Über Aachen - Kleiner Schornstein isst das Feuer - Ärgerliche Teilchenphysik

Pataphysische Forschungs- und Lesereise (6.2) - Aachen (Freitag)
Teil 1.1 - Teil 1.2 - Teil 2.1 - Teil 2.2 - Teil 3.1 - Teil 3.2 -
Teil 4.1 - Teil 4.2 - Teil 5.1 - Teil 5.2 - Teil 6.1

68 Stufen führen hinauf zu Costers Wohnung, und es ist eine Wendeltreppe. Er läuft voraus, ich kann kaum folgen. Das liegt aber nicht daran, dass ich gut 430 Kilometer Radfahren in den Beinen habe. Thomas steigt diese Wendeltreppe immer schneller als ich, denn die Windungen seiner Treppe schaufeln ihn hinauf in sein Reich über den Dächern der von ihm so geliebten Stadt Aachen. Als Stadtplaner hat er sie Jahrzehnte mit gestaltet. Es muss ein gutes Gefühl sein, das eigene Werk von oben betrachten zu können.

Die Treppe endet unter einem Lichtschacht. Man steigt quasi über die dunkle Wendeltreppe ins Tageslicht. Hier hängen große farbige Poster im Rund, und neben der Wohnungstür stehen ein paar große Pflanzen. An der Wand lehnen gerahmte Bilder, die er selbst gemalt hat. Die meisten Bilder, überwiegend Zeichnungen, befinden sich in einem Raum, der vom kleinen Flur abzweigt. Ich war noch nie darin, aber es müssen viele Bilder sein. 150 hat er im letzten Winter ausgestellt, eine ganze Reihe davon verkauft, wie er überhaupt schon viele Bilder verkauft hat. Thomas sagt, in diesem Raum „liegen noch Hunderte, die keines Menschen Auge je erblickt hat.“ Er hat den gezielten Strich des Architekten, aber seine Motive sind nicht die eines Architekten. Viele Bilder haben etwas subtil Erotisches. Man sieht nicht auf den ersten Blick, woran es liegt, erst wenn man ihm auf die zeichnerischen Schliche gekommen ist, enthüllt es sich.

Auf dem großen runden Wohnzimmertisch liegt ein aufgeschlagener Autoatlas. „Ich wollte doch mal sehen, wie du gefahren bist“, sagt Thomas. Wir sprechen nicht weiter darüber, denn im Augenblick will ich gar nichts vom Radfahren wissen, sondern bin glücklich, endlich in Aachen zu sein. Das ist ein bisschen wie nach Hause zu kommen, denn ich habe die meiste Zeit meines Lebens hier verbracht. Thomas und ich sind uns erst vor wenigen Jahren begegnet, beim Ehepaar Perplies. Sie betreiben die Galerie, in der ich am Sonntag lesen werde. Ich hatte zuvor die Laudatio für die Ausstellungseröffnung meines Freundes Rudolf gehalten. Sie hatte den Galeristen gut gefallen, und sie luden mich dann mehrmals zum Essen ein. Beim dritten Mal war auch ein freundlicher Mann eingeladen. In der unterhaltsamen Runde griff er immer wieder zu einem schwarzen Notizbüchlein und notierte, was er gerade Interessantes gehört hatte, Wörter, Wortwendungen, Zitate, Buchtitel und so fort. Schon immer habe ich gerne zugeschaut, wenn jemand mit der Hand schreibt, und weil es fast anachronistisch ist, hat mich das sogleich für Thomas eingenommen, aber natürlich erlag ich auch seiner Liebenswürdigkeit. Inzwischen ist er mein Anker in Aachen, seine Wohnung mein Hafen, seit ich in Hannover lebe.

Thomas holt schöne alte Gläser, schenkt den Begrüßungssekt ein, und wir trinken auf meine glückliche Ankunft. Bald nehmen wir Flasche und Gläser mit auf seinen Balkon, der sich an der Rückfront des Hauses entlang zieht. Aachen liegt ganz prächtig in der Sonne, und gegenüber im leichten Dunst erhebt sich der Lousberg, auf dem ich am morgigen Samstag lesen werde. Die Lesung im Kerstenschen Pavillon hat Thomas organisiert. Ich wollte dort gerne auftreten, weil dieser barocke Pavillon einer der Handlungsorte des Internetromans „Die Papiere des PentAgrion“ ist. Thomas hat es zu seiner Sache gemacht, die Lesung mit der Lousberggesellschaft abgesprochen, die den Pavillon von der Stadt gepachtet hat, eine Vielzahl von Freunden angeschrieben, noch mal nachgehakt, wenn sie nicht antworteten, denn er wollte „den Laden vollkriegen.“

Bis tief in die Nacht sitzen wir in seiner Küche. Und wieder geraten mir die Welten durcheinander, diese Welt und die Romanwelt, in der er Jeremias Coster ist, Professor für Pataphysik an der RWTH Aachen. Coster erzählt mir von den Aachener Kaminen, über die er einmal im Stadtmagazin geschrieben hat. Und weil ich das Thema so ungewöhnlich finde, zeigt er mir den Artikel. Er endet mit dem schlichten und doch so schillernden Satz: „Sie werden und wurden übrigens nie von Schornsteinfegern geputzt.“ Das Verhalten der Schornsteinfeger wirft kritische Fragen auf, zu deren Erörterung wir aber nicht kommen, denn längst sind wir bei einem anderen Thema.

Irgendwann schiebt Coster mir einen kleinen Schlot aus Messing über den Tisch und sagt: „Den schenke ich dir.“ Es ist aber kein Miniaturkamin, sondern ein Zigarettenlöscher, und er hat auch mehr die Form einer bauchigen Vase. Die ganze Zeit versucht Coster mir beizubringen, meine Kippe hineinzustecken. Das kann ich auch, obwohl das Loch im Zigarettenlöscher naturgemäß kleiner sein muss als der Zigarettenlöscher selbst. Trotz dieser probaten Lösung für mein Zigarettenausdrückproblem versuche ich immer wieder die Zigarette im Aschenbecher auszudrücken. Es passen ja manchmal nur kleine Dinge in meinen Kopf, aber immerhin. Dann sollte doch so ein furzkleiner Zigarettenlöscher auch hineingehen. Zum Glück hat der Mann eine Engelsgeduld, wartet wie ein guter Lehrer, ob ich es selbst kann, und erst wenn er sieht, dass meine Hand erneut zum Aschenbecher irrt, weist er freundlich auf den Zigarettenlöscher hin und erklärt nochmals dessen Funktion. „Du brauchst die Zigarette nur hineinzustecken, einfach mit der Glut hineinfallen zu lassen. Sie verlöscht von selbst.“

Ich habe noch ein weiteres Problem, „ein Loch im Glas“, wie Coster diagnostiziert. Das verstehe ich gar nicht, denn um das Glas bilden sich keine Lachen. Der gute Rosé müsste doch nur so vom Tisch tropfen. Liegt es wieder an der dubiosen Teilchenphysik? Ist mein Glas auf Quantenebene mit dem eines Chinesen verbunden, der am anderen Ende des Erdballs sitzt und staunend seinen Becher in die Luft hält, weil der auf rätselhafte Weise immer wieder gefüllt wird? Wir haben den Ärger, aber der Chinese lacht. "我快乐地倒空奇妙罐头,不用地面", wird er sagen, was in etwa bedeutet: "Heiter leere ich die wunderbare Kanne ohne Boden."

Mein Bett hat Thomas mit einer teuren Bettwäsche von Wolfgang Joop bezogen. Es ist nicht so, dass ich unbedingt mit Joop im Bett liegen wollte. Ich weiß aber die Geste zu schätzen. Die Wäsche ist nachtblau und wirklich hübsch. Aber richtig sehe ich sie erst am Morgen, ich bin einfach zu betrunken.

Fortsetzung: 50.000 Dinge - "Guten Morgen" am Münsterplatz - Aachener Nachrichten
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