Die Papiere des PentAgrion - 2.1 Die Macht der Jacke

Papiere des PentAgrion bd 2Schalt das Radio ein. Musik: Martin Kratochwil



Kennst du das? Du denkst, du bist einem Alptraum entronnen, hörst im jungen Morgen die Vöglein zwitschern und willst gerade erleichtert aufseufzen, aber du bist nur erwacht, der Alptraum ist noch da, hat nur ein bisschen aus der Wachwelt in deine Traumwelt geragt, der Hund. Der Briefkasten gähnt mich an, das E-Mail-Programm ist bei Keine neuen Nachrichten auf dem Server eingefroren, uff, ich glaube, ich bin versehentlich aus der Welt gerutscht und hänge in einer Zeitschleife.

"Fahr mich doch ein bisschen spazieren!", sagt meine neue Jacke. Da streife ich die Jacke über, verlasse die Wohnung, hole mein Fahrrad aus dem Hof und fahre los. Es ist wärmer als ich gedacht habe, aber es kühlt ein kräftiger Wind, so dass die Jacke mir durchaus angemessen scheint. Sie lässt mich auch keine kleine Runde fahren, sondern treibt mich immer weiter ostwärts durch Hannovers Straßen.

Wer jetzt denkt, ich hätte vielleicht eine kleine oder sogar ausgewachsene Meise, weil ich mich von einer neuen Jacke quer durch Hannover scheuchen lasse, mir egal. Sind überhaupt meistens Dinge, die unser Handeln bestimmen. Einmal sah ich auf dem Aachener Münsterplatz einen Mann, der trug unter der Nase einen mordsmäßigen Schnurrbart, dessen Enden zum Kreis gezwirbelt waren. Der Schnurrbartbesitzer ging seltsam nach vorn gebeugt. Sein Schnurrbart hatte ihm bestimmt auch gesagt: "Trag mich mal ein bisschen spazieren, aber da, wo viele Leute sind, die mich sehen können." Da ist der Mann folgsam losgelaufen, aber wie zum Hohn hat sich der undankbare Schnäuzer extra schwer gemacht.

Verdammt, verdammter Mist! Immerzu quält mich der Gedanke, ich dürfte das Gebot der Kürze nicht vernachlässigen. Dann streiche und streiche ich, aber mit Verlaub, das ist doch kein flüssiges Erzählen, nicht mal ein ordentliches Berichten, wenn ich beinah alles wieder streiche, was ich gerade geschrieben habe. Wie kann ich mir Klarheit verschaffen, warum ich über ein halbes Jahr nichts habe schreiben können, nachdem ich die Arbeit an den Papieren des PentAgrion beendet hatte. Und habe ich nicht sowieso alle Zeit der Welt?

Als ich merke, dass ich unter meiner neuen Jacke schwitze, ist es schon zu spät. Und bis ich mich entschlossen habe abzusteigen und die Jacke in den Rucksack zu stecken, ist mein Hemdrücken klatschnass. Ich habe viel zu lange nach einem Platz gesucht, wo ich anhalten könnte, mich neu zu regeln und vielleicht einen Moment sitzen könnte, um eine zu rauchen, und jetzt sehe ich da vorn schon den Mittellandkanal, vielmehr eine Brücke, die hinüber führt. Hab gar keine rechte Ahnung, wo ich mich überhaupt befinde.

Eine Bank überm Kanal, direkt neben der Brücke. Wie ich da sitze, habe ich ein filigranes Aluminiumgitter vor Augen, dessen Verstrebungen Rauten bilden. Wenn ich die Augen locker lassen, überschneiden sich die nebeneinander liegenden Rauten, und dann entsteht eine neue, eigene Räumlichkeit. Das sieht aus, als würden die Gitterstreben quer überm Wasser des Mittellandkanals liegen.

Da rauscht unter der Brücke ein Lastschiff hervor. "Tremonia" steht am Bug. "Tremonia" kommt wie gerufen, denn ich habe mit mir ausgemacht, so lange überm Kanal zu sitzen, bis ein Schiff herankommt. Ich steige aufs Rad, überquere die Straße und sause zum Kanalufer hinunter. Die Fahrt soll jetzt nicht mehr langsamer werden. Ich rase, dass der Split unter den Reifen nur so wegspritzt, jage am Mittellandkanal nordwärts, als hätte ich eine wichtige Verabredung, irgendwo im Norden Hannovers. Doch die habe ich nicht. Ich will den Alptraum hinter mir lassen, der mich gefangen hält. Ist mir egal, ob du mitkommst. Wenn du überhaupt dabeisein willst, wirst du schon lesen müssen, was zuvor geschah, im letzten Jahr nämlich, als ich die Papiere des PentAgrion entdeckt hatte. Die Müh kann ich dir nicht abnehmen. Ist eine Sorte Training, damit du mithalten oder wenigsten an meinem Hinterrad bleiben kannst. Da kann ich dir gar nicht helfen, hab auch nicht die geringste Lust dazu. Habe ich dich nicht lang genug bei den Ohren genommen? Willst du endlich auf Augenhöhe kommen?

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Folge 2: Von den Socken
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