Videbitis (Gast) - 20. Jul, 00:06

In einem Artikel über die Kulturtechnik des Lesen wurde der Begriff "deep reading" benutzt für die Fähigkeit, aus dem Gelesenen nicht nur die oberflächlichen Informationen eins zu eins aufzunehmen, sondern Strukturen des Geschriebenen so zu entcodieren, daß die vielen Ebenen, die ein Text haben kann, erkannt werden. Diese Fähigkeit muß geübt werden, und die Autorin, deren Buch besprochen wurde, war der Meinung, daß die zunehmend digitale Aufbereitung von Informationen im schlimmsten Fall zu einer gegensätzlichen Entwicklung führe.
Man könnte "Tiefenlesen" auch im übertragenen Sinne benutzen, wobei allerdings nicht nur die digitale Aufbereitung der Informationen für seine Abnahme verantwortlich ist, sie wird besonders durch die scheinbare Gleichwertigkeit von Informationen erzeugt wird, mit Hilfe des Internets natürlich in vorher unbekannter Weise: "Die amerikanische Karibikküste ist auf Jahrzehnte zerstört, Oliver Pocher ist dicker geworden, hier noch ein paar Tipps zur Geldanlage."

Die Überschwemmung mit banalen Informationen hindert die Leser, im Einzelnen tiefer zu denken, Zusammenhänge zu erkennen und Kritikfähigkeit zu entwickeln, die komplexer sein sollte als nur gut für einen kurzen Aufreger. Und das ist politisch natürlich auch so gewollt.

Hier der Artikel:

http://www.zeit.de/wissen/2010-07/proust-lesen-gehirn?page=2

Trithemius - 20. Jul, 09:43

Dankeschön

für den aufschlussreichen Kommentar und den Link. Tatsächlich kann man an sich selbst beobachten, dass übermäßiger Kosum der Bildmedien zur Zerstreuung führt und die notwendige Sammlung für das tiefe Lesen behindert. Daher stehen Texte im Internet in einem seltsamen Spannungsverhältnis. Sie sind einerseits leicht verfügbar, andererseits umgeben von Bildwelten, die beständig um Aufmerksamkeit buhlen. Ich habe aber längst aufgegeben, mich daran zu stören. Wenn man die Standards für Texte verändert, um mit den Bildmedien zu konkurrieren, hat man schon verloren. Dieser Kampf ist gar nicht zu gewinnen. Er endet da, wo man nur noch 140 Zeichen Banales austauschen kann. Das hat durchaus seine Berechtigung, aber kann auf Dauer nicht das intensive Lesen und Schreiben ersetzen.

Es geht aber in der Natur alles in Wellen. Was heute noch fasziniert und beinah jeder haben will, ist morgen schon kalter Kaffee. Das beste Beispiel ist Second Life. Ähnlich wird es Twitter ergehen. Ich bin sicher, dass die Zeit für lange Texte wieder kommen wird. Es ist halt noch nicht gut trainiert, sich auch am Rechner nicht ablenken zu lassen. Aber einige könnens sowieso, und für diese Leute schreibe ich. Sie sind des beste Publikum, das sich einer wünschen kann. Wo das Leseumfeld günstig ist, wo die Werbestrategen des Buchmarkts pfeifen und trommeln, ist's keine Kunst, seine Leser zu gewinnen. Die lesen dann Schätzings Schrott oder ähnlichen Quark. Aber hier, quasi an einem umkämpften Ort zu bestehen, unter dem Einfluss neuer Rezeptionsgewohnheiten, das ist die wahre Herausforderung. Man kann im Blog mit völlig neuen Ausdrucksmitteln experimentieren und dabei eine Autor-Leserbindung erreichen, die ein gedrucktes Buch niemals nur annähernd erlaubt.
Videbitis (Gast) - 20. Jul, 11:55

"Die irdischen Massenmedien sind gigantische Manipulationsmaschinen, deren Macht täglich wächst." - und das Internet ist dafür die perfekte Plattform. Aber Du hast recht: Man kann nur gegensteuern, mit Mitteln, die man selbst für richtig hält, und wenn man damit andere findet, die das mögen, ist das schon ein nicht zu unterschätzender Erfolg.

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