Glücklich bei Klara - Bei der Lesung hilft die Katze - Soziologie der Gehwege

Pataphysische Forschungs- und Lesereise (5.2) – Essen
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An den ersten Tagen meiner Reise, als es regnete, nieselte, regnete und dann wieder schüttete, ist mir schon mal die gute Laune entfleucht. Dann war es mir ein Trost, dass mich am Donnerstag in Essen die Blogfreundin Klara erwartet. Auch diesmal sollte sich der eigenartige Effekt des Bloggens zeigen: Man kennt sich nur über Texte und Kommentare, doch begegnet man sich im fassbaren Leben, ist man sogleich vertraut. Nach all den Tagen in der Fremde bin ich erleichtert, dass mir diese sympathische, agile Frau ihre Gastfreundschaft gewährt. Es geht erfreulich unkompliziert zu. Klaras Sohn ist auf einem Konzert, sein Mitbewohner im Urlaub, und so habe ich deren Wohnung für mich. Klaras Wohnung liegt gleich nebenan, und über Terrasse und Garten sind sie verbunden. Eine Weile sitzen wir zum Kaffee in ihrer Küche. Doch zeitweilig muss sie auch aufgestanden sein, denn am Schluss unserer anregenden Plauderei hat sie nebenher das Abendessen bereitet. „Wenn man viel hineinzustecken hat, hat der Tag auch 100 Taschen“, sagt Nietzsche. Und wer am Tag viel zu erledigen hat, hat wohl auch 100 Hände, um drin zu hantieren. Wann Klara ein paar Sachen von mir gewaschen hat, weiß ich nicht. Sie hängen jedenfalls bald am Wäscheständer auf der Terrasse.

Vor dem Eintreffen ihrer Gäste habe ich mir ein weißes Hemd und ein Jackett angezogen. So hoffe ich, die fünf eingeladenen Freundinnen davon abzulenken, dass ich von der heutigen Tour ziemlich fertig bin. Die Damen kommen zeitig und haben noch Salate mitgebracht. Als Vegetarier ist man ein schwieriger Gast. Klara hat meinetwegen vegetarische Kochbücher gewälzt. Es gibt eine Brokkolisuppe, dann Kartoffelgratin, dazu diverse Salate, Käse und Pizzabrote, zum Nachtisch Tarte au chocolat mit Himbeeren. Die Damen trinken Wein, ich Bier, das die freundliche Nachbarin eigens für mich geholt hat. Es ist ein wunderbares Abendessen und eine gesellige Runde. Trotzdem halte ich mich zurück. Mit vollem Bauch zu lesen, scheint mir nicht ratsam.

Irgendwann tragen wir die Stühle in den Garten und stellen sie in einen Halbkreis vor meinem Platz. Der Garten hat noch eine ganze Weile Sonne und bietet beste Bedingungen für die erste Lesung aus den pataphysischen Geheimpapieren. Meine Zuhörerinnen sind bald gefesselt. Arglose Leser könnten jetzt denken, ich hätte die Damen festgebunden, damit sie nicht entfliehen oder am Ende vor Erschöpfung vom Stuhl rutschen. Aber so wahr ich hier sitze, mit dieser Fesselung habe ich nichts zu tun. Das war ein glücklicher Zufall.

Vor einiger Zeit haben Klara und ihr Sohn eine Katze bei sich aufgenommen, die sie verletzt an der Straße aufgefunden hatten. Dieser Katze geht es dank fürsorglicher Pflege wieder gut. Bald soll sie frei herumlaufen dürfen. Um sie an den Garten zu gewöhnen, hat Klara sie an eine lange Schnur gelegt. Die Katze Loki streift also mit ihrer langen Schnur durch den Garten. Dabei achtet sie natürlich nicht darauf, ob sie beim Herumlaufen ein paar Damen umkreist und an ihre Stühle bindet, just wenn ihnen ein Internetdichter etwas vorliest. Als Katze hat sie keine Ahnung von der schwierigen Internetdichtkunst, springt nur hierhin und dahin, und schon sind die Damen festgezurrt. Ich bin beruhigt, dass meine Zuhörerinnen erst mal nicht weg können, lasse so manchen launigen Text vom Stapel, lese den, den auch und diesen da noch, dann den, den und den, nein, zuerst den, dann den und so weiter und so weiter, die Sonne sinkt hinter die Bäume, es dämmert, die Nacht sinkt herab. Klara hat sich natürlich nicht festbinden lassen. Sie kennt die Tücken ihrer Katze. Sie holt Kerzen, und im Schein der Kerzen lese ich weiter, denn da sind noch viele Texte, der da und der und der.

Pataphysische GeheimpapiereDass ich spät in der Nacht noch die Anleitung für meinen neuen mp3-Player in allen Weltsprachen vorgelesen habe, ist ein Versehen gewesen. Bei Kerzenlicht kann man sich schon mal vergreifen. Zum Glück ist es nicht aufgefallen, ja, die Bedienungsanleitung bekam den meisten Beifall. Sogar aus dem Fenster des Nachbarhauses wurde applaudiert, und ein Mann rief: „Danke, jetzt weiß ich das auch!“

Selbst die Damen finden plötzlich, dass jetzt Nachtruhe sein sollte und verabschieden sich. O ja, es wäre sehr unterhaltsam gewesen. Aber wenn Klara noch einmal zu der Lesung eines Internetdichters einladen würde, dann könnten sie leider nicht. Eine sagt, sie habe nämlich schon lange vor, sich mal die Fußnägel zu lackieren. Und die andere fragt, ob ich die Adresse von dem Kerl hätte, der mich mit seiner elend langen Leidensgeschichte zum Äußersten getrieben hat. Der hätte vielleicht Interesse, seine Krankenakte um ein blaues Auge zu erweitern.

Direkt neben einem Katzenbaum zu schlafen, der sich bis zur Decke erstreckt, gehörte zu den Dingen, die ich noch nicht gemacht hatte. Den Katzenbaum kann ich jetzt streichen. Nicht aber, neben einem Katzenbaum zu schlafen, auf dem eine Katze schläft. Sie ist in der Nacht woanders. Nach dem Aufwachen liege ich noch ein wenig da und lasse meinen Blick den Katzenbaum hoch wandern. Die Schulterhöhe einer Katze beträgt etwa 30 Zentimeter, also 1/8 der Zimmerhöhe von 2,40 Meter. Auf das menschliche Maß übertragen, müsste der Schlafbaum fast so hoch sein wie ein Haus mit 8 Etagen, nämlich 19,20 Meter, die Geschossdecken nicht eingerechnet. Mich schaudert bei dem Gedanken, ich müsste am Morgen von einem luftigen Schlafplatz einen gut 20 Meter langen Mast runterklettern. Da bin ich besser dran, brauche mich nur aus dem bequemen Bett aufzurichten und die Füße auf den Boden zu setzen. Aber als mein Blick auf den Tisch fällt, sinke ich zurück in die Kissen. Ich habe nämlich gestern meine gesamten Sachen ausgepackt, um an die pataphysischen Geheimpapiere heranzukommen. Es wird ewig dauern, dieses Chaos wieder in die Taschen zu stopfen.

Doch jetzt am Morgen finde ich, das Auspacken der pataphysischen Geheimpapiere hat sich gelohnt. Klara hat mit sicherer Hand den Kreis der Damen zusammengestellt. Sie waren ein aufmerksames, liebenswertes Publikum, hatten vielleicht etwas anderes erwartet als meine Geschichten aus dem surrealen Alltag, aber sie haben sich erkennbar amüsiert. Nur deshalb habe ich so lange gelesen. Man hat viel Witz im Ruhrgebiet. Er ist anders als meiner, aber nicht mindern skurril. Als kleines Dankeschön für ihre Gastfreundschaft widme ich Klara ein Büchlein, das die Texte der Lesereise enthält.

Davon gibt es nur 10 Exemplare. Die habe ich mit dem Paginierstempel nummeriert und per Hand signiert und somit zu Unikaten gemacht. Es wird eine neue Auflage geben, weil inzwischen einige Bestellungen vorliegen. In diese Neuauflage werde ich noch die Reisedokumentation aufnehmen.

Eigentlich würde Klara heute länger schlafen wollen, denn sie hat sich für den Tag frei genommen. Aber weil ich so früh aufbrechen will, hat sie den Wecker gestellt und ist schon auf, als ich komme, um das Bad zu benutzen. Erholung kann sie vertragen, was nicht nur mit mir zu tun hat. Seit Wochen sind nämlich die Handwerker in beiden Wohnungen. In der Wohnung ihres Sohnes ist das Bad immer noch nicht fertig. Wenn ich sie richtig verstanden habe, geht es zu wie im Tollhaus. Zuerst kommen die Fliesenleger, und wenn sie das Bad gefliest haben, dann rücken die Elektriker an und klopfen die Fliesen wieder herunter, um die Strippen zu ziehen, worauf dann wieder die Fliesenleger kommen, aber die falschen Kacheln bei sich haben.

Klara bereitet das Frühstück vor, ich hole Brötchen. Dieser Stadtteil von Essen ist recht lebendig, aber trotzdem wirkt alles hübsch herausgeputzt. Wenn ich in Hannover-Linden zum Bäcker gehe, kann ich unterwegs auf dem Bürgersteig Prospekte lesen. Ich lasse nicht jeden Morgen den Kopf hängen, aber nach unten zu gucken, ist in jedem Fall ratsam, denn angenommen, ich gucke heiter in der Gegend rum und trete plötzlich in was Weiches, dann ist die gute Laune eh dahin. In Linden fühlt man sich bei nackten Bürgersteigen unbehaglich. Das ist eine Sorte horror vacui. Der Lindener fühlt sich erst richtig wohl, wenn er um Hundehaufen kurven und über einen Teppich von Prospekten mit Sonderangeboten laufen kann. Wenn da einer den Bürgersteig kehrt, macht er sich unbeliebt. Deshalb schickt die Stadtreinigung nur selten Straßenkehrer vorbei, und vorher werden sie ermahnt, immer die neuesten Prospekte liegen zu lassen, damit die Lindener sich nicht beschweren.

Also in diesem
Essener Stadtteil ist das anders. Die Leute sind nicht sehr an Prospekten von Billigläden interessiert, denn sie kaufen lieber auf dem Markt, im Bioladen oder im Feinkostgeschäft. Und gehen sie Gassi mit ihrem Hund, dann läuft gleich ein Straßenkehrer mit der Schippe hinterher und hält sie dem edlen Köter unter den Hinterausgang. Deshalb können Herrchen und Frauchen die Nasen immer hoch tragen. Das ist nur gerecht, denn schließlich leben in solchen Stadtteilen die Leistungsträger. Zumindest bei Klara meine ich das gar nicht ironisch. Als selbständige Physiotherapeutin hat sie einen anstrengenden Alltag. Und Patienten, denen am Morgen noch ein Straßenkehrer hinterher gelaufen ist, sind nicht immer so, dass man von vorne mit ihnen zu tun haben will. Davon hat sie in Ihrem Blog schon anschaulich berichtet.

Beim herzlichen Abschied gibt Klara mir noch Pizzabrote mit auf den Weg, die am Abend übrig geblieben waren. So bleiben mir auch diesmal Käsebrötchen mit Remoulade erspart. Das ist gut, denn die letzte Etappe nach Aachen sollte noch anstrengend werden.

Fortsetzung: Reisende unerwünscht - Dicke Hosen in Düsseldorf - Ein Fotobeweis verschwindet
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