Abendbummel online

Bitte geben Sie dem Leierkastenmann kein Geld

LoslassenDie Innenstadt ist schwarz von Menschen. Pech für uns, jetzt geht es nur schleppend weiter, - wir kommen nicht einmal über den ersten Satz hinaus. Wieso heißt es „schwarz von Menschen“? Da weiß nicht einmal Lutz Röhrich in „Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten“ einen Rat. Etymologisch gesehen ist schwarz verwandt mit den Wörtern „Dunkelheit“, „Nebel“ und „schmutzig“. Unzweifelhaft tragen die bummelnden Herrschaften überwiegend schwarze oder dunkle Kleidung. Man hat sich telepathisch darauf geeinigt. Wie das funktioniert, ist noch nicht erforscht. Einen ähnlich geheimnisvollen Einklang kennt man von Vögeln, wenn sie sich zu Schwärmen ballen und in der Dämmerung hin- und herwogen, bis sie einen Schlafplatz gefunden haben.

An Schlaf ist noch nicht zu denken. Die Geschäfte haben an diesem trüben Sonntag geöffnet, und durch die dunkle Menge schiebt ein Leierkastenmann orgelnd seine Orgel heran. Warum müssen Leierkästen eigentlich Räder haben? Könnte man den Schaden nicht begrenzen? Es ist ja schon ein Kreuz, dass man stets versucht ist, sich die Melodie aus dem Durcheinander der Orgelpfeifen herauszufieseln, und hat man sie dann, ist’s aus mit der Gemütlichkeit. „Ich küsse Ihre Hand, Madam – und wollt’, es wär’ Ihr Hund …“

Aus der Sicht eines Hundes verdunkelt die Bummlerschar gewiss die Welt. Welches Durcheinander der Gerüche seine Sinne vernebelt, entzieht sich meiner Vorstellungskraft. Für mein Empfinden wirken eigentlich alle sauber und herausgeputzt, bis auf den einen oder anderen schmutzigen Mann. Leierkastenmusik ist so penetrant brutal wie auf Felder ausgefahrene Gülle. Wer in der Nähe ist, kann seine Sinne nicht taub dafür machen, sondern ist hoffnungslos ausgeliefert. Wie, bitteschön, soll man da über die Etymologie von „Schwarz von Menschen“ nachdenken? Der Leierkastenmann wechselt zu: „We Can Work It Out“. Das ist eigentlich ein schönes Lied. Lennon/McCartney haben es am 20. Oktober 1965 aufgenommen. Im Augenblick wäre mir lieber, die beiden wären am 20. Oktober 1965 einfach mal nur so in die Stadt gegangen.

Jetzt steht der Leierkastenmann genau vor mir. Brummen, Pfeifen, Tirili, und dann höre ich tatsächlich „Penny Lane“ heraus. Uff, diese beschwingte Melodie kann noch nicht einmal ein Leierkastenmann komplett verhunzen. Nein, es ist sogar ganz hübsch, wie die Leute plötzlich im Takt von Penny Lane an mir vorbeiziehen. Gut, ich sitze nicht im Swingin London der 60er, sondern 2007 am Aachener Münsterplatz, und vom Aachener hat einst Heinrich Heine gesagt, er gehe, als hätte er gerade den Stock verschluckt, mit dem man ihn vorher geprügelt hat. Das Heine-Zitat ist natürlich nicht Ernst gemeint, sondern sogar Spaß. Inzwischen haben sich die Aachener gemacht und gemischt, und unter den Passanten sind ausländische Mitbürger, sogar dunkelhäutige. Für diesen Augenblick am Nachmittag ist die Welt jedenfalls ziemlich bunt, obwohl auch die zum Markt ansteigende Krämerstraße schwarz von Menschen ist. Man könnte sogar sagen, sie verdunkeln den Himmel, was übrigens gegen die These spricht, im Himmel wäre viel Betrieb.
Heißt es eigentlich "schwarz vor Menschen" oder "schwarz von Menschen"? Die sprachliche Richtigkeit wird nicht vom Duden oder von selbsternannten Sprachpflegern festgelegt, sondern allein durch die Gemeinschaft der kompetenten Leser und Schreiber. Mit einem Test im Internet können wir feststellen, was von der Mehrheit als sprachlich richtig empfunden wird.
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Lockruf der Elche

WeihnachtsgeschenkWer im Mittelalter Waren auf dem Rhein beförderte, musste sie in Köln ausladen und drei Tage zum Verkauf anbieten, denn Köln besaß wie viele Städte am Rhein ein Stapelrecht. Man kann sich vorstellen, dass die Kölner Bürger den Markt am Stapelplatz zu schätzen wussten, vor allem wegen der Überraschungen durch das im Voraus unbekannte Warenangebot.

Das Warenangebot unserer
Tage ist nicht mehr von Zufällen bestimmt, sondern folgt dem Kalkül und den strengen Regeln der Verkaufsstrategen. Heute wurden in den Kaufhäusern die Halloween-Kürbissköpfe abgeräumt und schon steht überall die Weihnachts- dekoration im Weg.

In diesem Jahr sind gläserne Elche als Jahresendzeitfiguren anbefohlen, eine logische Konsequenz des anhaltenden Runs auf die blinkenden Elchgeweihe der Weihnachtsmärkte. Was der Elch mit Weihnachten zu tun hat? Ich glaube, er zieht in Walt-Disney-Filmen den Schlitten des von Coca-Cola erfundenen Weihnachtsmanns.

In Deutschland (jetzt habe ich mich doch dreimal bei dem Wort „Deutschland“ vertippt) – also in Deutschland ist ja eigentlich nicht der Elch geläufig, sondern der Elchtest: Man fährt mit einem A-Klasse-Mercedes vollrohr auf einen Elch zu und guckt, wer umfällt. Der Eingang zum Kaufhof wäre breit genug und der Weihnachtsschmuckdekorationstisch steht direkt in der Haupteinflugsschneise. Falls hier Kinder mitlesen: Sowas tut man nicht. Außerdem dürft ihr sowieso noch nicht Autofahren.

Ich glaube, heute ist der 2. November. Und in der Stadt gibt es ein „Rennen, Retten und Flüchten“ (Dr. Erika Fuchs), als wäre just ein Schiff mit Waren aus fremden Ländern vor Anker gegangen. Kaum zu fassen: Der Einzelhandel stellt die Weihnachtsdekoration auf, und unter diesem Diktat beginnt sogleich der Zug der Einkaufslemmige. Wieso sind eigentlich die Weihnachtsmarktbuden noch nicht vom Konsumhimmel gefallen? Da stimmt was nicht mit der Terminsynchronisation. Die Lemminge brauchen doch blinkende Elchgeweihe.

Guten Abend
Foto: Trithemius, 2. November 2007
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Übers Wetter und guten Ton

Dass es heute regnet, hätte ich gestern im Wetterbericht der ARD erfahren können. Als jedoch Claudia Kleinert anhob zu sprechen, habe ich ihr den Ton abgeschaltet. So konnte ich mich besser auf ihre Gestik konzentrieren. Wie nennt man eigentlich die Leute, die anderen sagen, wie sie sich zu bewegen haben? Dompteure, Formalausbilder? Jedenfalls hat jemand Claudia Kleinert Bewegungsvorschriften eingetrichtert. Ihre Gesten folgen einer seltsamen Choreographie, die es sich lohnte, in ihren verschiedenen Phasen festzuhalten und genauer zu betrachten. Denn die Art und Weise, wie man sich in bestimmten Funktions- oder Positionsrollen angemessen zu geben hat, spiegelt wie die Verbalsprache den Zeitgeist.

...

weiter gehts hier
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Abendbummel durch private Welten

Privatweltaneignung„Wir haben nur Topfblumen“, sagt die Frau im Blumengeschäft, und obwohl sie sich Mühe gibt, mich zu überzeugen, lasse ich mir keinen Blumentopf andrehen. Man kann doch bei einer Einladung nicht mit einer Topfblume erscheinen, oder? Jedenfalls würde ich mich garantiert unwohl fühlen und dann würde ich mich entschuldigend etwa sagen hören: „Halten sich länger.“ Gleichzeitig würde ich mich ärgern, dass ich mich schon bei der Begrüßung der Dame des Hauses entschuldigen muss, weil ich zu faul gewesen war, noch einmal in die Innenstadt zu laufen. Also suche ich lieber ein anderes Blumengeschäft. Dort frage ich nach einem Herbstblumenstrauß, und die Blumenfrau geht mit mir vor die Tür, um mir ihre neuste floristische Kreation zu zeigen. „Nee, der ist mir zu protzig!“ Schon muss ich mich bei ihr entschuldigen und rasch hinterher schieben: „Verzeihen Sie, ich wollte Ihr Werk nicht schmähen!“ Das hilft, und sie gibt sich mit meinem Strauß wirklich Mühe.

Bei meinen
Gastgebern treffe ich auf einen freundlichen Mann, einen Freund der Familie, der sich beständig etwas in ein Büchlein notiert, Buchtitel, meine Teppichhausadresse, Wörter, die ihm gefallen … - er kartographisiert seine Eindrücke. Diese Form der Aneignung von Welt schätze ich sehr. Wenn man auf diese Weise Notizen macht, verbinden sich manche von ihnen synästhetisch mit dem Ort des Geschehens und eventuell mit der gesamten Situation. So bekommt jede Notiz eine Bedeutungstiefe, die einer nachträglichen fehlt. Vor Jahren zeichnete ich einmal 30 Tage hintereinander von morgens bis zum späten Nachmittag, wenn das Licht zu schlecht wurde. Dabei hörte ich die ganze Zeit Musik. Noch Jahre später erinnerte ich die Musik, wenn ich eines der 30 Bilder betrachtete, und ich erinnerte mich an die Bilder, wenn ich die Musik hörte. Ähnlich koppelt sich eine Notiz an den Ort des Geschehens und an die Personen. Man muss freilich auch ordentlich schreiben, wie der Mann es tut.

Zu den
Dingen, die man nicht leicht verbessern kann, gehört ein Moleskinebüchlein. In seiner jungfräuliches Form ist es nahezu perfekt. Wenn man etwas hineinschreiben will, muss man dieser Form etwas hinzufügen, das ihren Wert deutlich hebt. Der Mann schreibt mit einer kleinen, sorgfältigen Schrift. Er hat die leichte Hand eines Zeichners, und so finden sich gewiss auch einige Zeichnungen in seinem Büchlein. Wenn mir einmal ein junger Mensch begegnen würde, der auch so ein Büchlein führt, wäre ich irgendwie erleichtert. Ich fürchte diese Form des schreibenden und zeichnenden Aneignens ist eine aussterbende Kunst.

Ein Internet-Weblog hat andere Qualitäten. Ihm allerdings fehlt die Tiefendimension und vor allem das Private. Zwischen dem Leben und dem, was jemand in seinem Weblog spiegelt, klafft in der Regel eine Lücke. Was sich im privaten Raum abspielt, lohnt sich festzuhalten durch Notizen. So ein Büchlein ist eine Erweiterung des eigenen Daseins. Man kann sich in Mußestunden darin versenken und daraus schöpfen wie aus einem Bergwerk.

Guten Abend
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Regenschirm aufspannen

Kommst du mit in die Stadtbibliothek? Sie ist im Gebäude einer ehemaligen Molkerei untergebracht, das man um- und ausgebaut hat. Eine ganze Weile hat es da noch nach Milch gerochen. Doch irgendwann verliert sich alles. Früher lag die Stadtbibliothek in einem alten Gebäude in der Peterstraße. Man trat auf der ersten Etage in einen Katalograum, musste zunächst Karteikarten befragen, dann einen Bestellzettel ausfüllen und einem livrierten Angestellten aushändigen. Der nannte dir gnädig einen vagen Abholtermin, und wenn du Glück hattest, lag dein bestellter Stapel bereit, nachdem du eine Runde durch Aachen und einmal rundum gemacht hattest. Und manchmal konnte sich dein Glück unmittelbar in Pech verwandeln, wenn sich die bestellten Werke als ungeeignet entpuppten.

schirm_aufspannenDas Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens steht übrigens auf der ersten Etage. Die Bände gehören zum Präsenzbestand. Man kann sie nicht ausleihen. Im Regal drüben steht allerdings ein Nachdruck, den man ausleihen dürfte. Ich blättere lieber in der ledergebundenen Ausgabe von 1933, obwohl ich Vegetarier bin. Die Kühe, die dafür ihre Haut hergeben mussten, sind ja nicht mehr zu retten. Außerdem, wenn ich Milch trinke, muss ich mich auch damit abfinden, dass eine Kuh nicht an Altersschwäche sterben wird, sondern vorher die Gurgel ... und so. Das ganze Schriftwesen ist unmittelbar mit tierischen Produkten verbunden. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Buchpapier mit tierischem Leim gemacht. Dieses Papier hält viel länger als jüngere Papiersorten. Deshalb ist der Erhaltungszustand alter Bücher oft besser als der ihrer Nachfolger. Für das HDW gilt das leider nicht.

Im Kellergewölbe der Bibliothek lagern Pergamenthandschriften. Viele müssen noch archiviert werden. Eine Bibliothekarin sieht darin ihr Lebenswerk. Kürzlich war sie in der WDR-Lokalzeit zu sehen, und da sagt sie, dass sie bis zum Ende ihrer Dienstzeit nicht damit fertig werden würde. Vor einigen Jahren bin ich einmal mit ihr ausgegangen. Doch mit ihren Büchern konnte ich nicht konkurrieren.

Die feinste Sorte Pergament heißt übrigens Jungfernpergament. Es ist aus der Haut ungeborener Tiere gemacht. Schon seltsam, oder? Man kann sich die heilige Inbrunst vorstellen, mit der sich ein Schreibermönch an sein Pult setzte, um heilige Texte aufs Jungfernpergament zu kalligraphieren. Die Inbrunst war auch nötig, denn das Schreiben war ein mühseliges Schaffen. Oft waren die Skriptorien ungeheizt, und in vielen Randbemerkungen findet sich die Klage über schlechtes Beleuchtung und kältestarre Finger. An einer Bibel schrieb man über ein Jahr. Doch der heilige Columba im 6. Jahrhundert schrieb eine Evangelienhandschrift in 12 Tagen. Dietrich, der erste Abt von St. Evroul, nutzte übrigens den Aberglauben, um seine Schreiber zu motivieren. Er pflegte ihnen die Geschichte von einem sündhaften Mönch zu erzählen, der einmal aus freien Stücken einen Folianten abgeschrieben hatte. Als er gestorben war, verklagten ihn die Teufel, die Engel aber brachten das große Buch hervor, von dem nun jeder Buchstabe eine Sünde aufwog, und siehe da, es war ein Buchstabe übrig. Da wurde seiner Seele gestattet, in den Körper zurückzukehren und auf Erden Buße zu tun.

Bin ich etwa vom Thema abgekommen? Du guckst so merkwürdig. Ja, ich weiß, wir wollten nachschlagen, was es mit dem Schirmaufspannverbot auf sich hat. Tatsächlich steht hier was. Komisch, jahrzehntelang habe ich meinen nassen Schirm aufgespannt, und jetzt lese ich, welch schreckliches Ungemach mir deshalb widerfahren könnte. Und alle scheinen von der Gefahr zu wissen. Selbst die Queen lässt den Regenschirm erst vor dem Buckingham Palace aufspannen, habe ich bei wdr.de gelesen. Aberglaube sucht sich übrigens immer neue Erscheinungsformen. In einem Skater-Forum las ich eben: „regenschirm in der wohnung aufspannen, bringt die bullen ins haus“. Warum die Queen wohl Angst vor den Bullen hat?

Guten Abend
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Kopfsteinpflastermusik

Kopfsteinpflaster-auf-dem-AJa, gibt’s, denn heute keinen Abendbummel?

Die Frage ist ein fünfhebiger Jambus, erste Silbe unbetont, zweite Silbe betont, und das fünfmal im Vers. Der Jambus ist beschwingter als sein Bruder Trochäus, der sogleich mit einer betonten Silbe beginnt, als würde einer bei dir zu Hause die Tür eintreten und: „Komm jetzt mit!“ rufen.
Nein, Trochäus woll’n wir nicht,
Wir bummeln jetzt in Jamben.

Den ganzen Bummel in Jamben zu schreiben, das wäre mir aber zu mühselig. Denn immer wenn ich einen Jambus zu schreiben versuche, fällt mir ein Satz ein, der partout ein Trochäus sein will. Und umgekehrt. Übrigens, wir gehen inzwischen über den belebten Münsterplatz. Hier liegt Kopfsteinplaster, da empfiehlt es sich nicht, über Schrittfolgen nachzudenken. Guck, da klackert wieder eine Frau in Pumps heran. Wie Frauen auf hohen Absätzen über Kopfsteinpflaster gehen, das nötigt mir stets Bewunderung ab. Es ist eine Akrobatenleistung, die allein der Schönheit oder der Eitelkeit gewidmet ist, also im hohen Maße kulturell.

Übrigens, ist dir
das eigentlich schon einmal aufgefallen? Das Wort „Trochäus“ ist selbst ein Jambus, während das Wort „Jambus“ ein Trochäus ist. Ich gebe zu, das ist eher nutzloses Wissen. Doch wer sich mit nutzlosem Wissen beschäftigt, verhält sich ebenso kulturell wie die Frauen mit hochhackigen Schuhen auf Kopfsteinpflaster. „Kultur ist Reichtum an Problemen“, sagt Egon Friedell.

Komm, wir lassen mal den Mann mit dem Rollwagen vorbei. In letzter Zeit denke ich oft darüber nach, wie denn wohl in 10 bis 15 Jahren die Bürgersteige und Plätze gestaltet sein werden. Im Jahre 2020 steht nicht nur ein Mann mit Rollwagen, - wie heißen die Dinger noch mal, doch nicht Petstroller? Na, egal, wir waren im Jahr 2020, dann heißen die vielleicht ganz anders. Also, dann steht nicht nur einer mit seinem Schiebekärrchen hinter dir und kann nicht weiter, dann stehen in der Stadt Hunderte herum. In jedem Fall brauchen wir dann breitere Bürgersteige und Rampen an allen Eingängen. Selbstverständlich werden die Kopfsteinpflasterpassagen dann mit Rollbahnen durchzogen sein oder gar ganz weichen müssen. Weißt du, und darum sitze ich zur Zeit noch so gerne am Münsterplatz. Solange noch die akrobatischen Hochhackigen über das Kopfsteinpflaster klackern.

Guten Abend
(Das ist ein Trochäus)
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Knatschjeck aus Tüten

FunkenflugEinige Tage kaum erreichbar zu sein, ist Luxus. Doch kehrst du zurück, musst du ein bisschen dafür büßen. In deinem Leben hat sich ein Informationsstau gebildet. Das ist, als hätte man dir während deiner Abwesenheit den Schrank vollgeräumt. Du machst arglos die Schranktüren auf, und da purzeln dir allerlei Schachteln entgegen. Die meisten tragen Aufschriften oder Bilder, manche sind sogar recht farbenfroh. Du hast es geahnt, trotzdem erschrickst du vor der Fülle. Dann guckst du dir den Haufen zu deinen Füßen an und sortierst erst einmal vorsichtig mit der Fußspitze. Die grauen Schachteln verlangen danach, als erste aufgemacht zu werden. Das ist recht unangenehm, und darum …

… habe ich erst einmal gegessen und ein ordentliches Kölsch gekippt. Dann habe ich die bunten Schachteln aufgemacht. Und immer wenn ich gerade in Stimmung war, öffnete ich eine der grauen.

Es dauert eine Weile, bis man sich alle Inhalte in den Kopf gekramt hat. Hinter jeder Mitteilung steckt schließlich ein Absender mit einem kompletten Leben. Das verlangt mehr oder weniger Hinwendung und Zuwendung. Stünden all diese Menschen um einen herum, was wäre das für ein Theater! Doch die Fernkommunikation findet in der zweiten Dimension statt. Der Mensch des 21. Jahrhundert muss einen Teil seiner Aufmerksamkeit der zweidimensionalen Uneigentlichkeit widmen. Alltäglich muss er sich dort eine leise Dröhnung hereinziehen. Ich bin jedenfalls heute knatschjeck.

Guten Abend
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Unwahre Kirschen im Regen

Eine wahre Bitte

Die wahre Bitte, die Kirschen nicht zu berühren, wirft die Frage auf, ob es denn auch eine unwahre Bitte geben kann. „Bitte hier nicht weiter lesen!“ – wäre zum Beispiel eine unwahre Bitte, denn indem der Abendbummel noch weiter geht, erweist sich die Bitte als ihr Gegenteil, und das, obwohl es inzwischen regnet und damit ein Grund gegeben wäre, den Bummel zu beenden und nach Hause zu gehen. Jedenfalls lassen wir uns nicht weiter aufhalten und kaufen keine Kirschen, sondern denken ungefähr von hier bist da hinten darüber nach, warum es „wahre Bitte“ heißt. Will sie ihre Bitte besonders eindringlich machen, weil sie hat erleben müssen, dass eine einfache Bitte nicht reicht, ihre Kirschen vor dem Betatschen zu schützen? Unlogisch erscheint das nicht.

Gut, ich gebe zu, dass die Botschaft auf dem Schild etwas anderes bedeutet, nämlich „Ware bitte nicht berühren!“ Bei einer Aufforderung aus vier Wörtern fünf Orthographiefehler zu machen, ist große Kunst, in diesem Fall die Kunst der Marktfrau. Sie hat guten Grund, voller Stolz hinter ihrer Marketing-Meisterleistung zu posieren. Denn würde ich jetzt nicht lieber eine Ananas essen als Kirschen, dann hätte das Schild mich vielleicht zum Kauf gereizt, da es einiges signalisiert, ohne dass es ausdrücklich ausgesprochen wäre. Aus den Orthographiefehlern könnte man schließen, dass die Schreiberin nur eine unzulängliche Schulbildung hat, was man für typisch halten könnte für eine Markt-Anbieterin vom Land. Sie hat da nur eine Zwergschule besucht, und wenn zu Hause auf dem Hof viel Arbeit war, dann ließ man sie die Schule schwänzen, damit sie zum Beispiel bei der Kirschenernte helfen konnte. Was soll eine Landfrau auch mit Buchstabenwissen? In ihrem Leben geht es handfest und naturverbunden zu; man hat Wichtigeres zu tun als Orthographie zu lernen.

So etwa könnte man bei flüchtigem Betrachten des handschriftlichen Textes denken und dann unzulässiger Weise darauf schließen, dass die Verfasserin nicht nur eine ungebildete Landfrau ist, sondern auch die Kirschen eigenhändig vom Kirschbaum auf der Hauswiese gepflückt hat.

Bitte halte mal kurz den Schirm, mir ist der Schuh aufgegangen, und jetzt schleift ein Schnürsenkel durch die Pfützen. Also, die Landfrau. In Wahrheit ist sie bauernschlau, und Bauernschläue schlägt das Buchstabenwissen um Längen. Nirgendwo an ihrem Stand behauptet sie, dass die Produkte aus eigenem Anbau stammen. Obst und Gemüse hat sie vielleicht vom Großmarkt, und was der Discounter billig vermarktet, das haut sie mit saftigem Preisaufschlag als Hauswiesen- und Hofgartenprodukte raus. Irgendwie macht mich die Rosstäuscherei beinahe schwermütig. Doch dann denke ich, die Bauern und Marktweiber haben eigentlich schon immer gern betuppt. Sie haben quasi eine Art Gewohnheitsrecht. Und die eine da, die spezielle, hat auch meine Hochachtung. Denn mit vier Wörtern eine Botschaft zu verfassen, die das eigentlich Gemeinte ausdrückt sowie die eben geschilderten Assoziationen und Konnotationen wachruft, - vor diesem schriftsprachlichen Augennagel zöge ich meinen Hut, wenn ich einen hätte und der Regen mir nicht ohnehin schon in den Nacken seifen würde.

Wir sind übrigens gleich im Trockenen, und dann kannst du deinen Schirm aufspannen oder in der Badewanne aufhängen, wie du gerade lustig bist.

Guten Abend
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Abendbummel online - Achtung, hier kommt ein Geheimnis

Neulich in den USA: Jack, John, Bob und Bill, Männer ohne Job und Perspektive, hausten mit in ihren Familien in düsteren Zimmern, ihre Kinder versackten in virtuellen Internetwelten und ihre verzweifelten Frauen mussten ausdauernd Hamburger oder Hotdogs essen und dazu den ganzen Tag vor dem Fernseher hocken, um zum Beispiel Oprah Winfrey beim Reden und Hantieren zuzuschauen. Eines Tages erzählte ihnen Oprah ein Geheimnis, das ihr aller Leben verändern sollte. Eine gewisse Rhonda Byrnes hatte nämlich herausgefunden, wie man ohne eigene Leistung reich und glücklich werden kann. Ihre Erkenntnisse verrät die findige Rhonda in einem Film und einem Buch, die beide „The Secret“ heißen. Worin besteht das Geheimnis? Man kann Wünsche ans Universum schicken. Die werden prompt erfüllt. Das ist nicht etwa Hokuspokus, sondern angewandte Quantenphysik. Und das Beste ist: Es klappt.

Jack, John, Bob und Bill, Männer ohne Job und Perspektive, kamen über Nacht zu Geld und zu schmucken Eigenheimen, denn das hatten sich ihre Frauen vom Universum gewünscht. Die eine schnitt ein hübsches Haus aus der Zeitung aus, und kurze Zeit später bekam sie ein richtiges. Eine malte sich einen Riesenscheck – und schon kam die dicke Kohle ins Portemonnaie. Natürlich fiel das Geld nicht vom Himmel. Es muss ja alles mit rechten Dingen zugehen. Nein, freundliche Banker warfen einfach Hypothekenkredite aus dem Fenster, direkt vor die Füße von Jack, John, Bob und Bill.

Nun ist ja ein herumerzähltes Geheimnis per Definition kein Geheimnis mehr. Plötzlich wurde das Universum mit Wünschen überhäuft, und da es sich nicht lumpen lassen wollte, erfüllte es Wünsche auf Teufel komm raus. Doch um die Wünsche von Jack, John, Bob, Bill und ihrer mehr erfüllen zu können, musste das Universum Geld und Glück aus dem restlichen Teil der Welt zusammenraffen. In Deutschland lieh es sich das Geld zum Beispiel von der Sächsischen Landesbank, und das Glück lieh es sich von jedermann. Denn wo das Geld an allen Ecken fehlt, ist das Unglück nicht weit.

Das konnte auf Dauer nicht gut gehen. Prompt gab es Engpässe in der galaktischen Registratur. Anträge wurden nicht bearbeitet, Wünsche verschlampt, Glück und Geld wurden knapp. Schon erlahmte der Geldfluss, und das wiederum führte in den USA zu einer Finanzkrise, die entgegen aller Beteuerungen noch nicht überwunden ist und sich inzwischen über die halbe Welt verbreitet hat.

Mangelerscheinung
Jack, John, Bob und Bill haben sich vermutlich auch dauernd schönes Wetter gewünscht. Wer hat deshalb den ganzen Regen abgekriegt? Wir. Und das dicke Ende kommt noch: Heute verkündet Deutschlands wichtigste Straßenzeitung, der Herbsturlaub werde "knapp (und teuer)". Warum? „Wegen Regen-Sommer“. Die BILD-Redakteure mussten beim "Sommer" dieser Schlagzeile schweren Herzens auf ein kleines "s" verzichten. Keines mehr da. Einfach von anonym operierenden Sammlern aus der Bildredaktion weggewünscht.

Wohin man sieht:
Mangelerscheinungen. Es wird Zeit, dass wir uns ebenfalls etwas vom Universum wünschen. Was die Amerikaner können, können wir schließlich auch. Ab sofort wird zurückgewünscht! Ich habe eben eine dicke fette Kumuluswolke betrachtet und mir von der galaktischen Registratur ein genauso dickes Glück gewünscht. Bald kann ich vor Glück nicht mehr aus den Augen gucken, und am Teppichhaus hängt ein prächtiges Schild mit der Aufschrift:
Wegen Reichtums geschlossen.

Guten Abend
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Zwischen Liegen und Aufstehen

sei-doch-vernünftig!Welch ein seltsam Ding ist das Aufwachen. Gerade noch ist der Wanderer hurtig im Kopf unterwegs, derweil der Körper sich faul auf dem Diwan lümmelt, mal hierhin, mal dahin dreht, gerade wurden mit einem Pferdemädchen Fleißkärtchen fürs Striegeln getauscht, obwohl sich keines dieser seltsamen Geschöpfe im realen Bekanntenkreis befindet und man nie im Leben ein Pony gestriegelt hat und erst recht nicht einen hochrahmigen schnaubenden Hengst – da wirst du wach und weißt sogleich, du bist irgendwer, und am Ende sogar einer, zu dem ein Pferdemädchen Sie sagen würde.

Etwas in mir will liegen bleiben, schiebt nur einen Fuß lasziv übers Laken als gälte es die hübsche Wade einer Frau zu streicheln, etwas anderes mahnt, dass auf dem Tisch ein Manuskriptstapel liegt mit Worten fremder Menschen, die es zu lesen, zu prüfen und eventuell zu glätten gilt. Der Körper, zwei Stunden passiv gewesen, drängt plötzlich ins Bad und gleichzeitig möchte er noch ein bisschen faul auf der Haut liegen, was letztlich beweist, dass er eigentlich handlungsunfähig wäre, wenn nicht irgendwo anders die Entscheidungen gefällt würden. Der Sinn des Sehens strebt übers Fensterkreuz hinaus und trachtet Gesichter in Wolken zu entdecken oder freut sich an Ordnungsstrukturen gerader Linien, die keine sind, sondern aus der Beschränktheit der perspektivischen Wahrnehmung entstehen.

Ach, und die Konsistenz der stillen Herbstluft moduliert, was von der Straße sich in die Ohrmuscheln hineindreht und weitet das Herz. Da ist die Grenze zwischen innen und außen dünn wie ein Hauch, und schon rühren die Töne an vergessenes Weh. Schluss damit! Raff dich endlich und komm mit zwei Beinen auf den Teppich. Du musst arbeiten, einkaufen, dein Tagwerk fortführen. Doch niemals den linken Fuß zuerst aufsetzen! Wer sagt das eine, wer das andere? Welcher vertrocknete Schulmeister pocht mit hartem Knöchel aufs Pult und wieso haust gleich nebenan in einer spinnwebigen Besenkammer ein abergläubisches Weib? Wer hat wann dieses Arschgespann hereingelassen?

Die Vertreter der modernen Hirnforschung sagen, es gebe weder einen freien Willen noch eine ordentliche Leitzentrale, in der das divergierende Hin und Her verwaltet, registriert und gesteuert wird. Die konkurrierenden Aufmerksamkeitsfunken sausen durch das Netz der Hirnzellen, und nach irgendeinem ererbten Plan wird eine Handlung ausgekungelt, bis ich mich also ergebe und meinen rechten Fuß auf den Teppich setze, um mir zuerst einmal einen Kaffee zu machen, um dann nicht zu arbeiten, sondern etwas absolut Müßiges zu tun, nämlich diesen Text zu schreiben. Diesmal hat also die Eitelkeit gesiegt, und sie scheint überhaupt ein zentraler Antrieb menschlichen Verhaltens zu sein, unter dessen Knute auch und vor allem Hirnforscher ducken.

Denn eines haben sie offenbar beim Sondieren des menschlichen Gehirns verloren – die Fähigkeit zu staunen darüber, dass in dem Durcheinander so etwas wie ein konsistentes Ich sich etablieren kann, das mich zum Beispiel nicht glauben lässt, dass ich bei einem Aufwachen ein Pferdemädchen bin und beim nächsten ein professorales Strichmännchen ohne freien Willen, das durch Hörsäle und Talkshows turnt. Nein, trotz irrwitziger neuronaler Prozesse in meinem Kopf, die sich der Wahrnehmung und der genauen Beschreibung entziehen, weiß ich, ich bin derzeit ein Teppichhändler. Und als Teppichhändler frage ich mich, warum ich ausgerechnet einem getriebenen Menschlein etwas glauben sollte, das sich selbst den freien Willen bestreitet.

Guten Abend
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