Abenbummel online - Geschichtsbuch im Container

Eigentlich wollte ich nur einkaufen und Glasbehälter in die Container werfen. Ich weiß nicht, was es ist, aber wenn ich leere Glasbehälter in Container sortiere, werde ich trübsinnig. Da dachte ich, das soll es nicht gewesen sein, geh ein bisschen weiter und suche mal Straßen auf, in denen du eigentlich nichts zu suchen hast. Es war noch früh, so gegen 17:30 Uhr, aber schon finster. Da bekam ich überall kostenloses Fenstertheater. Es schickt sich nicht, in fremde Wohnungen zu schauen, aber ich tat es, wo immer es ging. Manchen Leuten scheint es nichts auszumachen, dass man von der Straße in ihre Zimmer schauen kann. Es wäre noch zu verstehen, wenn einer eine besonders hübsche Wohnung hat. Aber gerade die mit den bescheidenen Wohnungen haben häufig keine Scheu und zeigen ihre beinah trostlose Lebenswelt, wie manche gerne ihr offenes Bein oder ihre Geschwüre vorzeigen. Und womit sie ihr Heim schmücken, dagegen ist ein offenes Bein gar nichts.

GeschichtsbuchDie vielen Einblicke in fremde Lebenswelten weckten in mir eine schier unbändige Gucklust. Irgendwann geriet ich in eine Straße, in der ich mir einmal eine Wohnung angeschaut hatte, bevor ich mich von Aachen nach Hannover verpflanzt habe, wo alles größer, aber auch kälter ist. Da war ein Gerüst vor einem Haus, und wie ich drunter durch ging, sah ich ein Ladenlokal mit einem Durcheinander an alten Büchern, Heften und dem Kram vergangener Zeiten. Die Tür stand auf, und ein bärtiger Mann sah zu, wie ein jüngerer bartloser Mann Regale heraus trug. Der bärtige Mann hatte es nämlich an den Bandscheiben, wie er mir sagte, nachdem ich ihn gefragt hatte, ob ich das Durcheinander ablichten dürfte. Leider hatte ich nur mein Handy bei mir. Der Bärtige ließ mich bereitwillig ein, und ich knippste, was von seinem Antiquariat übrig war.

Er sagte, der Hausbesitzer hätte ihm gekündigt, und jetzt müsse alles raus. Sein Laden wäre keine große Sache gewesen, ein Treffpunkt für Freunde und Stammkunden, worin man gesessen und gequatscht habe. Ich sagte, das ist ein Kulturverlust. Leute wie der Bärtige tragen mehr zur Kultur bei, als man auf Anhieb denken könnte. Sie bieten nicht nur einen Ort der zwischenmenschlichen Kommunikation, sondern wahren durch ihre Sammlung alter Gegenstände, Bücher, Plakate und Zeitschriften unsere kollektive Erinnerung und zeigen, dass wir eine Vergangenheit haben, in denen all die Dinge der Sammlung einmal Gegenwart waren. Unsere Gegenwart ist nur zu verstehen, wenn wir wissen, wie wir dahin gekommen sind, was vorher war und unser Denken und Fühlen bestimmt hat. So ein Laden ist ein Geschichtsbuch, in dem sich zu lesen lohnt. Wenn ein solches Geschichtsbuch zugeklappt wird, verlieren wir ein Stück unserer Identität.

Später ging ich in den Supermarkt und konnte das Übermaß an optischen Reizen kaum verarbeiten. Überall diese schreienden Schilder, die mir eine Senkung der Preise verkündeten. Und all die Produkte, die ich nicht brauche. Da war auch ein lebensgroßer Aufsteller eines Mannes in weinroter Schürze. Darauf stand; „Kolja Kleeberg kocht mit Ihnen!“ Nicht mit mir. Ich kenne den nicht. Und ich kann auch nicht glauben, dass eine Pappfigur kochen kann. Wie soll das gehen? Hat der Karton-Kleeberg hinten ein System von Schnüren und zwischen den Beinen einen Zipfel, an dem man ziehen muss, und dann hebt er den Arm mit einer Maggiflasche in der Hand?

Wir wissen alle, man darf solche Werbepappkameraden nicht ernst nehmen. Der richtige Kolja Kleeberg wird mit keinem der Leute kochen, die in den Läden der Supermarktkette einkaufen. Warum funktioniert diese Form der Werbung trotzdem? Vor Jahren, als ich noch ein Kindergartenkind war, spielten wir einmal im großen Sandkasten. Die Erzieherin hatte uns angeregt, ein Auto aus Sand zu bauen, ein Kabrio. Wir schaufelten und modellierten eifrig die Form; ich sehe mich noch heute sorgsam die Sandsitze plattklopfen. Die Erzieherin hatte nämlich gesagt, wenn das Auto fertig wäre, würden wir damit nach Bonn fahren. Warum sie nach Bonn wollte, weiß ich nicht, ich zweifelte auch daran, dass unser Sandauto sich bewegen würde, aber insgeheim wollte ich ihr glauben. Schließlich hatte sie es gesagt, und sie war eine Autoritätsperson. Ich verehrte sie, sie war mein Star, bevor ich das Wort überhaupt kannte.

Was da in mir an die Fahrt mit einem Sandauto glaubte, das magische Denken des Kindes, verliert sich in den Jahren nach der Kindergartenzeit. Aber Reste davon stecken noch in jedem von uns. Und an dieses verborgene magische Denken appelliert die Werbung. Die Autoritäten sind die Aufschrift und das Abbild. Ihre Botschaft lässt uns auf Werbung reagieren. Aber wenn die Jahre darüber gegangen sind, wenn die Abbilder veraltet sind und die Moden sich geändert haben, erkennen wir das Falsche der großartigen Versprechungen, erkennen die Absurdität dessen, was wir einmal als normal empfunden haben.


In zehn Jahren werden wir den Kolja-Kleeberg-Aufsteller lächerlich finden, aber er war einmal Teil unserer Normalität und hat unser Denken geprägt. Gut, wenn es Leute gibt, die solche Artefakte vor dem Container bewahren, nachdem sie aus der Denkmode gekommen sind.

Guten Abend
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