gut gewählt.

Denn das Publikum war überwiegend betagt und sehr gut situiert. Gebildete Männer mit Frau sowie umgekehrt und als Duett. Hie und da saßen Studierende, aber sie waren in der Minderzahl. Das Thema der Podiumsdiskussion scheint junge Leute kaum zu interessieren, es lautete: „Ende der Freiheit?“ Dabei ging es um die Befunde der Hirnforschung, dass der Mensch nicht wirklich über einen freien Willen verfüge, und um die Frage, wie sich diese "Erkenntnis" auf die Rechtsordnung und auf unsere Vorstellung von Strafe auswirke.

Vielleicht waren
einige Zuhörer gekommen, um sich vom freien Willen freisprechen zu lassen, weil sie beispielsweise Schwarzgeld in der Schweiz gebunkert haben. Sie könnten dann sagen: „Was kann ich dafür, wenn meine mir leider unbewussten neuronalen Prozesse mich dazu gebracht haben, mein Geld in die Schweiz zu bringen?“ Andere waren da, die sich den freien Willen nicht nehmen lassen wollen, zumindest nicht von Hirnforschern, die sich selbst den freien Willen absprechen.

Podiumsdiskussion

Ich hätte gedacht, das Thema ist längst durch, aber da tönte der Rechtswissenschaftler Reinhard Merkel (rechts im Bild) vollmundig vom Podium herab: „Wir haben ein ernstes Rechtsproblem, und wer das nicht auch so sieht, muss seinen Standpunkt ändern!“ Ein Mikrophon ist eine feine Sache. Es heiligt auch den übelsten rhetorischen Trick, denn was laut durch den Saal tönt und machtvoll in alle Ohren dringt, kann es denn falsch sein? Dürfte der Mann überhaupt ans Mikro, wenn er nichts zu sagen hätte? Manchmal schon, das muss man sich vor Augen halten, wenn der akustische Filter von einem Lautsprecher übertönt wird.

Haben wir tatsächlich ein ernstes Rechtsproblem? Was hat die Hirnforschung herausgefunden? Millisekunden bevor ein Mensch in ein Mikrophon spricht, wurde das unbewusst schon geplant. Der Sprecher glaubt nur, er habe sich entschieden, etwas Wichtiges zu sagen. In Wahrheit sind tief verborgen in seinem Hirn unbewusste neuronale Prozesse abgelaufen und haben ihn dann zum Großsprecher gemacht, bevor er überhaupt dachte: „Alle sollen hören, wie toll ich bin!“ Und wenn jetzt seine neuronale Verdrahtung so beschaffen ist, dass er gar nicht so Wichtiges spricht, wie er glaubt, ja, dann kommt immer nur eitler Quatsch heraus. Da kann er wollen wie er will. Denn eigentlich ist er nur das willenlose Opfer seiner speziellen neuronalen Verdrahtung. Soweit die Ergebnisse der Hirnforschung.

Hat sie wirklich etwas Neues erbracht? Was haben wir denn geglaubt, bevor die Hirnforschung mit ihren Befunden anrückte? Dachten wir, der freie Wille sitzt nicht im Kopf, sondern vielleicht im Bauch? Da wird verdaut und gefühlt, aber nicht logisch gedacht. Oder dachten wir, unser wollendes Ich befindet sich gar nicht in unserem Körper, sondern wäre ein Geist ohne Materie, der wie ein Nimbus über uns schwebt? Wie soll ein solcher Geist denken und womit? Information braucht doch ein Medium, damit sie fließen kann.

Der freie Wille muss also im Netzwerk unseres Gehirns entstehen. Damit das geht, müssen im Netzwerk neuronale Schaltprozesse ablaufen, und zwar rasch, damit der Mensch auch auf plötzliche Einflüsse angemessen reagieren kann. Diese Entscheidungen werden erst auf höherer Ebene in Sprache übersetzt, so dass wir die Dinge im Nachhinein denken und erfassen können. Es war nie anders, - für diese Erkenntnis ist nicht einmal moderne Hirnforschung nötig. Wenn also von dieser Tatsache hergeleitet wird, wir hätten keinen freien Willen, dann braucht es uns nicht anzufechten, weil es eine systeminhärente Schwäche des Gehirns ist, die sich nicht umgehen lässt. Doch der Mensch agiert und reagiert eben nicht allein tierhaft. Er hat im Laufe der Evolution die Idee von der Verantwortlichkeit des Handelns entwickelt. Diese Verantwortung liegt bei allen geistig gesunden Menschen vor, denn kybernetisch betrachtet, ist das menschliche Gehirn ein Rückkopplungssystem. Ein solches System reagiert auf neu eintreffende Informationen und passt seine Struktur daran an; es ist lernfähig. Wenn ich also beim ersten, impulsiven Handlungsakt willenlos bin, dann nicht unbedingt beim zweiten. Wenn ich einmal aus einem Impuls heraus einen Rechtswissenschaftler geschmäht habe, muss ich es nicht ein zweites Mal tun, denn etwas anderes in mir hat die Oberhand gewonnen und gesagt: Jetzt lass den, der ist ja auch nur ein Mensch. Was da Oberhand gewonnen hat, war soziale Kontrolle. Sie existiert im Netzwerk der Mitmenschen, und wir haben Anteil daran, bemühen uns, vernünftigen sozialen Regeln zu entsprechen, atavistische Neigungen hingegen zu kontrollieren. Darum können wir uns auch gegenseitig verantwortlich machen für das Schlechte oder Gute, das wir einander antun.

Ein interessantes Phänomen ließ sich auf dem Podium beobachten. Als der alerte Diskussionsleiter Hoyningen-Huene, Professor für Philosophie, das Podium vorstellte, die Philosophin Bettina Walde, den Philosophen Ulrich Pothast und den schon genannten Herrn Merkel, da fehlte noch der Hirnforscher Gerald Hüther. Wie er dann verspätet eintraf, hatten die vier anderen sich schon so am Podium breit gemacht, dass er nur halbschräg auf der Ecke sitzen konnte. Das wiederum schwächte seine Position, so dass er während der gesamten Diskussion nicht richtig ins Gespräch kam und sogar fälschlich für die radikalen Leugner des freien Willens, (seine nicht anwesenden Fachkollegen Roth und Singer), in die Verantwortung genommen wurde. Die vier haben ihr unkollegiales Interagieren gar nicht bemerkt. Das hätte den Außenblick erfordert und eine Reflexion dieses gruppendynamischen Prozesses. Hier zeigte sich, dass der freie Wille zum Zwecke des sozialen Handelns erst aufgerufen werden muss, weil er sich nicht von selbst einstellt.

Abschließend wäre noch zu sagen, dass die Jazzband nicht schlecht gespielt hat. Aber auch nicht gut, sondern irgendwas dazwischen, was man hören kann, aber nicht muss. Wirklich nicht.
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