Schon wieder nasses Hemd – Alptraum der Familie Mantels - Ich beichte, schmunzle und gebe zu denken

Pataphysische Forschungs- und Lesereise (7.2) - Aachen (Samstag)
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Eine seltsame Sache verfolgt mich. Mal scheint sie weg zu sein, dann kehrt sie heimtückisch wieder. Meist tritt sie auf, wenn ich an den PentAgrion-Texten schreibe und tief hineingerate in die Romanwelt. Mein tatsächliches Leben und das des Icherzählers beginnen sich wechselseitig zu beeinflussen. Manchmal lasse ich etwas in der Romanwelt geschehen, ohne zu wissen, wohin es führen wird, und irgendwann passiert es ähnlich in meinem Leben. Was ist Ursache, was Wirkung? Sind es Vorahnungen, die mich im Roman vorwegnehmen lassen, was mir real passieren wird, oder geschehen diese Dinge, weil ich sie geschrieben habe? Beides ist mir nicht recht, denn es nimmt mir die Freiheit. Ich kann es nicht steuern, sonst würde ich mir einen Lotteriegewinn an den Hals schreiben und ähnlich erfreuliche Dinge. Zumindest den Lotteriegewinn habe ich mir aber vermutlich versaut.

Ein harmloses Beispiel ist das nasse Hemd. Im Roman hat der Ich-Erzähler zum ersten Mal in seinem Leben Zugang zum Kerstenschen Pavillon, und weil er schnell den Lousberg hinauf hat gehen müssen, ist sein Hemd völlig durchnässt, was in der Folge zu peinlichen Entwicklungen führt. Ähnliches geschieht an diesem Samstag. Es ist sehr schwül, als ich mich auf den Weg zum Lousberg mache. Thomas ist schon vorgegangen, um den Schlüssel für den Kerstenschen Pavillon zu holen, und ich fahre später mit dem Rad hinterher. Ich kann mir Zeit lassen, ermahne mich, nicht zu schnell zu fahren. Aber wie ich am rückseitigen Eingang des Kerstenschen Pavillons ankomme, ist mein Hemd klatschnass. Das ist mir unangenehm, nicht nur, weil mir das Hemd am Körper klebt, sondern, weil ich die peinlichen Entwicklungen fürchte. Man könnte einwenden, dass ich schwitze, weil ich den Lousberg hochgefahren bin. Aber Thomas muss recht schnell gegangen sein, hatte noch einen weiteren Weg und schwitzt überhaupt nicht.

Da kommen Heinz und Doris, gut eine halbe Stunde zu früh. Verflixt, jetzt sehen wir uns nach Jahren wieder, und mein Hemd ist nass. Mit Heinz habe ich studiert. Er war wie ich vor dem Studium Handwerker, ist gelernter Metzgermeister. Aber ich glaube, die Schweinehälften waren ihm zu schwer zu buckeln. Heinz und ich waren schon als Kunststudenten Pataphysiker. Irgendwo im Teppichhauslager habe ich einen Text, der davon erzählt. Er heißt dort Herbert Nebenmann. Es ist schade, wir können gar nicht viel miteinander reden, denn wir müssen Thomas helfen, die Stuhlreihen aufzubauen. Ich halte mich aber bald zurück. Wenn ich beim Stühle schleppen erneut ins Schwitzen gerate, trocknet mein Hemd nie.

Der barocke Kerstensche Pavillon steht mitten im Lousbergpark an einem Steilhang. Zum Vordereingang führt eine lange Treppe. Der rückwärtige Eingang ist ebenerdig zum Plateau, auf dem einst das Gesellschaftshaus Belvedere gestanden hat. Es wurde im zweiten Weltkrieg zerstört, aber da stehen und liegen noch ein Dutzend klassizistische Säulen auf dem Rasen. Ein Brautpaar nutzt die Kulisse und lässt sich von einem Fotografen und einer Fotografin ablichten. Der Fotograf ist ein Großmeister der Hochzeitsfotografie. Er legt sich mit der Kamera im Anschlag auf den Bauch und lässt das Hochzeitspaar springen. So hoch sie können, sollen sie springen. Was die beiden bieten, reicht ihm nicht. Sie sollen springen und dabei ulkig die Beine verrenken. Sie springt aus dem Stand höher als er. Der Fotograf ermahnt den dicklichen Bräutigam, er müsse sich mehr ins Zeug legen. Wie sieht denn das aus, wenn er wie ein Sack über der Grasnarbe hängt, derweil ihm das weiße Brautkleid um den Bauch flattert. Ach, wie müssen die beiden springen, bis der Fotograf zufrieden ist. Die Fotografin hockt derweil an der Seite und schießt Fotos aus einer anderen Perspektive.

Ich finde das zu wenig. Da müsste ein Heer von Fotografen sich drängeln, sich gegenseitig anrempeln, und die Fotografen in der hinteren Reihe müssten die Kameras über die Köpfe der anderen halten oder besser noch, ihrerseits hochspringen. Es fehlen Scheinwerfer und reflektierende Schirme, die von Praktikantinnen gehalten werden. Bei einer Hochzeit darf man sich doch nicht lumpen lassen und an der Hochzeitsfotografie sparen. Schließlich wird ein einmaliger Moment im Leben des jungen Paares festgehalten. Sie werden vielleicht noch mal heiraten, aber dann andere Partner. Sicherheitshalber sage ich schon mal „Herzlichen Glückwunsch!“ Der Fotograf hört das gar nicht gerne, denn ich halte die beiden vom Springen ab, vielmehr nehmen sie die Gelegenheit war, mal für einen Moment am Boden zu bleiben, schnaufen aus und sagen danke. Heiraten wird offenbar immer anstrengender.

Langsam füllen
sich die drei Stuhlreihen im Kerstenschen Pavillon. Rund 25 Zuhörer haben sich eingefunden, überwiegend aus dem Freundeskreis von Thomas. Die Aachener Nachrichten haben eine junge Mitarbeiterin geschickt. Sibille Spiegel, stellvertretende Vorsitzende des Lousbergvereins, spricht einführende Worte, dann übergibt sie auf Gedeih und Verderb das Publikum an mich.

Es hat etwas Erhabenes, unter der hohen Kuppel dieses barocken Lustpavillons zu lesen. Zudem schaut die Nachmittagssonne durch den Haupteingang herein und flutet ihn mit Licht. Das ist gewiss kein Zufall, sondern Kalkül des Baumeisters Johann Joseph Couven. Der Pavillon steht hier ähnlich wie an seinem ursprünglichen Platz im Garten des reichen Färbereibesitzers Nicolaus Mantels, und wenn sich die Herrschaften im Sommer in ihrem Gartenhaus zum Tee gesetzt haben, sollte die Halle lichtdurchflutet sein. Dass dereinst ein digitaler Teppichhändler sich darin sonnen würde, hätten sie wohl nicht in ihren schlimmsten Alpträumen gedacht. Zumindest hätten sie bei manchem Text den Tee in den falschen Hals gekriegt.

Einfach ist es nicht, gegen das Hüsteln der Patrizierfamilie Mantels anzulesen, zumal meine Stimme sich zur hohen Decke verliert, so dass mich eine Dame bittet, lauter zu lesen. Gut, ich lese meine Texte gerne laut. Nichts gegen die Mantels, aber ich habe mehr zu bieten als dahin plätschernde Banalitäten einer Teerunde. So jedenfalls ermuntere ich mich. Drei Leute glauben das nicht und machen sich in der Pause davon, meine Exfreundin und ein Paar, das offenbar zu ihr gehört.

Das Publikum ist freundlich und interessiert. Aber auch bei lustigen Textstellen wird nur verhalten geschmunzelt. Der Funke will nicht recht überspringen. Bei der Wahl der Uhrzeit habe ich mir versehentlich ins Knie geschossen. Um 16 Uhr ist der menschliche Zirkadianrhythmus noch im Tief. Nach dem Mittagessen fällt der Mensch ins Suppenkoma, und überwindet es erst gegen 17 Uhr. Ich lese bis 17:30 Uhr. Darum wird es zum Schluss hin besser. Zwischendurch taucht der Pressefotograf in der Terrassentür auf, schießt ein paar Fotos und ist wieder weg. Ich muss nicht mal hochspringen. Ralf Roegers Pressefoto gefällt mir. Doch ich kann es leider nicht für den Preis Standfoto der Woche nominieren, der vom Verein der Freunde verschmockter Zeitungsfotografie (VDFVZF) vergeben wird, dessen einziges Mitglied ich bin. Aber er wurde sowieso schon einmal ausgezeichnet.

Nachrichten-Mitarbeiterin Denise Petzold hat einen hübschen Text über meine Lesung verfasst. Nur die Überschrift ist ein bisschen irreführend. Ich bin ja nicht der Schlüsseldienst von Veronica Ferres. Vermutlich hat der Redakteur gedacht, dass Frau Ferres in der Überschrift ein Augennagel ist. Obwohl ich sie im fraglichen Text "Es geht immer noch schlimmer" verspotte, wirbt Ferres also für das Teppichhaus Trithemius, und zwar selbstlos kostenlos. Die Zeiten bessern sich.


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Aachener Nachrichten vom 23.08.2010
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Gegen 18 Uhr sitzen Thomas und ich vergnüglich am Markt vor dem Postwagen in der Sonne und trinken Kölsch. Wie immer kommen andauernd Leute vorbei, die Thomas kennt. Manche setzen sich für eine Weile zu uns an den Tisch, so eine hübsche fröhliche Frau, mit der Thomas nachher diskutiert, wie groß das Marianneninstitut am Annuntiatenbach ist, in dem zwischen 1897 und 1955 rund 40.000 Aachener geboren sind. Zuvor hatte ich noch nie von dieser Produktionsstätte für Aachener gehört, aber irgendwo müssen sie ja hergekommen sein.

Neben mir sitzt auch ein kleiner Mann, den ich schon aus der Zeit meines Studiums vom Sehen kenne. Ich bin hunderte Mal an ihm vorbeigegangen und sah ihn in die Jahre kommen. Jedes Jahr, wenn es kalt genug war, stand er vor einem Kaufhaus in der Nähe des Marktes und verkaufte heiße Maronen. Jetzt höre ich, dass er mit den Maronen soviel verdient, dass er nur im Winter arbeiten muss, sogar noch weitere Maronenstände besitzt. Er wundert sich, dass wir uns an der Hochschule nie begegnet sind, denn wir haben beide Germanistik studiert. Mich wundert es nicht; ich habe nur das Nötigste gemacht, da ich arbeiten musste, um Studium und Familie zu finanzieren. Ich war Projektleiter im AStA-Pressereferat, Drucker in der AStA-Druckerei, Referent beim Pressesprecher der RWTH, wo ich ein eigenes Büro hatte, habe Broschüren, Hochschulzeitungen und zwei belgische Discjockey-Zeitschriften layoutet, eine in Französisch und eine in Flämisch, und zeitweise hing das ganze Hochschulviertel voller Plakate, die ich gestaltet hatte. Das hätte ich einfacher haben können, wenn ich Maronen verkauft hätte, aber darauf muss man erst mal kommen.

Ein gut gelaunter Mann setzt sich zu uns, der auf einem Klapprad herangeradelt war. Das Rad lasse sich so klein zusammenfalten, das könne er sogar im ICE mitnehmen, wo es nicht mehr Platz benötige als gewöhnliches Handgepäck. Da würde also selbst die Japanerin staunen. Er verspricht, zu der Lesung am Sonntag in der Galerie Perplies zu kommen, vorausgesetzt, seine Frau gebe ihm keinen anderen Marschbefehl. Für die Freizeitplanung sei nämlich seine Frau zuständig, da müsse er sich nicht drum kümmern. Es gibt viele Wege ins Glück, und einen davon hat er offenbar gefunden. Manchem wäre der vielleicht ein bisschen eng, aber wenn er ein Miniklapprad hat, dann geht’s.

Fortsetzung: Mischmasch, Mischmasch, Mischmasch - Grausame Pataphysik - Ich bin schon 20
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