Ein dicker Mann am Gummiband - Der Gott der Beredsamkeit fährt Rad - Ohren kauen im Duett

Pataphysische Forschungsreise (5.1) – Durchs Ruhrtal nach Essen - Teil 1.1 - Teil 1.2 - Teil 2.1 - Teil 2.2 - Teil 3.1 - Teil 3.2 -
Teil 4.1 - Teil 4.2

In der Nacht hat es ordentlich geschüttet. Jetzt strahlt der frischgewaschene Morgenhimmel in zartem Blau. Früh bin ich aufgestanden und habe gefrühstückt, denn Frau Max sagt, dass ich bis Essen gut 80 Kilometer zu fahren hätte. Die Sonne malt einen Lichtkegel in den Hof des Hotels. Ich stelle mich hinein und rauche. Dann packe ich mein Rad und breche auf. Kalter Dunst liegt über dem Ruhrtal. An einer Steigung in ein tropfendes Waldstück fährt ein massiger Mann, das Fahrrad einseitig mit einer Packtasche behängt. Ein weißes T-Shirt klebt nass an seinem Rücken. Er hat gerade ein Paar auf Fahrrädern eingeholt, und bevor ich an den drei vorbeifahre, nicht ohne sie mit einem kräftigen „Morgen!“ zu erschrecken, sagt er zu den beiden: „Da bin ich wieder!“

Mich packt der Ehrgeiz, und ich mache eine Weile ordentlich Tempo. Bei mir soll keiner am Gummiband hängen. Bald führt der Ruhrtal-Radweg auf eine Brücke, in deren Mitte ein Bahngleis liegt. Drei Schwäne haben sich aufgemacht, um trockenen Fußes auf das nördliche Ufer zu wechseln. Sie nehmen die Schienen. Offenbar sind sie im früheren Leben Eisenbahner gewesen. Die Kamera habe ich zu Hause gelassen, denn wenn ich dauernd anhalte und fotografiere, komme ich im Leben nicht nach Aachen. Auch ist Fotografieren eine verführerische Technik. Sie schwächt die Erinnerung, indem sie das Wort verdrängt. Aber hier halte ich und knipse das Schauspiel mit dem Handy. Derweil ich die Schwäne verfolge und einen günstigen Kamerawinkel suche, nähert sich wieder der dicke Mann im weißen T-Shirt.

Gänse-auf-Schienen

Donnerwetter oder „Sauaas“, wie der Aachener sagt, der ist beharrlich, und trotz seiner Fülle fährt er nicht schlecht. Doch ich halte Abstand. Hinter der Brücke treffe ich einen alten Radfahrer auf dem Rennrad. Sein runder Tritt beweist, dass er in seinem Leben schon manchen Kilometer gefahren ist. Als er hört, dass ich zum Kemnader See will, beschließt er, mich zu begleiten. Wir rollen flott an der Ruhr entlang, und es dauert nicht fünf Kilometer, und ich kenne die wichtigsten Stationen seines Lebens. Auf den folgenden Kilometern geht er ins Detail, zählt auf, welche Alpenpässe er mit dem Rad gefahren ist und wann und warum er von solchen Touren lassen musste. Es folgen die Einzelheiten seiner Leidensgeschichte. Gelegentlich versuche ich etwas zu sagen, doch Seite um Seite einer gewaltigen Krankenakte wogt heran. Da muss jedes Wort von mir ersaufen. Er ist wie Ogmios, der keltische Gott der Beredsamkeit, dessen Zunge am Ohr des Zuhörers angekettet ist. Er bläst mir die Ohren voll, er quasselt mich bewusstlos. Er quatscht mir ein Ohr blutig. Er labert mir eine Kante ans Bein. Er läuft leer wie ein angestochenes Fass. Aber es ist ein großes Fass, und der Strahl ist gewaltig. Wenn man eine Turbine zwischenschalten würde, könnte der Wortschwall seine Wohnung das ganze Jahr mit Strom versorgen. Hat man diese Form regenerativer Energiegewinnung schon bedacht? Die redseligen Leute des Ruhrgebiets wären eine unerschöpfliche Quelle.

Ich kann mich auf nichts konzentrieren. Das Ruhrtal unter der Sonne zeigt sich von seiner schönsten Seite, bietet herrliche Ausblicke auf bewaldete Hänge, die Ruhr fließt mal still, mal schießt sie über Wehre, mal weitet sie sich zu langen Seen, aber rechts hat sich Ogmios an mir festgebissen und schleppt mich durch Notaufnahmen, Operationssäle und Aufwachräume. Wetter, Herdecke, Witten – nichts davon gesehen. Die Orte bleiben weiße Flecken auf meiner inneren Landkarte. Wir überholen unzählige Radfahrer, aber ich nehme sie kaum wahr. Auf der Höhe von Ortschaften wandeln sich die Ruhrauen zu gepflegten Parks, wo allerlei Volk lustwandelt oder auf Bänken hockt und die lang vermisste Sonne begrüßt. Ich mache Ogmios zaghaft auf schöne Plätze aufmerksam, die allemal einen Grund bieten zu verweilen, doch er sagt: „Nein, ich bringe sie zur Fähre am Kemnader See. Da können Sie Ihren Sohn treffen, aber nicht an der Brücke. Die ist nämlich weggeschwemmt.“ Inzwischen hat er die stattliche Krankenakte seiner Frau aufgeschlagen, und die wird bestimmt bis Kemnade reichen.

An einer Promenade tut sich ein Platz mit Bänken auf. Hier setze ich mich durch und sage, dass ich halten will. „Aber…“, vorwurfsvoll wedelt er mit der Krankenakte seiner Frau, „... wir sind ja erst beim Inhaltsverzeichnis!“ Doch ich bin unerbittlich. Die Krankenakte seiner Frau geht mich nun wirklich nichts an. Da fügt er sich bedauernd und verabschiedet sich mit besten Wünschen. „Vielleicht sehen wir uns ja noch mal!“ „Ja, ja, im nächsten Leben vielleicht!“ Aber wenn ich dann die Krankenakte seiner Frau durchackern muss, bin ich im nächsten Leben lieber ein Schwan, der auf Schienen läuft, weil er vorher ein wasserscheuer Bahnbeamter war.

Na gut, bei Klar-a in Essen werde ich mich rächen und vorlesen, bis denen die Ohren qualmen. Die sollen mich mal kennenlernen im Ruhrpott. Man kann auch einen Bären zanken. Ich drehe mir eine Zigarette, sitze rauchend in der Sonne und genieße die Stille an der Ruhr, esse einen Apfel, telefoniere mit Malte und verabrede mich für 13 Uhr an der Fähre, spreche mit Klar-a und sage, wann ich ungefähr bei ihr sein werde, rufe auch meine liebe Filialleiterin Frau Nettesheim an. Dann hole ich die Karte der Kaiserroute heraus und stelle fest, dass Ogmios mich bis nah an den Kemnader See gebracht hat, quasi im besinnungslosen Zustand.

Plötzlich blitzt ein weißes T-Shirt auf, der am Gummiband flutscht heran und parkt sein Rad neben meinem. Er kommt aus Menden. Das liegt ein Stück noch hinter Fröndenberg. Als ich ihn am Morgen im Wald bei Schwerte zum ersten Mal sah, hatte er also bereits eine ordentliche Strecke hinter sich. Wir sitzen eine Weile plaudernd auf der Bank. Er ist Mitglied im ADFC, einem Verein, der für Radfahrer sein will, was der ADAC für Autofahrer ist. Viele Bequemlichkeiten, die man als Radfahrer hat, gehen auf das beharrliche Einwirken des ADFC zurück. Polizei und öffentliche Verwaltungen verstehen die Straßenverkehrsordnung noch immer als Autoverkehrsordnung. Da bin ich froh im vorbildlichen Hannover zu wohnen und nicht etwa wie er in Menden, wo man kaum Radwege hat. Meine Achtung für diesen Lehrer und Moderator für Verkehrserziehung steigt.

Wir fahren zusammen los, aber er hängt weiter am Gummiband. An jedem Anstieg bleibt er zurück. „Ich bin zu langsam für Sie“, sagt er. „Na ja“, sage ich, „Sie haben einiges hoch zu schleppen.“ Mich wundert, dass er solche Strecken fährt, wöchentlich eine Tour mit dem ADFC macht, und trotzdem seine Pfunde nicht loswird. Aber der Frust über ignorante Verwaltungsmenschen ist wohl groß. Den ertränkt man bei den Zusammenkünften des ADFC in Bier. Pro Jahr verliere er fünf Kilo, sagt er. Seine Schlankheitskur ist also auf mindestens 10 Jahre angelegt. Kurz vor dem Kemnader See trennen sich unsere Wege.

An einem Zulauf mit Fähre und Schleuse steht ein hübsches Fachwerkhaus. Radsportler, Mountainbiker, Tourenradler und Ausflügler sitzen an diesem lauschigen Platz in der Sonne, trinken Kaffee oder Bier, essen Knüppel mit Gerümpel oder nur Bratwurst, nur Pommes rot-weiß, Wespen umschwärmen meine Cola, es ist sehr gesellig. Zwei Radsportler sitzen da, alte Kämpen, und der Kleinere, ein Ruhrpott-Original, unterhält alle Tische. Als sie sich verabschieden, sagt er: "Ich hab noch eine Frau, die steht auf meiner Lohnsteuerkarte, also muss ich da wieder hin.“

Malte ruft an und findet mich nicht. Ich wähne mich am Kemnader See und beschreibe ihm die Stelle. Aber ich bin noch gar nicht am Kemnader See, wie wir viel später herausfinden. Eine große Gruppe Tourenradler hält an. Da baut sich ein weißhaariger Mann vor mir auf und sagt: „Sie ... habe ich heute schon dreimal gesehen!“ Erstaunt schaue ich hoch. „Wirklich?“ „Ja, ich sah Sie überall mit Leuten sprechen. Da dachte ich, der quetscht Leute aus!“ Was? Musste ich vielleicht irgendwen ausquetschen? Einmal habe ich einen Radsportler nach dem Weg gefragt, der mir auf einer schmalen Brücke entgegenkam. Der hatte einen gezwirbelten Schnurrbart, aber nicht mal den musste ich ausquetschen. Und ein leer laufendes Fass kann man nicht quetschen. Auch den Mann im weißen T-Shirt habe ich nicht gequetscht. So lange Arme habe ich gar nicht.

Frau Nettesheim hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Herr zu mir gekommen sei, weil er ebenfalls von mir gequetscht werden wollte. Das aber habe ich nicht bemerkt.


Er ist ein Bauingenieur aus Köln, ein Herr mit Manieren. Zuerst sticht er mich an und wartet höflich darauf, was aus mir denn so herauslaufen würde. Und ich höre mich reden und reden. Dass ich ein reisender Internetdichter sei auf pataphysischer Forschungs- und Lesereise, wobei aus Mangel an Antizipation und wegen des Regens meine Reise erst ab Essen eine Lesereise genannt werden könne, dass ich ein virtuelles Teppichhaus hätte, in dem während meiner Abwesenheit meine Filialleiterin Frau Nettesheim das Sagen hat, aber auch, wenn ich da bin. Erst nach ausreichend bemessenen Nachfragen, die mir das Gefühl geben, ich habe mich leer gequatscht, erst dann sticht er sich selber an: Er habe damit angefangen, Tandemgeschichten zu sammeln, Erfahrungsberichte von Paaren, die sich symbiotisch auf ein Fahrrad hocken. Inzwischen habe er soviel Material, dass ein Buch daraus werden könnte. Mich fasziniert bei Tandemfahrern, dass die Frau grundsätzlich hinten sitzt. "Ja", sagt er, "aber das hat seinen Grund. Tandems sind enorm schwer zu lenken, und den meisten Frauen fehlt dazu die Kraft. Zudem ist der Mann meistens größer, bietet also der Frau mit seinem breiten Rücken einen idealen Windschatten." Die Frau sieht dafür natürlich nicht viel von der Landschaft, hat aber einen freien Blick auf seinen Arsch. Der Bauingenieur ist auch Schachspieler und liebt daran die künstlerische Poesie bestimmter Schachstellungen. "Matt in drei Zügen" und so. Ich verstehe nicht viel davon, erinnere mich nur an die Geschichte von der Schach spielenden Ratte. Die Schachspieler finden nichts dabei, gegen eine Ratte anzutreten, monieren aber, dass die Ratte nicht besonders gut spielt.

Kemnader-see

Malte ruft wieder an. Inzwischen ist er den ganzen Kemnader See rauf und runter gefahren, aber das Schleusenhaus hat er nicht gesehen. Ich gebe der Frau an der Essensausgabe das Handy, sie soll ihm erklären, wo wir sind. Erst danach wird mir klar, dass ich die ganze Zeit an der falschen Fähre gewartet habe. Ohne Handy hätten wir uns vermutlich nie gefunden. So aber starte ich, und wie wir noch erneut telefonieren, schießt einer mit wehenden langen Haaren aus einem Seitenweg, ganz in Schwarz auf einem schwarzen Bike. Mein Sohn. Da ist die Freude groß. Wir haben uns über ein Jahr nicht gesehen. Inzwischen ist heftiger Gegenwind aufgekommen, und mein eigener Sohn muss mir Windschatten geben. Jetzt hänge ich am Gummiband und bin froh, wenn ich an seinem Hinterrad lutschen kann. Malte sagt, wenn ich so lange Pause gemacht hätte, wäre das nicht verwunderlich. Mein Körper wäre schon in die Ruhe- und Erholungsphase eingetreten. Und später sagt er: "Ich glaube, wenn du kein Gepäck hättest, würdest du mich noch langmachen." So spricht ein guter Sohn. Wir haben noch ein ganzes Stück zu fahren bis Essen. Malte tröstet mich: "Ab jetzt ist alles flach." Er kennt sich aber auch nicht aus, denn er wohnt in Mülheim. Und so kann ich nicht murren, als die versprochene Ebene sich wie eine Achterbahn wellt. Erst als wir versehentlich auf die Mountainbike-Strecke geraten, die nicht nur steil in den Wald führt, sondern noch mit scharfkantigen Felsen aufwartet, die kaum zu befahren sind mit Gepäck auf dem Rad, sage ich: "Ein Glück, dass hier alles flach ist."

Fortsetzung: Glücklich bei Klara - Lesung mit Hilfe der Katze - Soziologie der Bürgersteige
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