Die Papiere des PentAgrion - 2.2 Von den Socken

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Folge 2.1 - Die Macht der Jacke - hier

An der Ampel vor dem Nordhafen, wo der Weg auf die andere Seite des Mittellandkanals wechselt, wo rot auf weiß ein Pfeil mit einem stilisierten Fahrrad darunter nach rechts Richtung Brücke weist, eines der kleinen quadratischen Schilder, an denen ich mich bei meinen Fahrten zu orientieren pflege, dort wartet mit mir wie zufällig ein Fußgänger. Der gut gekleidete junge Mann so Mitte 30 hat ein Mobiltelefon am Ohr.

Vom morgendlichen Anziehen der Socken bis zum Abend, wenn sie wieder ausgezogen werden, summieren sich die Ereignisse auf eine Weise, dass bestimmte Menschen sich wie zufällig begegnen. Da nun aber alle Ereignisse im Leben dieser Menschen hinsichtlich Zeitablauf und Bewegung im Raum genau zu berechnen wären, ist’s natürlich überhaupt kein Zufall, dass der junge Mann und ich gemeinsam an der Ampel warten. Er schaut lächelnd in die Ferne wie zu seinem Gesprächspartner hin, den er wohl irgendwo weit weg im Norden vermutet, weshalb er laut hineinspricht in sein Mobiltelefon: „Also. Das Haus hat in den 60ern meine Mutter mit ihrem Vater gebaut. Aber es gehörte auch zu Teilen meiner Oma. Es wurde dann in den 80ern umgebaut, vielmehr kam ein Anbau daran und …“

Die Ampel springt auf Grün, und unsere Wege trennen sich wieder. Jetzt werde ich im Leben nicht erfahren, was es mit dem Haus seiner Mutter, ihres Vaters und der Oma auf sich hat und wieso er den Vater seiner Mutter nicht seinen Opa nennt, sein Vater aber sich am Hausbau nicht beteiligt hat, sondern die Sache dem Vater der Kindsmutter überließ. Hat er sich etwa nach der Zeugung einfach davon gemacht? Ist er vielleicht abgehauen in die Fremdenlegion oder hat als Matrose auf einem Lastkahn angeheuert, fuhr mir nichts dir nichts den Mittellandkanal hinauf, hakte schon das dicke Tau um die Ankerhaken tief unten im Flutbecken der Schleuse Anderten und stabilisierte Haken um Haken den Bug des auftreibenden Schiffes, derweil die junge Mutter zum ersten Mal die Söckchen über die Patschefüßchen des heute lachenden Erben zog?

Gut, ich will nicht beklagen, dass ich nicht genug erführe von den Geschehnissen der Welt. Manches zumindest darf ich wie zufällig erfahren, als ein Ergebnis von zu bestimmten Zeiten angezogenen Socken. Nur wenig später wird ein Mann mir seine Lebensgeschichte erzählen. Er wird leerlaufen wie ein angestochenes Fass, auch sein Portemonnaie aufklappen und die Fotos seiner Enkel zeigen nebst einer Ehrenkarte für den Saupark in Springe. Die aber sieht unter der hellen Sonne schon ziemlich schmuddelig aus. Anderes bleibt mir verborgen, ist mir nur für kurze Zeit zugänglich gewesen, als ich in den Papieren des PentAgrion lesen konnte. Und seither habe ich diese verfluchte Grütze im Kopf, weshalb ich mich habe erden und nicht nur vom Internet, sondern auch von den etablierten Schmockmedien habe fernhalten müssen.

Man kann also am Nordhafen nicht vorbei. Auf der inneren, der Stadt zugewandten Seite, drängt sich das Gelände von Volkswagen bis an den Kanal. Selbst von der anderen Seite des Mittelandkanals lässt sich das Volkswagengelände nicht einsehen. Auf seiner Höhe schwingt der Weg vom Kanal weg in den Wald hinein und später führt er hinter einem überwucherten mächtigen Erdwall vorbei, den zu ersteigen ein Zaun verhindert.

Bevor der Weg vom Kanal in den Wald eintaucht, umrundet er eine kleine Bucht. Dahinter erhebt sich prächtiges Grün. Um die Bucht sind einige Sitzbänke verteilt. Die sind allesamt besetzt, vielmehr, die zentrale Bank ist belegt. Da räkelt sich ein Weib im roten Bikini in der Sonne, ohne den Vorbeikommenden einen Blick zu schenken, wohl aber offenbar wünschend, dass man sie beachtet und betrachtet, wegen ihrer Schönheit beneidet oder bewundert. Ich beneide sie um die Bank und ignoriere sie, fahre vorbei und wähle die Bank am Ende der Bucht. Sie ist von großen Büschen beschattet, hat einen Zwilling gegenüber und dazwischen steht ein Tisch, so lang wie die Bänke selbst. Von hier ist das Bikinimädchen kaum noch zu erkennen, weshalb ich in Ruhe einen ausgedruckten Text lesen kann und gelegentlich etwas unterstreichen. Ab und zu tuckert ein Lastschiff vorbei, über mir zwitschert und tschilpt es im Busch, da bin ich beinah eins mit mir und froh, keinen Bikini zu tragen und mich lasziv in der Hitze räkeln zu müssen. Irgendwann knirschen Schritte auf dem Weg, aber als sie schon fast vorbei sind, werden sie wieder lauter. Ein braungebrannter Mann Anfang 60 tritt näher. Er trägt in jeder Hand einen Fahrradreifen und schickt sich an, die freie Bank gegenüber zu besetzen. Die Fahrradreifen hängt er sorgsam um das Ende der Lehne. Ich sage: „Fehlt Ihnen jetzt nur noch das Fahrrad dazu, aber eins ohne Mäntel.“

Er lacht und sagt: „Ja, die habe ich eben im Baumarkt gekauft. Ich will das Bad renovieren, und da habe ich die Mäntel gleich mitgenommen, denn ich komme ja aus Springe, und wenn ich schon einmal hier bin.“ Er habe eigentlich da sitzen wollen, wo die im Bikini sich breit mache. Das Bad gehöre seiner Tochter und dem Schwiegersohn. Derzeit wären sie zum Urlaub unten in Spanien, und da könnte er die Abwesenheit nutzen und das Bad neu machen. Er habe den beiden die Eigentumswohnung überlassen, wohne ja selbst im eigenen Haus. Sein Auto habe er ihnen auch gegeben, die Versicherung würde er aber noch bezahlen.

Ich erfuhr, dass er bei VW malocht habe, aber sein Herz nicht mehr hat mitmachen wollen, weshalb man ihn vorne ganz aufgemacht hätte, dass in der Folge seine Frau ihn verlassen habe, jetzt aber gar nicht glücklich sei mit ihrem neuen Mann. Das wäre aber wirklich ihr eigenes Problem, wer einen kranken Mann verlasse, habe es nicht anders verdient. Ihm hingegen ginge es prima, was auch sein Arzt ihm bestätigt hätte, wodurch es quasi amtlich wurde.

Das Herz hatte ihn offenbar zur Besinnung bringen müssen. Sich rechtzeitig den Zwängen zu entziehen, ist eine Kunst. Ich muss an den ersten deutschen Stuntman denken. Der hieß Arnim Dahl und hat mal einen Handstand gemacht in New York auf dem Geländer des Empire State Building. Im Laufe seiner Karriere erlitt er über einhundert Knochenbrüche. Als Dahl sich mit 70 Jahren endlich zur Ruhe setzte, sagte er im Interview: „Jetzt werde ich mein Leben genießen!“, ist dann aber bald gestorben. Offenbar ist der Genuss nicht jedem erlaubt, anders als Jeremias Coster, dem wundersamen Professor der Pataphysik an der RWTH Aachen.

Er sei, fährt der muntere Mann fort, schon ewig Mitglied im Spielmannszug von Springe, und wenn man sich träfe, würde nicht nur ordentlich gesoffen. „Wir spielen auch noch so richtig die alten Märsche, ‚In Treue fest’, Riga’ und ‚Preußens Gloria’“ Der Nachwuchs, das junge Volk spiele ja nur Kinderkram, ‚Biene Maja’ oder ‚Heidi’ und so was. Das beruhigt mich. Auch das krachend Martialische wird offenbar irgendwann albern. Alles Hehre, alles eitle Herumgestelze strebt also unvermeidlich dem kindischen, kalbsköpfig Blöden zu.

Ich packe meinen Kram zusammen. Da zeigt er mir noch rasch die Fotos seiner Enkel und den Ehrenausweis aus dem Wildsaupark in Springe, wischt dann aber ein bisschen beschämt drüber, weil der so schmuddelig ist. Die Sonne bringt es an den Tag. Er reicht mir die Hand zum Abschied und sagt: „Vielleicht sehen wir uns noch mal wieder.“ Und ich denke, ja, vielleicht fahre ich mal in den Deister und nach Springe, aber niemals wird man mich im Saupark antreffen. Wenn einem nämlich die Wildschweine derart die Sachen verdrecken. Ich hätte da auch gar nichts verloren in der Einfriedung hinter einer beinah 17 Kilometer langen und zwei Meter hohen Mauer, wo man das eingesperrte Wild vor die Flinten von Politikern und Vorstandsvorsitzenden treibt.

Den Rückweg nehme ich durch Hainholz und Herrenhausen, und wie ich in die lange Allee des Georgengartens einbiege, fährt vor mir eine Frau im tibetisch-roten T-Shirt. Da durchfährt es mich, ein wenig vor Freude, aber es zieht auch in meinen Magen hinab. Nach wenigen Tritten bin ich mit meiner Briefträgerin gleichauf.

„Da sind Sie ja endlich!“, sagt sie. "Ich habe Sie schon erwartet, nachdem Sie mich eben ignoriert haben."
„Mir ist nicht bewusst, Sie ignoriert zu haben. Das wüsste ich ja nur, wenn ich es nicht getan hätte. Und wie können Sie mich erwartet haben, Gina Enport oder Egport oder wie immer Sie heißen? Nicht einmal ich konnte wissen, wann ich mich wo befinden würde bei so einer Fahrt ins Blaue, in die mich meine neue Jacke getrieben hat.“
„Ach, das ist leicht gewesen, letztlich nur die Summe von beobachtbaren Abläufen.“
„Kommen Sie mir nicht so. Das ist meine Theorie. Und warum klingeln Sie eigentlich nicht mehr bei mir, sondern stecken mir die Post still und heimlich in den Kasten, allesamt Briefe, die ich nicht haben will. Lang-DIN! Wenn ich Lang-DIN sehe, weiß ich sogleich, das ist Dreck, Amtliches, Firmenpost oder Werbung, worin man sich ranwanzt an mich, weil man glaubt, meine Bedürfnisse zu kennen und ich frage mich woher eigentlich?“
„Es ist nicht meine Sache zu entscheiden, welche Post Ihnen zugedacht ist“, sagt sie und zieht eine Schnute. „Ich hätte mir eine andere Begrüßung von Ihnen erwartet, wenigstens ein freudiges Hallo, wie geht es Ihnen, liebe Gina? Stattdessen jammern Sie mir die Ohren voll, fahren auch viel zu schnell. Wollen Sie mich abhängen?“
„Alle hier in Hannover fahren auf Abhängen, immer voll am Anschlag. Einen Augenblick versinkt man in Gedanken, lässt einen Tritt aus, schon saust einer vorbei und zeigt dir das Hinterrad, und darauf steht in Laufschrift: „Ich bin schneller als du lahmer Hund!“


Vom Wilhelm-Busch-Museum her kommen zwei Radfahrer, nehmen meiner Briefträgerin die Vorfahrt und biegen ein in Richtung Dornröschenbrücke. Ich gehe raus nach links, um die beiden durchzulassen und auf meine Briefträgerin zu warten. Da raunzt mich der Äußere an: „Ja, was jetzt, geradeaus oder nicht?!“ Der sieht aus wie ein Nerd, der grad zum ersten Mal seit Monaten hinter seinem Computer hervor gekrochen ist. Ich sage: „Fahr du geradeaus, dann hast du genug zu tun!“

Hinter mir höre ich meine Postbotin noch lachen, doch wie ich mich umdrehe, ist sie weg.

Folge 2.3: Realer Ruch des Blutes
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