Abendbummel online

Per Taxi durch die Geschichte


Der türkische
Taxifahrer, der mich heute in die Voreifel fuhr, machte darauf aufmerksam, dass die Graf-Schwerin-Straße umbenannt worden ist. Tatsächlich war das alte Schild durchgestrichen und darüber prangte ein neues. Das obere Straßenstück zum südlichen Ortsrand von Aachen hin hieß schon immer Kornelimünsterweg. Jetzt heißt die ganze Straße so. Wozu der Aufwand?

Wehrmachtsgeneral Gerhard Graf von Schwerin war 1944 Stadtkommandant von Aachen gewesen und hatte am 13. September 1944, wenige Wochen vor dem Einrücken der Alliierten Truppen, die beiden Burtscheider Jungen Karl Schwartz (14) und Johann Herren (14) wegen angeblichen Plünderns hinrichten lassen. Nach dem Krieg durfte sich FDP-Mitglied Graf von Schwerin ins Goldene Buch der Stadt Aachen eintragen, 1963 benannte man eine Straße nach ihm, passender Weise in Aachen-Burtscheid. Natürlich wurde von Schwerin nicht wegen der Schandtaten an Karl Schwartz und Johann Herren geehrt, sondern weil er die Stadt angeblich vor ihrer Zerstörung bewahrt hatte. Dafür haben die Historikern der RWTH Aachen jedoch keine Beweise gefunden. Im August 2007 hat sich der Rat der Stadt Aachen von dem peinlichen Straßennamen getrennt.

Ich fühlte mich seltsam berührt und ein wenig beschämt, als ich dem türkischen Taxifahrer erläuterte, warum die Straße umbenannt worden ist. Nationalgefühl ist unteilbar. Wenn wir zum Beispiel stolz auf unsere Verfassung sind oder darauf, dass Deutschland bereits dreimal Fußballweltmeister war, können wir nicht so tun, als gingen uns die beschämenden Aspekte der deutschen Geschichte nichts an, zumal sie, wie das Beispiel zeigt, weiterhin in die Gegenwart ragen. Der Taxifahrer sagte, er lebe schon 25 Jahre in Deutschland und habe einen deutschen Pass. So fuhren also zwei Deutsche durch die ehemalige Graf-Schwerin-Straße, doch für den türkischen Deutschen fühlte sich die Sache vermutlich anders an als für mich.

Dass Wikipedia nicht frei ist von subjektiven Darstellungen, kann man auch am Eintrag über Graf von Schwerin ablesen. Vielmehr kann man es nicht lesen, weil Angaben zu Schwerins Schuld an der Ermordung zweier Jugendlichen fehlen. Lediglich ein Literaturhinweis stellt den Zusammenhang her zwischen Gerhard Graf von Schwerin, Karl Schwartz und Johann Herren.

Im Jahre 1951 erstatteten die Eltern der beiden Jungen Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Aachen. Das daraufhin eingeleitete Ermittlungsverfahren wurde eingestellt, da die standrechtliche Erschießung dem damals geltenden Recht entsprochen habe. Erst am 18. Februar 2005 wurde das Todesurteil durch das Oberlandesgericht Köln aufgehoben. Zwischen Unrechtsurteil und seiner Revidierung liegen fast 60 Jahre. Leider hat der Aachener Stadtrat eine Chance vertan. Ein Strich durch Graf-Schwerin-Straße und darüber „Schwartz-Herren-Straße“, das wäre ein Zeichen der Wiedergutmachung gewesen.


Guten Abend
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Lob der Leistungsträger

auf-Knoellchen-warten

Ja, so ging’s
zu heute in Aachen. Und offenbar wurden besonders die Autofahrer „auf eine Geduldsprobe gestellt“, standen irritiert neben den Fahrzeugen und warteten vergeblich auf ihre Knöllchen. Ab und an war zu beobachten, wie einer aus Verzweiflung irgendeinen Zettel hervorkramte, ihn zerknüllte und in die Gosse warf, in Ermangelung eines echten Strafzettels. Der Müll allerdings wurde abgeholt. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie der Müllwagen vorfuhr, und hintendrauf stand ein einzelner Mann in Grellorange. Er sprang ab, wuchtete die Mülleimer an die beiden Einfüllschächte und warf  die Tonnen nach ihrer sachgemäßen Entleerung an den Randstein. Diese kleine Nachlässigkeit habe ich ihm sogleich verziehen, denn er war ja völlig allein unterwegs.

KehrmännchenEs handelte sich vermutlich um den Leiter des Stadtbetriebs höchstpersönlich. Das Kunststück, in einer Einzelaktion die gesamte Stadt zu reinigen, hat er anscheinend schon einmal vollbracht, als es galt, die Straßen von den ekligen Müllfluten des Straßenkarnevals zu säubern. Für diese Großtat hat er von Gloria Fürstin von Thurn und Taxis höchstselbst einen Orden erhalten. Es ist nebenbei zu loben, dass sich der deutsche Adel um die Abfallbeseitigung verdient macht. Deshalb ist der Leiter des Stadtbetriebs sich auch nicht zu schade ist, den Streik der Kehrmännchen zu brechen. Leistungsträger streiken eben nicht, und so hat vermutlich im Laufe des Tages der Oberbürgermeister persönlich die wartenden Autofahrer mit saftigen Knöllchen erlöst.

Das erklärt, warum die Bürger den Streik im öffentlichen Dienst ganz gelassen nehmen, wie man den Presseberichten entnehmen kann. Das wird schon wieder, solange nur die Leistungsträger nicht streiken. Erst das wäre verheerend. Man stelle sich vor, die Aufsichtsräte der IKB hätten gestreikt, als es darum ging, den Steuerzahler um lästige 6,5 Milliarden Euro zu erleichtern. Oder die Chefs von BMW sollten grad mal auf einen Rutsch 3.500 Menschen um Lohn und Brot bringen und würden sagen: "Machen wir nicht, wir streiken." Bitte, bester Leser, stellen Sie sich die Auswirkungen auf andere Bereiche selbst vor. Einen Verzicht auf das segensreiche Wirken unserer Leistungsträger kann ich nicht weiter ausmalen, da streikt sogar meine Tastatur. Übrigens wollen die Leistungsempfänger der Bahn demnächst auch wieder streiken, wegen Bahnchef Mehdorns Trickserei. In diesem Falle wünsche ich mir jedoch dringlich, dass statt der Lokführer der Leistungsträger Mehdorn in den unbefristeten Streik tritt, und zwar für die nächsten 25 Jahre. Das sollte reichen, das Volkseigentum Deutsche Bahn vor ihm in Sicherheit zu bringen.

Guten Abend

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Rosa Zeiten für Kinder

Rosa-Glückskind-

Man sollte nicht
denken, dass es rosige Kinder nur auf Plakaten gibt. Heute habe ich so ein Glückskind auf der Straße gesehen. Es war ein magerer kleiner Junge, der im sicheren Abstand hinter einem Mann herging und trotzdem versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Der Kleine trug eine schwarze Lederjacke wie der Mann, und mit gutem Willen könnte man die Gesichtsfarbe des Jungen rosa nennen. Das hatte jedoch mit dem raschen Gehen und der Kälte zu tun. Die kurzen Haare des Jungen waren mit Gel zu einem Kamm aufgestellt. Seine Miene angestrengt, ängstlich verzerrt, und Augen, die offenbar schon Übles gesehen hatten. Er war ein frühreifes Kind und wirkte so rachitisch, als sollte er nie so alt werden wie er aussah.

Es hat eine innere
Logik, dass Kinder in schwierigen Lebensverhältnissen rascher altern, denn Armut verkürzt die Lebenserwartung. Darum müssen Arme auch früher als gewöhnlich Kinder zeugen oder bekommen. Denn auch Arme fühlen sich von der Natur zur Fortpflanzung gedrängt, und gerade dann, wenn die Verhältnisse hart sind. Allerdings hinkt hier die natürliche Prägung der gesellschaftlichen Entwicklung hinterher. In früheren Zeiten waren viele Kinder die Altersversorgung der Eltern. Heute sind Kinder ein Armutsrisiko. Und arme Eltern entlassen ihre Kinder ebenfalls in die Armut, denn mit einfacher Arbeit lässt sich der Lebensunterhalt nicht mehr verdienen, und das gilt nicht nur für Unqualifizierte, sondern auch für viele Angehörige des ehrlichen Handwerks.

Woran liegt das nur? Unsere Gesellschaft verliert die Mittelschicht. Sie teilt sich in arm und reich. Eine Gesellschaft mit schwacher Mittelschicht organisiert sich, soziologische betrachtet, vertikal. Das heißt, die gesellschaftlichen Schichten sind nur wenig durchlässig, weil ein Bindeglied fehlt. In einer solchen Gesellschaft kann man kaum aufsteigen. Dadurch verringert sich die Effizienz einer Gesellschaft, denn wo es keine Durchmischung gibt, können sich Talente aus unteren Schichten nicht entwickeln und somit nichts zur gesellschaftlichen Produktivität beitragen. Diese beunruhigende Entwicklung vollzieht sich nicht im Verborgenen. Die neoliberalen Politiker der herrschenden Parteien lassen sie sehenden Auges zu. Nach Auskunft der Sozialverbände begann die Verteilung von unten nach oben mit der Ära Helmut Kohl. Die Hartz-Beschlüsse der Regierung Schröder unter Mitwirkung der CDU/CSU haben die Ausplünderung der unteren und mittleren Schichten noch verschärft. Und unter Merkel geht es radikal weiter, denn inzwischen kann man da leider nichts mehr machen. Es liegt alles nur an der bösen Globalisierung.

Unsere Gesellschaft sei „Wildwest ohne Sheriff“, sagt der Kabarettist Georg Schramm. Gewiss könnte der Kleine von heute Nachmittag genau sagen, wie sich das anfühlt.

Guten Abend
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Coster übern Tisch weg

Ich fand Coster im Last Exit, wie er murrend und knurrend über einer Zeitung saß. Als ich an seinen Tisch trat, stieß er mehrmals die Wörter „Schmocks“ und „Pack“ hervor. Dann besann er sich, fasste unerwartet begütigend meinen Mantelärmel und sagte: „Dich meinte ich nicht, kannst dich ruhig setzen.“
„Ach ne", sagte ich, „ich setz mich lieber eins weiter. Da ist mir zuviel negative Energie in Ihrem Dunstkreis, Herr Doktor.“ So mussten wir uns in der Folge über die Tische hinweg unterhalten, und da von der Theke her die laute Musik dudelte, wenn nicht sogar die Espressomaschine jaulte, habe ich so gut wie nix verstanden und kann nur hoffen, Coster hat mich auch nicht verstanden. Das wäre wenigstens ausgleichende Gerechtigkeit.

Kauft-Ohrstöpsel

Außerdem kann ich mir schon denken, warum Coster grantelte und es ungefähr wiedergeben. Medienschelte wird’s gewesen sein. Schimpf auf die Eliten, die sich vom Rest der Gesellschaft längst abgeschottet haben und nur am Machterhalt und an der Befriedigung ihrer niederen Instinkte interessiert sind. Und die Medien seien ihre willfährigen Schmarotzer, würden ihnen den Pelz sauber halten. Öffentlich schelten würden sie nur jene, die sich ungeschickter Weise erwischen lassen und ein törichtes Beispiel der Raffgier aus ihren Kreisen nach außen trügen. Man scheue nämlich den publizistischen Aufwand, die Sache wieder grade zu biegen. Jedesmal wenn wieder so eine himmelschreiende Sauerei aus den einvernehmlichen Kreisen der Elite nach draußen gedrungen wäre, müsste eine ganze Kompanie von Leuteverdummern aufgeboten werden zur neuerlichen Hirnwäsche der Massen, Propagandisten des Egoismus wie Olaf Henkel oder ein gewisser Herr Sinn, der sich Professor der Ökonomie schimpfe, und professorale Kollegen, die sich vom Steuerzahler für ihre hirnrissigen neoliberalen Thesen bezahlen lassen.

Überhaupt könne er, Coster, seine Professorenzunft nicht ausnehmen. Schließlich würden sie doch ihren BWL-Studenten all die miesen Tricks der wirtschaftlichen Eliten beibringen, damit sie sich später auskennen im Dreck von zum Beispiel Steuervermeidung oder gar Steuerhinterziehung. Steuern zahlen nur die Dummen, das gemeine Pack, das nicht auskommen kann trotz Onkel Konzens 1000 ganz legalen Steuertricks. Denn die Herrschaften in den Eliten wollten zwar eine exzellente Ausbildung für ihre eigene Brut, doch sie seien zu schön, dafür zu bezahlen. Man geruhe, sich durch die kleinen Leute aushalten zu lassen, um sich hübsch fürstlich vorzukommen. Natürlich dürften die nicht hochkommen. Es ist viel besser, wenn sie grad mal ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Dann haben sie nämlich nicht die Kraft, sich selber schlau zu machen. Und damit sie in ihren elenden Mußestunden nicht auf eigene Gedanken kommen, flößt man ihnen über alle denkbaren medialen Kanäle den widerlichsten Informationsmüll in die Köpfe. Und die Printmedien erst, was sei man doch eine tumbe und eitle Zunft.

Plötzlich schwieg die Espressomaschine. Coster sagte: "Die Medienhuren rechnen sich viel lieber den Eliten zu. Deshalb vertreten sie auch ihre Sache, denn zu scharfe Kritik an ihnen rechnet sich nicht. Dann bleiben die großen Anzeigenkunden weg. - Was?!“, rief er, „das ist übertrieben!?“ Er rutschte an meinen Tisch. „Dann pass mal auf: Vor etwa 10 Jahren hat mir der Verlagsleiter der Frankfurter Rundschau gesagt, man habe enormen wirtschaftlichen Druck. Die großen Anzeigenkunden würden sich verweigern und sagen: „Was wollen Sie, Ihre Zeitung wird doch nur von linken Oberstudienräten gelesen, und die kaufen unsere Produkte nicht.“ „Und“, fuhr Coster fort, „schau dir an, was aus der Frankfurter Rundschau geworden ist!“

Das also hörte ich heute sinngemäß oder auch wörtlich von Coster.

Guten Abend
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Eskalierte Ordnung

ordnungWelche Ordnung ein Ladenlokal haben sollte, hängt vom Warenangebot und davon ab, was man in die Auslage legen will. Auf dem Foto setzt sich die spezielle Ordnung des Schaufensters im Laden fort. Wer also ins Schaufenster hineinschaut, sieht genau, was er zu erwarten hat. Und sollte es ihn hineintreiben, weil die Ladenordnung der Ordnung seines Kopfes entspricht, wird er beim Betreten des Ladens nicht überrascht sein, obwohl sich freilich am hinteren Ende des Ladens die Tür zu einem exklusiven Einkaufparadies auftun könnte. Es ist nicht wahrscheinlich, doch andererseits auch nicht zu bestreiten, es sei denn, man würde sich durch den Laden wühlen und nachschauen.

Träfe man einen Menschen, der gerade noch Kunde des Ladens gewesen, dann würde man sich vielleicht wundern, wenn er ganz adrett gekleidet wäre, frisch frisiert und geputzt. Es ist nämlich so, dass die Auslagen eines Menschen nicht immer darauf schließen lassen, welche Ordnung in seinem Kopf herrscht. Darum hält sich der Mensch ja an bestimmte Bekleidungskonventionen. Diese Konvention anonymisiert ihn ein wenig und lässt nur geringe Rückschlüsse auf seine Persönlichkeit zu.

Wer zum Beispiel bei einem Formel-1-Rennen den exklusiven Paddock-Club im VIP-Bereich der Boxengasse besuchen will, braucht einfach nur eine Eintrittskarte zu etwa 3000 Euro und geputzte Schuhe, weshalb man an der Pforte auch einen Schuhputzer bereitstellt. Es geht dort wie in vielen Bereichen des Lebens nur um die Auslagen eines Menschen. Es kann einer ein reicher Steuerhinterzieher sein oder der russischen Mafia angehören, stimmt das Outfit, sind die Schuhe geputzt, ist er gesellschaftsfähig.

Nur Narren spiegeln ihr Inneres nach außen, denn ein jeder würde seine Gesellschaftsfähigkeit verlieren, wenn er so närrisch wäre. Allerdings wächst die Neigung zum Exhibitionismus und gleichsam wächst die Lust, die Vergehen der Mitmenschen an die Öffentlichkeit zu bringen, sich und andere quasi in ein Schaufenster zu stellen. In diesem Zusammenhang ist ein neues Wort in der Sprache aufgetaucht, ein Homonym zu eskalieren. „Eskalieren" ist ursprünglich ein rückbezügliches Verb, man kann sich eskalieren, was soviel heißt wie „sich stufenweise steigern“. Auch eine Situation kann eskalieren. Das neue Wort „eskalieren“ ist eine direkte Übersetzung aus dem Englischen; to escalate bedeutet, ein Problem mit dem Verantwortlichen zu besprechen. Dieser Anglizismus „eskalieren“ wird also zielend verwendet. Man kann etwas eskalieren, was soviel bedeutet, dass man einem Vorgesetzten eine Information zukommen lässt, eventuell um Kollegen anzuschwärzen. Eskalieren kann man auch mit Hilfe einer E-Mail, indem man einen CC-Anhang macht und den Adressaten unter den Druck einer Öffentlichkeit der anderen Adressaten setzen.

Im wüsten Schaufenster unserer Gesellschaft liegt neuerdings auch das Wort eskalieren. Ich will’s ehrlich gesagt nicht haben.

Guten Abend
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Haumassakatagatanamamor

Heute gibt es keinen Abendbummel, no Sir, allenfalls einen ganz kurzen, der schon zu Ende ist, bevor er überhaupt richtig angefangen hat.

„Haumassakatagatanamamor?!“, rief ein aufgebrachter Mann mit sich überschlagender Stimme in sein Handy, und ich dachte noch, da möchte ich nicht am anderen Ende sein und verstehen, was das heißt. Da er seine heftige Frage mehrfach wiederholte, bevor er zu anderen Tiraden wechselte, konnte ich mir den Wortlaut notieren. Gewiss ist alles nur annähernd aufgeschrieben, denn es ist schwierig, die Äußerung einer unbekannten Sprache aufzuzeichnen. Einen ähnlichen Effekt kann man erleben, wenn man einen fremden Dialekt aufschreiben wollte. Selbst beim eigenen Dialekt kann man nicht mit Sicherheit sagen, wie ein Wort nun wirklich geschrieben werden müsste, wenn keine Vereinbarung besteht, mit welchen Buchstaben die Laute abgebildet werden. Die Lautschrift bietet ja immer nur eine Annäherung an den Laut. Wollte man alle Laute des Deutschen korrekt in der Schrift abbilden, reichten die 26 Buchstaben des Alphabets nicht. Man bräuchte mehr als doppelt so viele, weshalb wir verschiedene Laute mit den gleichen Buchstaben wiedergeben, wie etwa mit dem ch bei „ach“ und „ich“.

Wo sind bei „Haumassakatagatanamamor“ die Wortgrenzen? Wenn man gar nichts über eine Sprache weiß, lässt sich selbst das nicht bestimmen. Man müsste dazu die Sortierung-der-KonsortenGrammatik der Sprache kennen. Hier lässt sich ermessen, was ein Sprachwissenschaftler leisten muss, wenn er eine seltene Sprache beschreiben will, für die es keine Schrift gibt. Ist eine Sprache dann aber verzeichnet, hat man eine Wortliste und ein Grammatikmodell erstellt, erst dann kann man in dieser Sprache einen Fehler machen. Sprachliche Fehler sind eigentlich eine natürliche Erscheinung. Sie treiben den Sprachwandel an, halten eine Sprache lebendig. Durch die Schriftlichkeit einer Sprache wird der Sprachwandel gebremst, kommt bei rigider Auffassung von Orthographie und Schulgrammatik sogar fast zum Stillstand.

Das Mündliche hat seine eigene Qualität und hängt nicht von Kategorien des Schriftlichen ab. Denn eigentlich sollte die Schrift der Sprache dienen, wenn auch manch törichter Sprachpfleger das Gegenteil fordert. Ob der wütende Mann nun „Haumassakatagatanamamor?!“ gerufen hat oder „Hau massa kata gatana Mamor“ ist hinsichtlich der Wirkung auf seinen Zuhörer völlig egal. Ja, selbst wenn in der Erregung manche Silben nur schludrig ausgesprochen wurden, wird der andere wissen, was gemeint ist.

Ein kurzer Bummel, wir sind so gut wie zu Hause. Was genau ist mit dem Plakat im Schaufenster einer Fotohandlung gemeint? Es ist eindeutig ein deutschsprachiger Text, doch was der Verfasser dabei für ein Durcheinander der Begriffe im Kopf hatte, möchte ich jedenfalls nicht im Kopf haben.

Guten Abend
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I Can Hear The Grass Grow

Rot ist die einzige Farbe, die die rote Rose nicht hat. Ja, denn ihre Blütenblätter absorbieren alle Farben des Spektrums. Nur Rot will die Rose nicht haben. Daher strahlt sie es zurück. So geht es mit allen Farben, die wir sehen, stets sind sie der Sache nicht zueigen. Beim Menschen ist es zum Glück anders. Seine Ausstrahlung kommt von innen, ist also ein Ausdruck seiner selbst. Allerdings ist nicht zu bestreiten, dass manche Menschen etwas ausstrahlen, was sie nicht haben. Sie schauspielern, ahmen nach, was sie sich bei anderen abgeguckt haben. Es kann durchaus fruchtbar sein, sich bei anderen etwas abzugucken, besonders wenn man Kenntnisse erwerben und Fähigkeiten entwickeln, also wachsen will, womit wir endlich beim Thema sind. Es geht um grün.

15:14 Uhr auf der
Digitaluhr an der Apotheke, sie springt um und zeigt 12 Grad Celsius an. Wenn die Temperatur drei Tage hintereinander über zehn Grad Celsius liegt, beginnt es in der Natur zu wachsen. Grünen, niederländisch: groeien, schwedisch „gro“, englisch „to grow“. Alle diese Wörter sind verwandt mit dem althochdeutschen Adjektiv „gruoen“, woraus unser Adjektiv „grün“ entstand. „Grün“ ist wiederum eng mit „Gras“ verwandt. Eigentlich bezeichnet grün demnach wachsendes Gras.

In den Vorgärten blühen die Krokusse, und andere Frühlingsblumen sprießen auch. Dass unsere Vorfahren jedoch nicht die Blumen, sondern das sprießende Gras in ein Wort für Wachsen gefasst haben, ist ein Hinweis auf ihre Lebensweise. Sie waren Ackerbauern und Viehzüchter. Deshalb achteten sie in erster Linie darauf, wenn nach dem harten Winter das Gras wieder wuchs und das Vieh auf die Weiden konnte. In der Edda wird erzählt, dass es nichts gab am Anfang der Welt, nicht einmal Gras.



11. Februar. Das Gras grünt. Der Satz ist pleonastisch, denn Gras und Grün bedeuten ja eigentlich das gleiche. Leider ist in der Stadt vom Grünen nicht viel zu sehen. „Da jedermann gehet, waechst kein Grasz.“, wusste man schon 1622. Der germanische Schutzgott Heimdall konnte das Gras wachsen hören. Dazu ist der Mensch nur im übertragenen Sinne fähig, und wenn er es noch so hübsch besingt wie The Move. Unsere Welt ist vermutlich viel zu laut. Egal jetzt. Ich hoffe, dass der lausige Winter sich nicht mehr zurückmeldet. Meinetwegen kann Gras drüberwachsen.

Guten Abend
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Zwiebeln, Butter, Netzers Frauen und Obst

Ein-Zettel-von-Netzers-Frau„Netzers Frauen sprechen in BILD“ Ja, ist denn der vielleicht Mormone? Nein, guckt man nach, dann sprechen Günter Netzers Frau Elvira (56) und seine Tochter Alana (20). Und worüber? Natürlich über Günter Netzer. Deshalb war er auch dabei, als Bild „seine Frauen“ interviewte, „im Luxus-Hotel ‚Baur au Lac’ am Züricher See nahe ihrer Wohnung“, und hat aufgepasst, dass „seine Frauen“ nichts Falsches über ihn sagen. Falls sich das Interview so zugetragen hat, dann hätte Günter Netzer besser mit Bild abgesprochen, wie sie den Beitrag titeln wollen, denn wer möchte schon gern von sich lesen, die 20-jährige Tochter sei eine seiner Frauen.

Es war aber alles ganz harmlos. Eigentlich geht es im Interview um gelbe Merkzettel. Die ältere seiner beiden Frauen klebt sie ihm auf die Kleidungsstücke, bevor Günter Netzer auf Reisen geht, damit er immer weiß, was er zu welcher Gelegenheit anziehen soll. Denn sich selbst anzuziehen, dazu habe er kein Talent, sagt Netzer. Wer fürs Ausziehen von Günter Netzer zuständig ist und ihm dann die Sachen zurechtlegt, wurde im Interview leider nicht gesagt.

Im Einkaufswagen des
Supermarktes lag auch ein Merkzettel. Sein Inhalt ist ebenfalls dürftig, womit ich nichts gegen Zwiebeln, Butter und Obst sagen will. Sich drei Dinge nicht merken zu können, ist eine unangenehme Sache. Geringe Merkfähigkeit gilt als eine Begleiterscheinung der Schrift, vor der bekanntlich schon Platon gewarnt hat. Wo viel aufgeschrieben wird, ist das Gedächtnis kurz. Hinzu kommt natürlich die Belastung durch bildhafte Zerstreuungsmedien. Wem sie ständig den Kopf zumüllen mit banalen Dingen, dessen Gedächtnis kann man nicht trauen. Und wer kein historisches Gedächtnis hat, dem mangelt es auch an Verständnis. Doch zeigt man ihm seine Vergangenheit in einer Retro-Show, sitzt er hüpfend auf dem Sofa und freut sich.

Die Informationsüberflutung ist das Gegenstück zum Klimawandel. Der Globus erhitzt sich, schwappt über und droht unter seinem eigenen Gequassel zu ersaufen. Wo soviel los ist, als wäre die ganze Welt ein allzeit überfüllter Markt, kann man sich nur noch schwer konzentrieren. Deshalb ist es manchmal ganz praktisch, sich einfachen und stillen Dingen zu widmen, wie zum Beispiel einem simplen Einkaufszettel.

Guten Abend
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Herumfliegende Worte

Ein schöner Tag, vorausgesetzt, man guckt nicht in die Zeitung. Wo ich heute herumlief, war es jedenfalls erbaulich. Ich kannte einmal eine Frau, die beim Stadtbummel nicht ansprechbar war, sobald sie irgendwo in der Nähe ein paar Gesprächsfetzen erhaschte. Meist bleib sie dann stehen und tat so, als müsse sie an Ort und Stelle irgendwas Wichtiges tun, um in Wahrheit noch mehr vom Gespräch zu erlauschen. Heute habe ich kurz hintereinander drei Gesprächsfetzen aufgefangen. Danach war ich in Sorge, einen Bekannten zu treffen oder etwas Ungewöhnliches zu sehen, - dann würden die Gesprächfetzen unweigerlich im Orkus des Vergessens versacken. Diese Sorge zwang mich, die Zitate im Stehen zu notieren und ich vermisste dabei eine Unterlage. Es wäre prima, wenn in den Innenstädten hier und dort Stehpulte angebracht wären. Ein solches Stadtmöbel fehlt.

Ich hätte natürlich in ein Cafe gehen können, doch ich hatte mir vorgenommen, zuerst die Schaufensterfensterpuppe einer Apotheke zu fotografieren. Sie war nämlich im Dezember ein Engel, und jetzt ist sie kein Engel mehr, sondern hat einen Knieverband. Bin gespannt, ob und wie die Metamorphose fortschreitet. Eigentlich müsste Figur derzeit eine rote Pappnase haben. Nach Karneval steht die Osterzeit an, dann wäre die Puppe als Bunny ganz hübsch und könnte für Potenzmittel oder Kondome werben.
Engel-mit-Knieverband

Vom Thema abgekommen. Meinen liebsten Gesprächsfetzen hörte ich einmal auf der Kölner Domplatte. Ein junger Mann sagte zu einem alten: "Reg dich nicht auf, Onkel Franz, ich mach das schon." Aus irgendeinem Grund ist dieser Satz für mich wie Poesie. Heute fing ich den ersten Gesprächsfetzen am Aachener Markt auf. Vor dem Lokal Postwagen, gleich neben dem Standesamt, hatte sich eine staatsgemachte Hochzeitsgesellschaft versammelt. Ein Mitvierziger sprach auf zwei Frauen und einen Mann ein, zeigte einer imaginären Person mit heftiger Geste einen Vogel, beugte sich vor und sagte empört: „… und feiert da Silvester!“ Warf sich in die Brust und fuhr fort: „ Ja gut, Okay, dat issss ….. „
Die Worte, der Mann, man hätte die Rolle nicht besser besetzen können. Vielleicht ging es erneut um die ominöse Nicole? Jedenfalls dachte ich mir, egal, um wen es geht, man sollte als Außenstehender nie so heftig urteilen. Man ist dann grundsätzlich im Irrtum.

Später überholte ich ein
älteres Ehepaar, und er sagte: „ … ja, isch hab an und für sisch … " - Diese Wendung hatte ich schon lange nicht mehr gehört. Sie gehört einem Soziolekt des Nichtssagenden an, kann ohne Informationsverlust gestrichen werden, hat aber etwas Kommunikatives. Die Wendung ist nur zu gebrauchen, wo es nötig oder erlaubt ist, sich sprachlich auszubreiten. Da braucht man als Zuhörer Zeit. Nur wer Zeit hat, kann sich so unterhalten.

Im Cafe sprach eine alte
Dame mit einer Kellnerin, die ihr mit den Krücken half. „Ne, ne, dat jehört sich nicht!“, sagte sie immer wieder. Was genau sich nicht gehörte, konnte ich nicht herausfinden. „Das gehört sich nicht“, wird sowieso mit den derzeit Alten aussterben. Die nachfolgenden Generationen haben nämlich sehr divergierende Ansichten darüber, was sich wie gehört. „Das gehört sich nicht“ gehört in eine Welt des Anstands. Diese Welt ist dabei, im Orkus des Vergessens zu verschwinden.


Guten Abend
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Abendbummel online - Anrüchiges Thema

Der Kreislauf des GeldesUnd kein Winter in Sicht. Und keine Themen auf der Straße. Und keine Kunden im Friseurladen. Und mein Friseur sagte so gut wie kein Wort. Nur einmal wurde die Stille von Bemerkungen unterbrochen, als nämlich die Schere zu Boden fiel. Zum Glück blieb sie nicht mit der Spitze im Boden stecken, denn das wäre ein schlechtes Omen; es bedeutet späten Besuch. Das könnte im Frisuerladen nur einer sein, der kurz vor Feierabend reinkommt und die Löschen so wild um die Ohren hat wie ich, bevor der Friseur Hand an mich legte. Doch ich kam zeitig. Meine eigene Mutter würde mich nicht mehr erkennen, so hingebungsvoll hat der stille Friseur mir jedes einzelne Haar geschnitten.

Danach bummelte
ich durch die leere Stadt und ließ mir vom böigen Wind die sorgsam geföhnte Haarfrisur wieder in Ordnung bringen. Das Jahr ist noch jung, und so sind noch lange nicht alle Figuren aufgetaucht, die das Jahr 2008 bevölkern werden. Sie stehen erst später im Jahr im Weg herum, wenn ich es eilig habe. Irgendwie vermisse ich das Volk, und ich bin heimlich froh, wenn sich die Reihen wieder auffüllen.

Das dachte ich, als ich im Café am Münsterplatz saß und draußen nichts Interessantes sah, bis auf einen Angestellten der Sparkasse im dunklen Anzug. Er hatte ein Handy am Ohr und schritt mit flatternden Hosenbeinen im Kreis. Er hätte das Gespräch auch in seinem wenige Meter entfernten Büro führen können, doch es war offenbar eines, bei dem man mit großen Schritten im Kreis laufen muss. Da waren auch zwei junge Stadtstreicher, die miteinander haderten. Ich habe die beiden schon einmal vor dem Eingang eines Supermarktes gesehen. Damals stritten sie auch. Der eine behauptete, dass er stets mehr Geld zusammenschnorren könne als der andere. Und auch jetzt blieb der bessere Geldsammler mit seinem Becher auf dem Münsterplatz zurück, derweil sich der andere scheltend entfernte. Der Bettler und der „Banker“ waren also beide mit Geldfragen beschäftigt. Der Unterschied zeigte sich in ihren Schritten. Der Bettler machte Trippelschritte auf der Stelle, wenn sich jemand näherte. Denn weil er Kleingeld erbettelt, kann er keine großen Schritte machen wie der Banker, der gewiss einen Millionendeal am Ohr hatte. Von der Stelle kamen beide nicht, denn ihre Gedanken kreisten um Geld.

Der moderne Mensch
denkt viel über Geld nach. Entweder drückt ihn ein Zuwenig oder es plagt ihn die Sorge, wie er sein Zuviel vermehren kann. Das ist irgendwie unerfreulich, denn es müssen so viele andere Dinge bedacht werden, wenn die Gesellschaft vorankommen will.

Später habe ich mir Rollkoffer angeschaut. Im Foyer des Ladens war eine große bronzene Springbrunnenplastik aufgestellt, eine Figurengruppe mit beweglichen Gliedern rund um ein ovales Becken. Im Becken lagen überdimensionale Münzen. Und ich dachte: Geld, verdorie, schon wieder dreht sich alles um Geld.

Guten Abend
Brunnen in Aachen: Der Kreislauf des Geldes
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