Hormone killen den Stil - Ethnologie des Alltags
von Trithemius - 25. Mär, 13:34
Hat Tage gegeben, da mochte ich gar nicht dran glauben, dass die Natur, so kältestarr, sich noch mal besinnen würde. Und jetzt: Sonne, Vorfrühling. Auf der Bank nebenan im hannöverschen Georgengarten sitzt ein junges Paar. Sie schon die Arme nackt, er, die Beine lang vor sich ausgestreckt, deklamiert selbstgefällig. Ab und zu wehen Wortfetzen zu mir herüber. Ich lese Schopenhauer, wie immer, wenn mein Seelchen etwas durcheinander geraten ist.
Er selbst rät vom vielen Lesen ab:
„Wenn wir lesen, denkt ein Anderer für uns: wir wiederholen bloß seinen mentalen Proceß.“
Genau deshalb fühle ich mich beim Lesen oft wie ein Kalb hinter einem Karren angebunden, immer in der Spur trottend und nicht wissend, wo es hingeht. Da schallt es herüber: „Aber mit Stil! Das mache ich mit Stil!“
Wer so etwas durch den Park trompetet, wird es nötig haben, denke ich, und sofort schilt mich die innere Stimme, wie ich denn angesichts der geringen Informationslage so hart urteilen könne. Na gut, wenn das innere Meckern gleich losgeht, lese ich lieber wieder Schopenhauer. „(…) Zu diesem Allen kommt, daß zu Papier gebrachte Gedanken überhaupt nichts weiter sind, als die Spur eines Fußgängers im Sande: man sieht wohl den Weg, welchen er genommen hat; aber um zu wissen, was er auf dem Weg gesehn, muß man seine eigenen Augen gebrauchen.“
Ja, Mann, was ist dran an der Behauptung: „Aber mit Stil. Das mache ich mit Stil.“? Ich hatte das intuitiv als eine Aussage angesehen, die ein Mensch mit Stil nicht machen würde. Und auf mein inneres Auge kann ich mich meistens verlassen. Aber die mahnende Stimme zwingt mich, darüber nachzudenken. Weit komme ich nicht, mit Schopenhauer auf dem Schoß. Da gibt der Mann mir selbst ein Beispiel: „Na klar, da passt doch auch ein Babykopf durch. Was glaubst du, was Frauen sich alles reinschieben!“
Hätte er seinen gynäkologischen Befund nicht mit ein bisschen mehr Stil vortragen können? Sie hat die Jacke wieder übergezogen, denn eine große Wolkenbank ist von Nordwesten herein gezogen und lässt von der Sonne nur einen Lichtstreif vorbei. Die beiden sind zu weit weg, als dass ich ihre Reaktion sehen könnte, aber ihre Körperhaltung wirkt so gleichgültig wie zuvor. Vermutlich kennt sie ihren Nebenmann gut und ist an derlei Stil gewöhnt.
Schopenhauers Stil ist erfreulich redundant, indem er seinen Gegenstand gründlich von allen Seiten betrachtet und immer noch mit feinen Unterscheidungen aufwartet, an die man selbst gar nicht gedacht hätte. Leider hat er mir das Weiterlesen quasi verboten, der Wind zieht mir kühl ins Kreuz, der stillose Kerl fläzt sich weiterhin auf der Bank, das sind allesamt gute Gründe, nach Hause zu fahren.
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Er selbst rät vom vielen Lesen ab:
„Wenn wir lesen, denkt ein Anderer für uns: wir wiederholen bloß seinen mentalen Proceß.“
Genau deshalb fühle ich mich beim Lesen oft wie ein Kalb hinter einem Karren angebunden, immer in der Spur trottend und nicht wissend, wo es hingeht. Da schallt es herüber: „Aber mit Stil! Das mache ich mit Stil!“
Wer so etwas durch den Park trompetet, wird es nötig haben, denke ich, und sofort schilt mich die innere Stimme, wie ich denn angesichts der geringen Informationslage so hart urteilen könne. Na gut, wenn das innere Meckern gleich losgeht, lese ich lieber wieder Schopenhauer. „(…) Zu diesem Allen kommt, daß zu Papier gebrachte Gedanken überhaupt nichts weiter sind, als die Spur eines Fußgängers im Sande: man sieht wohl den Weg, welchen er genommen hat; aber um zu wissen, was er auf dem Weg gesehn, muß man seine eigenen Augen gebrauchen.“
Ja, Mann, was ist dran an der Behauptung: „Aber mit Stil. Das mache ich mit Stil.“? Ich hatte das intuitiv als eine Aussage angesehen, die ein Mensch mit Stil nicht machen würde. Und auf mein inneres Auge kann ich mich meistens verlassen. Aber die mahnende Stimme zwingt mich, darüber nachzudenken. Weit komme ich nicht, mit Schopenhauer auf dem Schoß. Da gibt der Mann mir selbst ein Beispiel: „Na klar, da passt doch auch ein Babykopf durch. Was glaubst du, was Frauen sich alles reinschieben!“
Hätte er seinen gynäkologischen Befund nicht mit ein bisschen mehr Stil vortragen können? Sie hat die Jacke wieder übergezogen, denn eine große Wolkenbank ist von Nordwesten herein gezogen und lässt von der Sonne nur einen Lichtstreif vorbei. Die beiden sind zu weit weg, als dass ich ihre Reaktion sehen könnte, aber ihre Körperhaltung wirkt so gleichgültig wie zuvor. Vermutlich kennt sie ihren Nebenmann gut und ist an derlei Stil gewöhnt.
Schopenhauers Stil ist erfreulich redundant, indem er seinen Gegenstand gründlich von allen Seiten betrachtet und immer noch mit feinen Unterscheidungen aufwartet, an die man selbst gar nicht gedacht hätte. Leider hat er mir das Weiterlesen quasi verboten, der Wind zieht mir kühl ins Kreuz, der stillose Kerl fläzt sich weiterhin auf der Bank, das sind allesamt gute Gründe, nach Hause zu fahren.