Papiere des PentAgrion - 2.3 Realer Ruch des Blutes

Papiere des PentAgrion bd 2
Folge 2.1 - Die Macht der Jacke - Folge 2.2 - Von den Socken

Manchmal, so gegen Morgen, träume ich konzeptionelle Träume. Die nenne ich so, weil sie nicht von deutlichen Bildern begleitet sind, sondern sprachlichen Ideen folgen. Der von heute Morgen ging so:
Einer verwandelt sich in ein Tier, dann in ein größeres, angsteinflößendes Untier, dann in ein riesiges, hässliches Ungeheuer, vor dem alle flüchten, und als er sich wieder zurückverwandeln will in den Menschen, der er einmal war, da hat er nicht mehr in sich reingepasst und musste ein Ungeheuer bleiben.
Bei solchen Träumen habe ich das Gefühl, schon wach zu sein, sacke dann aber mehrmals noch weg, bis ich endlich die Füße auf die Dielen stelle, den rechten zuerst, und mich aufrichte. Meistens flüchten die Träume, wenn ich Fuß gefasst habe in meiner Welt. Dann bin ich ziemlich sicher, nicht mehr zu träumen. Denn alles um mich herum ist noch wie am Tag zuvor. Warum, frage ich mich, kann ich beim Erwachen nicht jemand anders sein? Ein Seehund zum Beispiel, der einen bunten Ball auf seiner Schnauze balanciert. Und habe ich meine Sache gut gemacht, wirft man mir vom Beckenrand köstliche Fische zu. Dann freilich wüsste ich nicht, dass ich nicht immer ein Seehund gewesen bin. Theroetisch könnte ich also an jedem Morgen jemand anders sein und würde nur glauben, es wäre die Existenz vom Tag zuvor.

Es steht nicht in meiner Macht, einer der Rollen zu entkommen, die mir der kosmische Lenker zugedacht hat. Er ist kein Gott. Mich hat kein Gott gemacht, aber er agiert wie ein Gott, kann mich umher schicken, kann mir Ereignisse vor die Füße werfen, mir Probleme aufladen, kann mich Dinge hören und lesen lassen, mir hübsche oder unerfreuliche Begegnungen antun, er steuert meine Träume, meine Gedanken und meine Worte, ganz wie er lustig ist. Und ist er einmal unlustig, kann er mich nach Belieben vernichten.

Das Wort Autor ist dem lat. auctor entlehnt. Es bedeutet „Urheber“, „Schöpfer“, „Förderer“, „Veranlasser“. Meinen Schöpfer nenne ich JvdL, denn ich weiß nicht, wie der Name tönt. Auch die Hebräer schreiben den Namen ihres Gottes JHWH nur mit Konsonanten י ה ו ה, weil sie nicht wissen, wie er ausgesprochen wird. Ich bin nicht sicher, ob JvdL der wahre Name meines Schöpfers ist.

SCHNAUZE, TRITHEMIUS!

Er nennt mich Trithemius und hat mir die Rolle des Ich-Erzählers in seinem Roman zugeschrieben. Dieser Roman ist ein wahres Tollhaus. Seine Räume, Gänge und Flure sind ein sich ständig erweiterndes Labyrinth. Es fällt mir schwer, mich darin zu orientieren. Manchmal erweckt mein Schöpfer den Anschein, er wäre ich, und manchmal räche ich mich für diesen Übergriff und nehme seine Identität an. Dann habe ich plötzlich den Außenblick auf meine Welt und kann Sachverhalte und Beziehungen überblicken, die mir sonst verborgen sind.

Das ist Unsinn, mit Verlaub. Ich bitte um Entschuldigung für die verwirrende Passage. Eine Erzählfigur kann nicht einfach aus dem Kontext der Erzählung heraustreten und Spekulationen über die erzählte Welt und ihren Urheber anstellen. Nie und nimmer.

Ach ja? Ebenso wenig kann ein Urheber mit den Subjekten seiner Schöpfung disputieren. Beide gehören verschiedenen Dimensionen an, und zwischen der unteren und oberen Ebene gibt es keine Verbindung, die eine wechselseitige Kommunikation ermöglicht. Selbst wenn ich sage: „Du, mein Schöpfer, kannst mich mal! Deine Welt nervt mich. Da ist einfach nicht genug Ordnung, mein HErr!“, dann ist mir das nur möglich, wenn du deine eigene Schmach veröffentlichst. Es ist nicht anders als in deiner Welt, die du Realität zu nennen beliebst. Der dich gemacht hat, schreibt dich, und schreibt er dir ein ödes Leben an den Hals, dann kannst du auf den Knien rutschen, ihm Rauchopfer darbieten, ihm Dome bauen, kannst dir eine Kaffeemütze auf den Kopf setzen und deinen Mitmenschen erzählen, du hättest Gottes Ohr und könntest ihm was einflüstern; du weißt, du bist ein Betrüger, eitler Diener eines faulen Zaubers.

Verzeihung, ich muss mich sammeln. Habe ich mir die Begegnung mit Gina Enport nur eingebildet? Wäre das möglich? Die beiden Radfahrer, von denen ich dachte, sie hätten ihr die Vorfahrt genommen, vielleicht war da niemand, dem der Nerd auf dem Fahrrad die Vorfahrt hätte überlassen können. Vielleicht habe ich ihn völlig zu Unrecht angepflaumt. Aber auch der Mann aus Springe hat die Enport gesehen, wie sie sich im roten Bikini auf der Sitzbank geräkelt hat. Ihn könnte ich fragen, wenn ich gescheit genug gewesen wäre, mir seinen Namen zu merken. Oder hat er ihn gar nicht gesagt? Ich könnte nach Springe fahren und beispielsweise in der Fleischerei fragen nach einem Mann Anfang 60 mit zwei Enkelkindern, der im Spielmannszug trommelt und eine Ehrenkarte vom Saupark besitzt. Diese Angaben müssten reichen. Freilich halte ich immer die Luft an, wenn ich an Fleischereien vorbeikomme, weil ich den Ruch des Blutes nicht ertrage. Das wiederum beweist, dass ich ein fühlender Mensch bin und keine Fiktion.

Folge 2.4: Der Autor ist verwirrt
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