Eine surrealistische Landkarte der nur unscharf berechenbaren Randzone - Seminar "Aspekte der Handschrift" (3)

Wann immer ich etwas aus der Erinnerung zeichne und nachher meine Zeichnung vergleiche mit den realen Gegebenheiten, stelle ich fest, dass die Zeichnung an vielen Stellen ungenau ist und Leerstellenfüllungen enthält, wo meine Erinnerung versagt hat. Ähnlich ist es mit dem Schreiben. Bei meiner Reportageserie über die Linie 9 in Hannover bin ich alle Teilstrecken ein zweites Mal gefahren, weil ich manches einfach nicht mehr genau wusste und auch keine Notizen darüber hatte.
notieren
Heute wollen wir einen Anwendungsbereich der Handschrift erproben, der noch recht geläufig ist, das genaue Notieren. Dazu brauchen wir einen Schreibanlass. Wir erstellen eine surrealistische Landkarte von der nur unscharf berechenbaren Randzone des Teppichhauses. Es steht bekanntlich in Hannover. Die Randzone des Gebietes zwischen dem Teppichhaus und Ihrem Wohnort gilt es zu bestimmen.

Das geht so: Vergewissern Sie sich auf einer Landkarte, wo Hannover liegt. Nehmen sie ein Notizbuch und einen Stift, verlassen Sie bei Tageslicht Ihre Wohnung und gehen Sie 100 Schritte von Hannover weg. Leben Sie beispielsweise südlich von Hannover, gehen Sie 100 Meter nach Süden. Dort bleiben Sie stehen und notieren genau, was Sie von Ihrem Standpunkt aus wahrnehmen. Kehren Sie zurück und schreiben Sie Ihre Notizen ab. Wenn Sie wollen, dann ermitteln Sie über einen Routenplaner die ungefähre Entfernung von Hannover und fügen die Angabe Ihrem Text hinzu. Das ist aus Gründen des Datenschutzes nicht unbedingt erforderlich, aber bitte immer die Himmelsrichtung angeben. Schicken Sie ihren Text an mich (bitte bis Samstag in einen Kommentarkasten).

Die nur unscharf berechenbare Randzone unseres Blog-Netzwerkes will ich am kommenden Sonntag grafisch darstellen, und Ihre Texte werden zeigen, wie es dort aussieht. Ich freue mich schon auf unseren gemeinsamen Bummel durch die nur unscharf berechenbare Randzone am kommenden Sonntag.

Die Idee der surrealistischen Landkarte entnahm ich dem Buch: Boehncke/Humburg; Schreiben kann jeder, Reinbek b. Hamburg, 1980. Im Internet hat das meines Wissens noch niemand gemacht. Wir betreten also Neuland. Anregungen und Änderungsvorschläge sind willkommen. Selbstverständlich können Sie die Idee adaptieren und die Aktion, auf Ihren Wohnort bezogen, ebenfalls in Ihrem Blog durchführen.

Viel Vergnügen!
Trithemius
2631 mal gelesen
schreiben wie atmen - 24. Feb, 20:33

Ahhhh ja.

Zu diesem Behufe werde ich zunächst mal die Gelben Seiten aus dem Regal wühlen, um herauszufinden welcher der örtlichen Tiefbauunternehmer mir den Weg freiräumen könnte.
Eine andere Möglichkeit wäre natürlich, die erforderlichen 100 Meter so südlich wie von meinem Haus aus möglich zu gehen.
Wie auch immer, es wird nicht an den technischen Voraussetzungen scheitern. Dazu bin ich einfach zu geübt im Tricksen.
so ungefähr kann ich mir schon vorstellen, wo mich dieser Weg hinführen wird. Zusätzlich kann ich mir vorstellen, wie mein notierendes Herumstehen an jenem Platz meiner, im 2000 Seelen - Nest ohnehin schon exotischen, Fama einen weiteren schillernden Aspekt hinzufügen wird:
"Stellet se sich emol vor: schtoht die am hellichte Freitag miteme Bleckle mitte em Dorf und schreibt irgend ebbes uff. Ha i sag Ihne, die hot doch nemme alle Dasse em Schrank wennse mi froget."

Trithemius - 24. Feb, 20:38

Würde ich genau 100 Meter südlich gehen, dann stünde ich bei irgendeinem vielleicht in der Küche. Sie haben schon richtig ergänzt, so genau wie möglich.
In der Tat kann man mit dem Notizblock auch in einer Großstadt Aufsehen erregen, nur, dass einen da keiner kennt. Aber mancher denkt, Himmel, ich werde aufgeschrieben.
schreiben wie atmen - 24. Feb, 20:41

Wenn ich für jedes Mal, dass mir die Frage "was schreiben Sie denn da die ganze zeit auf?" gestellt wird, fünf €uro bekäme, wäre das ein ziemlich großzügiges Stipendium.
Trithemius - 24. Feb, 20:43

Versuchen Sie es. Geben Sie nur Auskunft gegen Geld. Aber bitte auch aufschreiben, wie das zuging.
schreiben wie atmen - 24. Feb, 21:18

Grandios, auf diese Idee bin ich noch gar nicht gekommen.
"Sie dürfen zwei Minuten in meinem Heft lesen, kostet nur zwei €uro."
Das wär was!
:o)
la-mamma - 24. Feb, 21:21

schade,

da muss ich mich wieder ausklinken. ich scheitere morgen schon an: verlassen sie bei tageslicht ihre wohnung ...

schreiben wie atmen - 24. Feb, 21:22

Schicken Sie doch den H. oder den A., der X. kann das ja leider noch nicht.
la-mamma - 24. Feb, 21:31

die drei wiederum haben morgen nix besseres zu tun, als sich in der therme zu vergnügen, während ich bestenfalls aus dem bürofenster schauen kann, mich von diesem aber wegen unseres elenden neuen zeiterfassungssystems bei tageslicht auch nicht nur hundert schritte entfernen kann. danach muss ich leider den einkauf erledigen und für mindestens dreieinhalb leute das kofferpacken erledigen, weshalb ich wohl auch am samstag trotz dann zweifellos vorhandenem tageslicht die wohnung ebenfalls nicht 100 schritte zu fuß, sondern 300 km im auto hinter mir lasssen werde ...
alles klar?;-)
schreiben wie atmen - 24. Feb, 21:38

Hoffentlich 300 km in Richtung Vergnügen, Jux und Dollerei - oder doch zumindest gleichwertiger Lustbarkeiten.
la-mamma - 25. Feb, 21:52

sehen sie, dabei hab ich heut verschlafen

und nicht einmal südöstlich aber rund 100 schritte nördlich von meiner haustür hab ich zumindest geschaut, was mir das tageslicht zeigt.

ein hund steht neben mir, ein bernhardiner, in stark gekrümmter haltung. die kleine vollgeparkte straßé, durch die ich ins büro eile, ist von laubbäumen gesäumt, selbstverständlich weiß ich jetzt nicht einmal von welchen. das haus rechterhand ist blassgelb gestrichen, auf der linken seite ist ein langer dunkelgrauer zaun. der garten dahinter ist jetzt viel gepflegter, seit sich statt der quasi weltweit berüchtigten schlafstätte für obdachlose männer ein altersheim darin befindet. am gehsteig vor mir ein paar zigarettenstummel, die dank unserer stadtreinigung nicht lange liegen bleiben werden, und ein paar weiße kaugummiflecken, die für immer picken.

ps: ich bin rund 850 km südöstlich von hannover daheim. wobei ich aber in 10 minuten westlich zu fuß bis zum hannovermarkt komme. dorthin hat mich meine mama schon als kind fast jeden tag mitgenommen.
maranaZ3 (Gast) - 25. Feb, 20:42

Von Hannover Richtung Nord-Nordwest 110 km Luftlinie und noch 100 Meter weiter.

Um halb zehn am Freitag morgen stehe ich vor der Kreuzung Lindenstraße, Krummwinkel und Am weißen Sande , nachdem ich der Weisung des Herrn TT gefolgt und notizblockbewehrt hundert Meter Richtung Nord-Nordwest ausgeschritten bin.
Der Blick ist gefangen von der Rönnschen Mühle mit seinen breitbrüstigen Wirtschaftsanbauten. Die Mühlenflügel ragen in den blauen Himmel und signalisieren, dass die Mühle schon lange stillsteht. Es gibt einen wunderbaren Bericht über die heutige Nutzung des Geländes, auf den ich hiermit hinweisen möchte: http://www.teufelsmoor.eu/osterholz-scharmbeck/lindenstrase/muhle-von-ronn , und Herr TT als Meister der Sprache hat uns schon vieles über Sprache und Schrift offenbart, aber von der Mühlensprache meine ich bei ihm noch nichts gelesen zu haben.
Aber weiter: Die Straßenkreuzung ist eigentlich keine Kreuzung, auch keine Gabelung, aber was nun? Wie könnte man beschreibend schildern, was man mit einem Bleistift null Komma nichts aufgezeichnet hätte? Schräg verläuft die führende Straße, rechts neben der trockenen, braunblättrigen Buchenhecke des Mühlengeländes zweigt eine Straße ab, die verlangsamt wurde durch einen „liegenden Polizisten“. Stopp, halt, von meinem Standpunkt aus kann ich die geschilderte Bremsschwelle gar nicht sehen, das stammt aus meiner Erfahrung, im wahrsten Sinne des Wortes.
Abwärts zur mir her führt die „schnelle“ Straße, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass nur ein Bürgersteig den Fußgängern zur Verfügung steht, obwohl beidseitig bebaut, und trotz der abgestellten Autos zur beschleunigten Fahrt hinab zur Bahnhofstraße reizt, sei es als zweirädriger Pedalritter oder als vierrädriger Benzinverprunzer.
Die Straßenbebauung ist nicht geschlossen, und das spitzwinklige Eck zwischen beiden Straßenzügen, das rechts von mir und schräg gegenüber dem Mühlengrundstück liegt, wird beherrscht von einer großen Linde, unter der mit Bank, kleiner Rasenfläche und Rahmung von gekugelten Buchsbäumen ein lauschiges Plätzchen geschaffen wurde, mittlerweile eigentlich mehr für sich lösende Hunde als für einen ruhenden Rentner oder eine –In.
Zwei Farbtupfer ziehen das schauende Auge an der Wegverzweigung auf sich. Auf dem unbefestigten, verkrauteten Straßensaum unterhalb des Lindenecks steht der gelbe Kasten mit Winterstreugut, der verschlossen wie ein Tresor das helfende Gut bewahrt. Aber auch hier, halt , stopp, ich habe nicht überprüft, ob man sich dort nicht doch noch wie in früheren Zeiten bedienen kann, also gebe ich hier nur eine vage Vermutung zum Besten, die sich mir nur schauend aufdrängte.
Der hellblaue Verteilerkasten an der mir gegenüberliegenden Kreuzungsecke neben der mühlengrundstücksbegrenzenden braunen Hecke wurde einstmals von Kinderhand bildlich gestaltet.
Und was sehe ich noch? Bäume und Buschwerk, erstere ohne Blätter und noch ohne knospenden Grünhauch und letzteres mit winterhartem Blattwerk oder auch ohne.

Ich weiß nicht, wohin die Schilderung noch führen sollte oder könnte, und ich gestehe, dass ich den Fotoapparat zwecks visueller Demonstration mitgenommen hatte, und ich gestehe weiter, dass mein Notizblock leer blieb, da ich dieses Fleckchen Erde aus dem ff kenne, der Standort des Sehens musste allerdings ausgelotet werden heute morgen um halb zehn.

Mühlensprache

Videbitis (Gast) - 25. Feb, 22:58

293 km Hannover/Linden - Köln/Innenstadt + 100 m

Lindenstraße, ca. 100 Meter südwestlich von meiner Haustür entfernt. Auf der Ausfallstraße herrscht reger Verkehr. Direkt neben mir eine Bushaltestelle – ich hoffe, es kommt kein Bus, der Fahrer könnte denken, ich warte auf ihn, hält extra wegen mir, und aus lauter Schuldgefühl muß ich einsteigen und sonstwo hinfahren. Die Bebauung ist das typisch kölsche Gemisch aus häßlichen Nachkriegsbauten und Gründerzeithäusern, typisch jedenfalls für die sogenannte Neustadt.

In Sichtweite: 1 Kiosk, 1 Stehcafé, das nur vormittags geöffnet hat, eine Filiale der Pizza Company (ganz schlechte Pizza!), 1 vietnamesisches, 1 neues nepalesisch-tibetisches Restaurant namens „Buddha’s Eye“ – kenne ich beide nicht. Die Zweitwohnagentur sieht aus wie ein Versicherungsbüro, die Fenster sind bis zur Hälfte mit undurchsichtiger Folie beklebt.
Direkt stehe ich vor dem Gebäude des Berufskollegs, das zu Wahlzeiten mein Wahllokal beherbergt. Eine Wand ist mit einem riesigen Graffito verziert – eine Auftragsarbeit. Ich hatte einen der Künstler während der Arbeit befragt, er erzählte, daß sie nur das Material bezahlt bekämen, das Werk sei eine Art Eigenwerbung. Tatsächlich steht am Rand eine Telefonnummer und Internetadresse.

Das hier ist kein Ort, an dem man sich lange aufhält, außer, man wartet auf den Bus. Inzwischen sind schon drei an mir vorbeigefahren, gottseidank sind immer andere Leute ein- und ausgestiegen. Die mir zugewandten Fahrgäste betrachten mich während des kurzen Halts, aber nicht mit Absicht, sie schauen halt aus dem Fenster, und ich steh da herum und kritzel auf Papier. Die Blicke machen einen stumpfen Eindruck, kein Wunder, Freitag 16.30, die Last einer ganzen Arbeitswoche liegt auf ihnen, sie wollen nichts anderes als möglichst schnell nach Hause.

Fahrräder flitzen auf dem Fahrradweg. Die Leute, die vorbei gehen, kucken, aber interessieren sich nicht weiter für mich. Es wäre vermutlich nicht anders, wenn ich hier einen Schreibtisch hinstellte und an ihm einen Roman schreiben würde. Alles macht einen trostlosen Eindruck. Der einzige Lichtblick ist die Konditorei an der nächsten Kreuzung: Café Braun, ich komme! 1 Stück „Birne Helene“ bitte.

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