Ethnologie des Alltags

Zeitreisende Surfer und ordentlich was auf die Ohren

Die Premiere von „Zeitreisende Surfer“ Teil 2 findet im großen Saal des Freizeitheims Hannover-Vahrenwald statt. Ich habe keine Ahnung, was mich dort erwartet, denn ich bin hingefahren, um die Band Mordslaerm zu erleben. Sie soll zusammen mit einer Band aus Düsseldorf und einem Singer/Songwriter aus Hamburg nach den zeitreisenden Surfern auftreten. Ehrlich gesagt, bin ich erst zweimal in meinem Leben in einem Freizeitheim gewesen, und hatte keine Vorstellung davon, was in einem Freizeitheim so gemacht wird. Spontan hätte ich gedacht, da werden Bastelkurse abgehalten oder Malen nach Zahlen geübt unter Anleitung einer Hobbykünstlerin, die schon mal bei einer Sorte Kaffeefahrt eine richtige Kunstakademie von außen gesehen hat. Vorurteile, alles Vorurteile. Kürzlich hörte ich im Freizeitheim Linden den hier zu lesenden, sehr erhellenden Vortrag des Politikwissenschaftlers Gregor Kritidis über die Verhältnisse und Vorgänge in Griechenland. Im Freizeitheim Vahrenwald geht es um Zeitreisende Surfer, was Fragen zu Form und Inhalt aufwirft. Geht es um eine Reise auf den Wellen der Zeit, per Surfbrett durch den Zeitstrom? Oder ist „Surfer“ metaphorisch gemeint wie beim S-Bahnsurfen?

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Strickguerilla-Aktivistinnen – Tante Liesels Erbinnen

Die Texanerin Magda Sayeg aus Texas hat angeblich das Urban Knitting erfunden. Aber ich glaube, die erste Strickguerilla-Aktivistin war meine Patentante Liesel. Freilich hat sie nicht den öffentlichen Raum bestrickt, sondern mich. Ich erinnere mich mit Schaudern an einen grünen Pullover, den ich ihr zu Ehren tragen musste, weil sie ihn selbst gestrickt hatte, und er engte mich ein wie eine Wurstpelle, da Tante Liesel nie daran gedacht hat, ich könnte etwa seit dem ersten Pullover, den sie für mich gestrickt hat, gewachsen sein.

Später entwickelte ich eine Wollallergie, das hatte ich davon, und wer wie ich als Kind schon bestrickt wurde, ist für sein Leben gezeichnet. Alle möglichen Frauen verstanden und verstehen bis heute, mich zu bestricken, aber sie verwenden mit Rücksicht auf meine Wollallergie unsichtbares Garn, das aber so reißfest ist wie der magische Faden Gleipnir, mit dem der Fenriswolf gefesselt wurde.

Ähem, vom Thema abgekommen. Es geht um Urban Knitting.

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Unverantwortlich! Überall fehlen noch Laubbläser

Upps, ich hätte fast vergessen, mal wieder selbst zu schreiben. Man will ja auch nicht so einfach ein lesenswertes Manifest von der Startseite blasen wie Laub von der Straße. Ein kurioses Verhalten zeigt sich übrigens in diesen Tagen. Als es vor wenigen Wochen beim Discounter „Akku-Laubbläser“ im Angebot gab, war schon zu ahnen, dass die Laubbläserei in diesem November besonders eifrig betrieben werden würde. Veilleicht gibt es bereits Volkshochschulkurse, in denen das kompetente Laubblasen vermittelt wird, denn Laub verwirbelt bekanntlich gern, steigt vor den Schuhen des Laubbläsers auf und lässt sich frech vom Wind davon treiben.

So ein
Mann in meiner Nachbarschaft trat nun schon zweimal pünktlich um 8.00 Uhr morgens vors Haus, warf seinen Laubbläser an und blies in das Laub auf einem Parkplatz vor einer Reihe Garagen. „Nimm das, ekles Laub! Mein Akkulaubbläser hat 100 Dezibel! Der ist so laut wie ein Presslufthammer!“
Aber!

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Wenn die Occupybewegung in Hannover steht

Am Treffpunkt gegenüber dem Hauptbahnhof stehen junge Leute mit großen weißen C&A-Schirmen mit der Aufschrift „28 %“. Gemeint ist aber nicht, dass C&A 28 Prozent der Occupybewegung repräsentiert, sondern einen solchen Preisnachlass gewährt. Ein Mann, den ich flüchtig kenne, trifft ein und sieht sich ratlos um. Er hat ein beschriftetes Pappschild bei sich und will offenbar demonstrieren. Wir beraten uns kurz, dann zückt er sein Handy und ruft einen der Organisatoren an. Man treffe sich diesmal am Kröpke, erfährt er, und wenn wir Kreide bei uns hätten, sollten wir eine Nachricht auf den Boden schreiben. Haben wir nicht. Auf dem Weg zum Kröpke kommt uns durch das Gewimmel der samstäglichen Bummler der weißhaarige Mann entgegen, der bei allen Demonstrationen ein Schild mit der Aufschrift „Nachdenkseiten.de“ umherträgt. Wir halten ihn auf und nehmen ihn mit.

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Hormone killen den Stil - Ethnologie des Alltags

Hat Tage gegeben, da mochte ich gar nicht dran glauben, dass die Natur, so kältestarr, sich noch mal besinnen würde. Und jetzt: Sonne, Vorfrühling. Auf der Bank nebenan im hannöverschen Georgengarten sitzt ein junges Paar. Sie schon die Arme nackt, er, die Beine lang vor sich ausgestreckt, deklamiert selbstgefällig. Ab und zu wehen Wortfetzen zu mir herüber. Ich lese Schopenhauer, wie immer, wenn mein Seelchen etwas durcheinander geraten ist.
Er selbst rät vom vielen Lesen ab:

„Wenn wir lesen, denkt ein Anderer für uns: wir wiederholen bloß seinen mentalen Proceß.“

Genau deshalb fühle ich mich beim Lesen oft wie ein Kalb hinter einem Karren angebunden, immer in der Spur trottend und nicht wissend, wo es hingeht. Da schallt es herüber: „Aber mit Stil! Das mache ich mit Stil!“

Wer so etwas durch den Park trompetet, wird es nötig haben, denke ich, und sofort schilt mich die innere Stimme, wie ich denn angesichts der geringen Informationslage so hart urteilen könne. Na gut, wenn das innere Meckern gleich losgeht, lese ich lieber wieder Schopenhauer. „(…) Zu diesem Allen kommt, daß zu Papier gebrachte Gedanken überhaupt nichts weiter sind, als die Spur eines Fußgängers im Sande: man sieht wohl den Weg, welchen er genommen hat; aber um zu wissen, was er auf dem Weg gesehn, muß man seine eigenen Augen gebrauchen.“

Ja, Mann, was ist dran an der Behauptung: „Aber mit Stil. Das mache ich mit Stil.“? Ich hatte das intuitiv als eine Aussage angesehen, die ein Mensch mit Stil nicht machen würde. Und auf mein inneres Auge kann ich mich meistens verlassen. Aber die mahnende Stimme zwingt mich, darüber nachzudenken. Weit komme ich nicht, mit Schopenhauer auf dem Schoß. Da gibt der Mann mir selbst ein Beispiel: „Na klar, da passt doch auch ein Babykopf durch. Was glaubst du, was Frauen sich alles reinschieben!“

Hätte er seinen gynäkologischen Befund nicht mit ein bisschen mehr Stil vortragen können? Sie hat die Jacke wieder übergezogen, denn eine große Wolkenbank ist von Nordwesten herein gezogen und lässt von der Sonne nur einen Lichtstreif vorbei. Die beiden sind zu weit weg, als dass ich ihre Reaktion sehen könnte, aber ihre Körperhaltung wirkt so gleichgültig wie zuvor. Vermutlich kennt sie ihren Nebenmann gut und ist an derlei Stil gewöhnt.

Schopenhauers Stil ist erfreulich redundant, indem er seinen Gegenstand gründlich von allen Seiten betrachtet und immer noch mit feinen Unterscheidungen aufwartet, an die man selbst gar nicht gedacht hätte. Leider hat er mir das Weiterlesen quasi verboten, der Wind zieht mir kühl ins Kreuz, der stillose Kerl fläzt sich weiterhin auf der Bank, das sind allesamt gute Gründe, nach Hause zu fahren.
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Etwas über den Punkt

„Magath bleibt. Punkt!“ war vergangenen Samstag auf dem Transparent eines Schalke-Fans zu lesen. Eigentlich ist der Punkt ein Satzschlusszeichen, das keine weiteren Satzschlusszeichen erlaubt. Aber es geht, wenn der Punkt ausgeschrieben ist. Der ausgesprochene oder ausgeschriebene Punkt ist ein rhetorisches Mittel, eine Diskussion zu unterbinden.

Schalke-04-Trainer Felix Magath muss trotzdem zum Saisonende gehen, ist heute zu lesen. So macht mich das Transparent glatt ein bisschen traurig, nicht wegen Magath, sondern wegen des Mannes, der das Transparent geschrieben hat. Sein „Magath bleibt. Punkt!“ ist ein hilfloser Versuch, einen sozialen Prozess wie die Ablösung eines Trainers zu stoppen. Man kann eine Diskussion oder einen sozialen Prozess nur auf diese Weise beeinflussen, wenn man in einer Machtposition ist wie Gerhard Schröder damals, als er innerparteiliche Diskussionen mit „Basta“ beendete.

Möglicherweise ist der Schreiber des Transparents in seiner Familie das unangefochtene Alphatier und regiert seinen kleinen Sozialverband mit „Punkt!“ – „Fertig, aus!“ – „Basta!“, aber solche Befehle sind das Zeichen seiner kommunikativen Schwäche. Jeder Doof muss doch inzwischen gemerkt haben, dass die Welt sich nicht befehlen lässt.

Angela Merkel weiß es jedenfalls. Und sie macht es wie der Bambus im Wind, - wobei der Bambus sich irgendwie sträubt, mit Merkel in Verbindung gebracht zu werden. Dann macht sie es eben wie die Pferde, wenn es stürmt: sie dreht ihren Arsch in den Wind. Heute hat sie verkündet, dass die AKW-Laufzeitverlängerung für drei Monate ausgesetzt wird. Sie hat sich aber ungenau ausgedrückt, es muss nicht aussetzen, sondern aussitzen heißen. Merkel will die Diskussion um die Atomkraftwerke bis nach den Landtagswahlen aussitzen. Diese Form der Sitzblockade wird nicht funktionieren. Der Punkt ist noch nicht gemacht.

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Einfach im Partnerlook - Sprachwandel

Auf der großen Freitreppe an der Rathausrückseite saß ich in der Sonne, hatte den Maschteich vor mir und eine Prozession von Bummlern vor der Nase. Eigentlich wollte ich mich der gepflegten Langeweile eines Sonntagnachmittags hingeben. Auf der Terrasse seitlich von mir stand ein junges, hübsches Paar, und schräg die Treppe hoch kam lächelnd eine Frau. Der junge Mann sagte: „Hallo, Mutti!“, Mutti gesellte sich zu den beiden, und es entspann sich ein lebhaftes Gespräch. Das wollte ich nicht hören, also blendete ich die drei aus. Doch plötzlich hörte ich sie folgenden Satz sagen: „Das wäre einfach einfach!“

Sie hat nicht gestottert. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Wörter. Einfach ist ein Adjektiv, was wir daran erkennen können, dass es gesteigert werden kann. Einfach, einfacher, am einfachsten. Das letzte Wort des Satzes: „Das wäre einfach einfach“ ist eindeutig ein Adjektiv. ("Das wäre einfach einfacher.") Das erste „einfach“ ist jedoch kein Adjektiv, sondern ein Adverb. Es lässt sich nicht steigern. Bei einem anderen Satz ist es leicht zu erkennen: „Das Wetter war heute einfach gut“. Hier geht nicht: „Das Wetter war heute einfacher gut.“ „Einfach“ im Wortsinne von „leicht“ ist das Adjektiv. Aber welchen Wortsinn hat das Modaladverb „einfach“?

Die Frage hat mich auf dem Nachhauseweg beschäftigt, und ganz klar ist es mir immer noch nicht. Der adverbielle Gebrauch von "einfach" scheint noch jung zu sein. Nicht mal beim schnellen Wikipedia unterscheidet man Adjektiv und Adverb einfach. Hier ist ein neues Wort geboren, und es hat sich einfach die Klamotten des anderen angezogen. Darum sind die beiden kaum zu unterscheiden.
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Jugendfreier Dialog über Gras kaufen und Ficken

Im Fernbus nach Maastricht sitzen auf der Rückbank drei junge Männer. Sie unterhalten sich ungehemmt, denn Sie wähnen sich unter Niederländern, die sie nicht verstehen. Zeitweise habe ich mich gefragt, ob ich ihre Worte aufschreiben soll, aber das war mir dann doch zu viel Aufwand. Den Tenor habe ich behalten wie auch das eine oder andere Zitat. Allerdings kann ich nicht angeben, wer was gesagt hat, denn sie saßen hinter mir.

Sie reden über ihre Auslandserfahrungen, denn sie sind ein bisschen aufgeregt, wollen in Maastricht Gras kaufen. Einer von ihnen kennt sich aus und erklärt ihnen, wie’s geht und dass man sich vor dem Zoll in Acht nehmen soll, „weil die auch die Busse kontrollieren.“ Die anderen Auslandsberichte der drei drehen sich um das Thema Frauen und Mädchen. Aber es geht eher um Frauen, die käuflich sind. Amsterdam sei klasse, aber zu teuer. „Wenn du dahin gehst, wo die Touristen hingehen, ist es immer teurer.“ Er habe sich das ganze nur angeschaut, "aber zum Ficken geht nichts über Frankfurt." "Frankfurt ist geil“, bestätig sein Freund. "Wenn du da durch gehst, sieht die erste schon geil aus, aber wenn du weiter kommst, warten da immer noch geilere.“ Darum habe er sich zur Regel gemacht, immer zuerst einmal ganz durchzugehen. „Es ist doch geil, wenn du weißt, dass du sie so einfach ficken kannst.“ Einer spricht über Afrikanerinnen. „Boah eye, die Negerinnen zeigen einem sofort alles.“ Der Dritte sagt, nachdem auf der Studienfahrt nach Frankreich im Bordell gewesen wäre, wolle er jetzt auch die Frauen aus anderen Ländern ausprobieren. „Aus jedem Land eine Frau!“ „Das ist also dein neues Lebensziel?“ „Genau! Aus jedem Land eine.“ Der am Fenster erzählt dann noch, von einem gescheiterten Versuch: „Wir kamen ziemlich spät. Da war nur noch eine Frau da. Wir wollten zu zweit, aber sie war uns zu teuer.“

Die drei waren nicht etwa Proleten, eher gut aussehende Jungs aus gutem Haus. Einer machte gerade Zivildienst, die beiden anderen standen offenbar vor dem Abitur. Ich frage mich, wie exemplarisch das Gerede ist. Das Frauenbild der drei ist ziemlich schräg. Und ist es ihnen zu anstrengend, eine Beziehung zu haben? Jedenfalls scheint die sexuelle Befreiung inzwischen zum freimütigen Bordellbesuch verkommen zu sein.

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DAM - Nichts ist leichter zu finden als ein Plagiat

Der nachfolgende Text ist ein Plagiat. Alle vier Originaltexte müssten im Internet zu finden sein. Testen Sie Ihre Fähigkeiten als Plagiatsforscher. Viel Erfolg!


Ob die Eichhörnchen tatsächlich die Nüsse nicht wiederfinden, die sie im Herbst vergraben haben, weiß ich nicht. Vielleicht ist es nur ein Märchen und soll davon ablenken, dass der Mensch viel besser ist im Verlegen der Dinge. Einen Teil seiner Lebenszeit verbringt man mit Suchen. Es hat mit der Fülle der Dinge zu tun, die einen umgeben. Besonders flüchtig sind die flachen Dinge.

Objekte jeder Art habe ich schon weggelegt und auf lange Zeit nicht wieder gefunden. Dabei ist die Anzahl der Möbelstücke in meiner Wohnung überschaubar. Manchmal glaube ich, dass sich Dinge vor mir verbergen. Irgendwann nach ihrem eigenen Gutdünken tauchen sie wieder auf, entlocken mir ein „Ach-da-bist-du-ja!“ und geben meinem Leben einen unerwarteten Drall. Wie oft habe ich das Haus nicht verlassen können, weil ich meinen Schlüssel nicht fand. Wer weiß, was zum Beispiel gestern mit mir passiert wäre, wenn mein Schlüsselbund mich nicht zehnmal hätte hin- und herlaufen lassen, bevor es sich bequemte, Kuckuck zu rufen.

Hätte jeder Gegenstand in meinem Besitz ein eigenes Ich, würde also sich und mich wahrnehmen, dann würden die Gegenstände mir berichten, dass es ihnen ganz gleichgültig ist, wo sie gerade liegen, wenn’s nur bequem ist. Mein grobzähniger Kamm etwa könnte sagen, dass er genauso gut in meinem Jackett stecken wollte wie auch im Regal oder unter dem Tisch liegen. Selbst auf der Badablage unterm Spiegel hätte er schon gut gelegen. Wenn ich ihn also suchte, denn sei es mein, nicht sein Problem. Was ich nämlich als Ordnung empfinden würde, sei ein Wunschbild.

Wir reden von verlegten Dingen. Das gibt es auch in digitaler Form, als E-Mails mit Telefonnummern oder Passwort-Benachrichtigungen, die man vergessen hat aufzuschreiben; Bilder, Dokumente, die sich unauffindbar in Unterordnern von Unterordnern verstecken. Hier muss man zum Glück nicht mehr den Hl. Antonius anrufen, den Schutzpatron derer, die etwas verloren haben. Der digitale Schutzpatron ist entpersonalisiert, ein Befehlsverb, und heißt schlicht: "Such" oder als Befehlssatz: "Such, du Hund!"

Bald wird es diese Suchfunktion auch für Dinge geben. Einige von uns werden eine Dingwelt erleben, die sich mit einer Suchfunktion durchstöbern lässt. Schon heute haben moderne Produkte einen RFID-Chip. Er sitzt in Etiketten von Kleidungsstücken, unter Parfum- und Rasierwasserflaschen, Haustiere tragen ihn unter der Haut. RFID-Chips dienten ursprünglich der Warenverfolgung im Handel, und ich sage voraus, sie sind bald in so vielen Dingen verborgen, dass man sie über den privaten Computer suchen und auffinden kann. Du gibst in die Suchmaske: „Schnubbel“ ein, und schon sagt dir der Rechner, wo der „Schnubbel“ liegt. Da braucht man sich keine Gedanken mehr zu machen, wo man z.B. die ungeöffneten Briefe der G.E.Z. hingelegt hat. Sie rufen plötzlich aus mehreren Schubladen, hier bin ich!

Die Sache wird kein Segen sein. Denn der von der Erinnerung an sein Weglegen entlastete Mensch verliert eine weitere Notwendigkeit zu denken. Ja, Denken wird überhaupt bald gänzlich aus der Mode kommen. Wozu ist es eigentlich gut? Wir werden die Maschinen zunehmend für uns denken lassen. Dieser Prozess hat längst begonnen.

Was tritt an die Stelle des Denkens? Das Denken wird ersetzt durch Verzweifeln. Wir sitzen verzweifelt vor dem Rechner, weil ein Programm nicht funktioniert, verzweifelt versuchen wir die Hot-Line einer Telefongesellschaft zu erreichen, verzweifelt warten wir auf einen Techniker und gänzlich verzweifelt schauen wir auf die Anzeigentafel, wenn ein Zug mit 50 Minuten Verspätung angegeben wird. Das GPS-System im Auto versagt. Was geschieht? Der Fahrer verzweifelt. Und mühsam ächzend greift er nach der Karte, die so unhandlich aufzuschlagen ist, wo ein Weg mit den Augen herausgepiddelt werden muss, ach, man kann es schon gar nicht mehr, das ist ja wie zu Fuß gehen auf der Autobahn.

Die Dauerverzweiflung wird sich mit den Generationen in den Physiognomien niederschlagen. Die Augen rücken zusammen und die Augenbrauen hängen – es tritt auf: der DAM, das ist: der Dämlichste Anzunehmende Mensch, dem es noch nicht mal vergönnt ist, einen Schnubbel zu verlegen. Er hat jederzeit alles an der Backe. In ihrer höchsten Perfektion werden die Dinge den entmündigten Menschen herbeizitieren und ihn zu Handhabungen und Aktionen auffordern, weil es gut für ihn ist.
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Die Choräle der Meißel - Deutschland südost (5)

1) Mal hören, wie die reden
2) Häuser zum Fürchten
3) "Wir wussten ja nichts!"
4) Guter Ort, abseits der Welt


Kaum ist die Sonne aufgegangen, sind die Mauerspechte bei der Arbeit. Drinnen wie draußen wird der Putz von den Wänden geklopft. Vermutlich hat man im inneren Kloster angefangen und arbeitet sich von Gebäude zu Gebäude nach außen. Wie hoch das Wasser überall gestanden hat, da braucht es vorerst keine Hochwassermarke. Es lässt sich ablesen am sauber frei gelegten Mauerwerk. Aus dem Erdgeschoss des Gästehauses St. Franziskus dringt das Scharren der Schaufeln. Am Abend ist der Boden vom Schutt befreit, bis zu den Schlauchleitungen der Fußbodenheizung.

Marienthal-Februar-2011

Im Erdgeschoss der weiträumigen Propstei treffe ich den Hausmeister. Hier rauscht eine Kompanie fahrbarer Luftentfeuchter. Wie lange die schon laufen, frage ich. „Seit September.“ Ich wundere mich, dass auch im rundum geschlossenen Kloster das Wasser gestanden hat, wie auf den Luftbildern vom Hochwasser zu sehen ist. Er sagt, da sei ein Brunnen im Innenhof. Durch den sei das Wasser hochgekommen. „Solange die Pumpen liefen, hatten wir das im Griff, aber als das Wasser ringsum immer höher stieg, musste der Strom abgeschaltet werden.“ Man darf als gewöhnlicher Sterblicher diesen Innenhof nicht betreten, aber kann sich vorstellen, wie der Brunnen zum Entsetzen der Nonnen übergelaufen ist, wie es heraussprudelte und nicht zu deckeln, nicht aufzuhalten war. Da half auch kein Beten.

Die Nöte des Hausmeisters waren auch nicht klein. Er wohnt in Ostritz, wo ihm die Neiße durch Türen und Fenster kam. „Ich bin hin- und hergefahren, habe zu Hause alles Wichtige hochgestellt, aber als ich zurückkam, schwammen die Sachen unter der Decke. Er ist ein freundlicher Mann und lächelt bei seinem Bericht. „Sie können ja wieder lachen“, sage ich. Was bleibt ihm auch anderes übrig. Man kann ein solches Desaster vermutlich nur mit Humor überstehen. Überhaupt sind die Angestellten des Klosters von einer herzlichen Fröhlichkeit. Das Internationale Begegnungszentrum wird von den Nonnen gemanagt, und offenbar sind sie gute Arbeitgeber. Die Klostermauern verlassen sie nur selten. Nur einmal sehe ich im Morgenlicht zwei Nonnen vom Klostermarkt kommen. Eine junge Nonne in hellblauer Tracht stützt eine ältere Schwester, ein fast geisterhafter Anblick. Weniger heidnisch ausgedrückt: Die beiden strahlen eine durchgeistigte Ruhe aus, wie ich sie selten bei Menschen gesehen habe, dass muss ich abgefallener Katholik zugeben.

Im Gästeempfang, der noch auf die erste Etage verlagert ist, bitte ich um Nähzeug, die freundlichen Damen beratschlagen, eine telefoniert, und zur Mittagspause finde ich Nadel, Schere und zwei schwarze Garnröllchen auf dem Schreibtisch meines Zimmers vor, so dass ich meinen Knopf wieder an den Mantel nähen kann. Natürlich habe ich auch noch etwas anderes getan an diesem Tag, aber ich bin nicht hergekommen, um darüber zu berichten. Bei einem Rundgang in der Mittagspause finde ich entlang der Neiße Hochwasserschutzwände aus Neuwied am Rhein. Das ist nicht nur ein Gruß aus meiner Heimat, dem Rheinland, sondern zeigt mehr als Sonntagsreden, auch dieser Ort im entlegendsten Winkel gehört zu Deutschland und hat Anspruch auf unsere Solidarität.

Fortsetzung folgt
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