Ethnologie des Alltags

Guter Ort, abseits der Welt - Deutschland südost (4)

1) Mal hören, wie die reden
2) Häuser zum Fürchten
3) "Wir wussten ja nichts!"

Du lieber Himmel, ist es hier kalt. Wann immer man aus dem Windschatten eines Gebäudes tritt, packt einen der eisige Sturmwind, der mutwillig durch die weiträumige Klosteranlage pfeift. Oben durch die kahlen Baumwipfel des finsteren Kalvarienbergs scheint ein Güterzug zu brausen. Da wird der Herrgott erbärmlich frieren an seinem Steinkreuz. In das Tosen des Windes mischt sich das Rauschen des Neißewehrs. Das Erdgeschoss des Gästehauses St. Franziskus liegt im Dunkeln, was die Schäden noch trostloser wirken lässt. Der Bewegungsmelder reagiert und schaltet das Licht der oberen Etagen an. Hier, nahe der Neiße, hat das Wasser mannshoch gestanden. Bis über meinen Kopf ist der Putz abgeschlagen und das Mauerwerk freigelegt. Ich suche mir einen Weg durch den Schutt. Es riecht nach Moder. Mein Zimmer liegt auf der zweiten Etage, erreichbar über eine knarrende alte Holztreppe. Sie soll mich in den drei Tagen meines Aufenthalts noch öfter narren, denn es hört sich an, als folge mir jemand, so dass ich mich mehr als einmal umdrehe.

Ich habe ein hübsches Doppelzimmer unterm Dach, weißgetüncht, schwarzes Gebälk und zwei Dachgauben. Man darf in einem katholischen Kloster keine französischen Doppelbetten erwarten. Die schmalen Betten sind übereck angeordnet, getrennt durch einen hellgrauen Kleiderschrank. Die Fenster zeigen nach Osten, zum geschlossen Klosterbereich hin. Eines ist genau über dem ebenfalls grauen Schreibtisch. Ich verstaue meine Sachen und erkunde mein kleines Reich. An den Raum muss ich mich noch gewöhnen, das zeigt er mir, nachdem ich vom Schreibtisch aufstehe und mir an der Gaubenwand den Kopf anstoße. Das Bett hingegen ist zu weich, schlecht für meinen Rücken. Trotzdem schlafe ich hier gern.

Es ist ein guter Ort, so ganz aus der Welt, ringsum die unbändige Natur, und man wähnt sich dem Sternenhimmel nah. Vermutlich hatten das schon die Heiden erkannt, bevor das Kloster im Jahr 1234 gegründet wurde. Dass Klöster, Kirchen, Kapellen, Wegkreuze fast immer auf alten Kultplätzen stehen, ist dem Überwindungsgedanken geschuldet, wie auch die Mönche in den Skriptorien die heidnischen Texte antiker Autoren vom Pergament schabten, um sie mit christlichen Texten zu überschreiben (Palimpseste). Mein Mobiltelefon piepst. Der polnische Netzanbieter hat mir eine Tarifinformation geschickt. Zugang zu einem deutschen Netz hat man allenfalls oben an der Straße. Da habe ich früher oft gestanden, um zu telefonieren, vom kalten Wind gezaust, die dunkle Klosteranlage zu meinen Füßen, kaum ein Licht ringsum, und mich fragend, was um Himmels Willen mache ich hier?

Ja, was? Das Kloster ist unter anderem mit Mitteln der Bundesstiftung Umwelt restauriert und zum Internationalen Begegnungszentrum (IBZ) ausgebaut worden. Diese größte Umweltstiftung Europas finanziert auch die medienkundlichen Seminare, die hier im Winterhalbjahr stattfinden. In den letzten Jahren hat die der Kollege aus dem Osten abgehalten, der jetzt im Krankenhaus liegt. Davor war ich ziemlich oft hier. Bei meinem letzten Aufenthalt war das Internationale Begegnungszentrum St.-Marienthal beinah fertig restauriert, und jetzt fängt man wieder von vorne an, deprimierend. Ich packe mich wieder ein, gehe hinüber zum Speisesaal, stelle mich den Leiterinnen der Seminargruppe vor und erläutere, was wir am nächsten Tag machen werden.

Fortsetzung Choräle der Meißel
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"Wir wussten ja nichts!" - Deutschland südost (3)

1) Mal hören, wie die reden
2) Häuser zum Fürchten

Nirgendwo in Deutschland wird es so früh dunkel wie in Görlitz, aber nirgendwo in Deutschland geht auch die Sonne so früh auf. Jetzt jedenfalls ist es zappenduster. Görlitz war einmal nahe daran, Großstadt zu werden, doch inzwischen hat sich die Einwohnerzahl fast halbiert. Vor einigen Jahren war ich mit einem jungen Kollegen hier. Wir wollten abends in der aufwendig restaurierten, prächtigen Altstadt essen, aber schauten wir in die Lokale, saß keiner drin. Wir wagten uns trotzdem in eines hinein, und als ich zur Toilette ging, fiel mein Blick in die offene Küche. Da hatte der Koch seinen Kopf in beide Hände gestützt und weinte auf die Arbeitsplatte.

„Das einzige, was hier boomt, sind Altenpflegeeinrichtungen“, sagt der Taxifahrer, „denn die alten Leute bleiben zurück, und die Kindern oder Enkel, die sich um sie kümmern könnten, sind weg.“ Wir fahren an der polnischen Grenze entlang nach Süden. Da gibt es kaum etwas zu sehen. Bei der Durchfahrt von Laubitz, wo die Häuser nach einem Anstrich lechzen, manche nur noch um Abriss betteln, sagt der Taxifahrer, er verdiene nicht mehr, als ein Hartz-IV-Empfänger bekomme, aber er sei froh, eine Aufgabe zu haben, die ihn mit Menschen zusammenbringt und ihm das Gefühl gebe, gebraucht zu werden. Er hat wohl lange Zeit zu Hause gehockt, als nach der Wende die Braunkohlegrube zugemacht wurde, der wichtigste Arbeitgeber in der Region. „Die Braunkohle hier ist ergiebig, Sie räumen einen Eimer Dreck weg und bekommen zwei Eimer Kohle, anderswo in Deutschland ist es genau umgekehrt. Aber die Grube wurde geschlossen, damit die Gruben im Westen weiter bestehen durften.“

Wie das war, wie er umgeschult hat, wie er als Vater zweier Kinder eine Stelle nicht bekam, weil er keinen Hortplatz für sie fand, das ist wirklich traurig. Ich versuche ihn abzulenken, denn einer von uns beiden wird bald heulen. „Es ist tragisch, wie die Betriebe im Osten nach der Wiedervereinigung ausgeplündert und plattgemacht wurden, aber ihr hättet nicht Helmut Kohls Versprechungen glauben dürfen.“ „Aber wir wussten ja nichts!“, jammert er. „Hier war doch vor der Wende das Tal der Ahnungslosen.“ In der Tat konnte man in der Region kein Westfernsehen empfangen. Zu DDR-Zeiten bedeutete ARD „Außer Raum Dresden“.

Das Kloster St.-Marienthal gehört zur Landstadt Ostritz. Der verlassen wirkende Ort, eigentlich ein Dorf von gerade mal 2600 Einwohnern, ist eine energieökologische Modellstadt, aber was nutzt die beste Umwelttechnologie, wenn die jungen Leute ihre Heimat verlassen müssen, weil sie keine Arbeit finden. Wenn du wissen willst, wo denn der Hund wirklich begraben liegt – es ist hier. Die in ihrer Heimat Verbliebenen nötigen mir Achtung ab, wie sie sich gegen die Verödung dieses Landstrichs anstemmen. Der ist ja nicht immer Grenzland gewesen, und ursprünglich sollte nicht diese Neiße, sondern die Glatzer Neiße weiter im Osten die Grenze zu Polen werden. Man hat noch nicht verwunden, dass auf der anderen Seite bereits Polen ist, und auch der Taxifahrer redet schlecht über das ehemals sozialistische Brudervolk. „Sie mögen die Polen nicht“, sage ich. „Ja“, sagt er. „Die Polen kommen über die Grenze und klauen alles weg.“ Er traue sich kaum, sein Taxi irgendwo am Straßenrand zu parken. „Wenn ich pinkeln muss, fahre ich nach Hause“, sagt er. „Sind Sie denn schon mal bestohlen worden?“ frage ich. „Nein.“

Es ist wohl ein Problem der selektiven Wahrnehmung. Die Ressentiments sitzen tief in der Bevölkerung. Was politisch gewollt ist, Aussöhnung und Zusammenarbeit, kommt nicht gut an beim einfachen Mann. Der Taxifahrer, der mich zwei Tage später zurückfährt, erzählt, auf der Brücke zwischen Görlitz und Zgorzelec sei in der Silvesternacht ein älteres Ehepaar von polnischen Jugendlichen zusammengeschlagen worden. „Aber glauben Sie nicht, dass davon etwas in der Zeitung steht.“ Soll es denn sein, dass die Zeitungen Zensur ausüben, weil es politisch opportun ist, diesmal freiwillig - als Akt des vorauseilenden Gehorsams? Natürlich hat die Region nur eine Chance, wenn man mit den polnischen Nachbarn zusammenarbeitet, aber das geht mühsam, wie sich besonders bei dem verheerenden Hochwasser im August 2010 zeigte. In Polen war ein Staudamm gebrochen, und eine riesige Flutwelle rollte die Neiße herab. In Görlitz feierte man ein Volksfest und wunderte sich, dass auf der polnischen Seite der Neiße Autos mit Blaulicht umherfuhren. Die polnischen Nachbarn hatten wohl eine Warnung nach Warschau geschickt, von dort wurde Berlin benachrichtigt, und von Berlin kam ein Fax, das aber zu spät gelesen wurde, es war Wochenende. Besonders das Kloster St. Marienthal und Ostritz erlebten das schlimmste Hochwasser seit dem Jahr 1897. Die Schäden im Kloster sind gewaltig.

Inzwischen ist mein Taxifahrer vom eigenen Jammer gefangen, und ich bin froh, dass er die Windungen hinab zum Kloster meistert. Am Tor will er mich absetzen, aber ich heiße ihn durchzufahren bis vor den Gästempfang nahe der rauschenden Neiße. Die Gebäude ringsum wirken verlassen. Nur im Speisesaal ist noch Licht. Ich bin rechtzeitig zum Abendessen da.

Fortsetzung Ein guter Ort, abseits der Welt
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Häuser zum Fürchten - Deutschland südost (2)

1) Mal hören, wie die reden

Wie die reden, höre ich nicht, denn es ist so kalt, dass selbst die Dresdner lieber den Mund zulassen, damit es keinen Durchzug gibt. Sächsisch soll ja der unbeliebteste deutsche Dialekt sein, nu? Doch ich gestehe, dass ich ihn aus Frauenmund erotisch finde, nur das Wörtchen „nu“ nicht, das wie eine schreckliche Plage in jedem zweiten Satz auftaucht. Auf Sächsisch lautet „Yes, we can!“ – „Nu, mir gönn!“, demnach ist „nu“ die sächsische Entsprechung zum „ja“, der Düsseldorfer. Der Kölner sagt wiederum „ne“, was ich mir bisher immer als „nein“ übersetzt hatte. Weil es aber dem „nu“ gleicht, könnte es ebenfalls „ja“ bedeuten. Ein sächsischer Witz: Zwei Jungen stehen in Plauen vor einen Auto mit dem Länderkennzeichen "GB". Du, sacht da da eene, dea is doch ausm Genischreisch Boln. Neee, sochd do da Annere, sei liwa still, dea is vonne Griminolbolizei!

Von Kurt Schwitters gibt es einen witzigen Text auf Sächsisch: „Der sächsische Ozean“. Er handelt von der Großmannssucht des Dresdner Oberbürgermeisters. Zum 10. Jahrestag seines Amtsantritts lässt er einen riesigen Knall abfeuern, der ein tiefes Loch reißt, das sich von Rom bis Kopenhagen erstreckt. Wahrscheinlich hat Schwitters übertrieben. Das 13 Jahre alte und vier Millionen teure Wiener Loch vor dem Hauptbahnhof ist zwar gewaltig, fügt sich aber hübsch in Dresdens Zentrum ein.

Endlich rollt der Zug nach Görlitz in den Kopfbahnhof. Im Abteil der 1. Klasse sitzt ein grauhaariger Mann und löst Kreuzworträtsel. Zwei Zugbegleiterinnen kommen albernd durch und gehen nach vorn in den Lokführerstand. „Nu … nu … nu!“, lacht die eine, und die andere ermahnt: „Nicht so laut, hier sitzen ältere Herrschaften.“ Zum Glück hat sie den Mann mit dem Kreuzworträtsel angesehen. Der hebt den Kopf und grüßt. Man kennt sich, und später steckt die eine den Kopf mit ihm zusammen.

Es geht zügig ostwärts in die Oberlausitz. Außerhalb von Dresden liegt Schnee. Im Sommer mag es hier schön sein, doch im Winter ist die Gegend unwirtlich, und wann immer ich hier war, habe ich gefroren wie ein Schneider, genau wie die Leute, die an den verfallenden Bahnhöfen entlang der Strecke auf den Gegenzug Richtung Dresden warten. Einmal sehe ich unten am Bahndamm ein einsames Haus, zu dem ein verschneiter Trampelpfad nur führt. Zwei Männer haben es gerade verlassen und gehen hintereinander zu einem an der Straße geparkten Auto, der Größere geht vorne. Es ist eine düstere Szene, die meine Phantasie beflügelt und eine Weile nachwirkt, als wäre ich Zeuge eines Verbrechens gewesen. Was haben die beiden im Haus gemacht? Wen mögen sie in diesem Loch gefangen halten? Wahrscheinlich ist die Sache ganz harmlos. Die Leute in der Oberlausitz sind freundlich. Es liegt an den düsteren Schatten unter den krüppeligen Bäumen und an den vielen verfallenen Häusern. Freilich wird die rohe DDR-Architektur nicht viel besser ausgesehen haben, als sie noch neu waren. Wir fahren der Dämmerung entgegen. In der Ferne hängt ein riesiger schwarzer Schatten über dem Land. Es ist kein außerirdisches Raumschiff, sondern die schwarz bewaldete Kuppe eines mächtigen Hügels. Auf seinen Hängen unterhalb der Bäume liegt Schnee, der im Dunst des Abends mit dem Himmel verschmilzt. Im Abteil höre ich ein ständiges Quietschen, als würde das Außenblech von kleinen Kobolden mit der Laubsäge bearbeitet.

Bald sehe ich in dieser schemenhaften Landschaft nur noch die glitzernden Lichter ferner Dörfer. Mein Mobiltelefon klingelt. Mich grüßt eine fröhliche, helle Stimme und teilt mit, dass der Gästeempfang des Klosters St.-Marienthal heute nur bis 18 Uhr geöffnet habe, „nu“. Herr S. werde mich in Görlitz auf dem Bahnsteig erwarten und mir den Zimmerschlüssel übergeben, „nu“. Da steht er auch und hat die Unterlagen bei sich, die er für mich fotokopiert hat. Er bringt mich zum Taxi und macht die Türen für mich auf, denn im Görlitzer Bahnhof muss man Türöffner drücken. Vermutlich wäre ich alleine gar nicht raus gekommen, denn solche Schalter kenne ich sonst von keinem Bahnhof. Das Taxi steht auf einer Eisplatte, und indem mich der Taxifahrer warnt, rutsche ich aus und reiße mir an der offenen Beifahrertür einen Knopf vom Mantel.

Der Taxifahrer sieht aus wie Heinz-Rudolf Kunze. Nachdem wir los gefahren sind, frage ich unvorsichtiger Weise: „Wie lebt es sich denn in Görlitz?“ Da habe ich ein Fass angestochen. Heinz-Rudolf Kunze läuft leer. Während der 20-minütigen Fahrt nach Süden fühle ich mich bald an Sławomir Mrożeks Groteske „Der Dienstmann“ erinnert. Da kommt ein Fahrgast auf einem einsamen Bahnhof an, hat zwei schwere Koffer und muss noch weit ins Land hinaus. Auf dem Bahnsteig wartet ein alter Dienstmann, der sich anbietet, dem Reisenden das Gepäck zu tragen. Unterwegs durch die Felder fängt der Dienstmann an zu jammern, wie schlecht es ihm geht und wie weh seine gichtigen Knochen ihm tun. Der Reisende bekommt Mitleid und nimmt dem Dienstmann einen Koffer ab. Doch der gibt keine Ruhe, bis der Reisende auch den zweiten Koffer trägt. Jetzt trottet der Dienstmann neben ihm her und quengelt weiter, denn die Füße tun ihm weh. Am Ende nimmt der Reisende zu den Koffern den Dienstmann Huckepack. Der ist plötzlich gar nicht mehr müde, sondern packt den Reisenden bei den Ohren und dirigiert ihn in die schreckliche Einöde hinaus.

Fortsetzung "Wir wussten ja nichts!"
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Mal hören, wie die reden - Deutschland südost (1)

Tief im Osten hat sich ein mir völlig unbekannter Journalist ins Krankenhaus gelegt und mir damit eine unerwartete Dienstreise in den südöstlichen Zipfel Deutschlands beschert. Ich Notnagel bin zu früh am Hauptbahnhof von Hannover, und nachdem ich mir zwei Paar neue Handschuhe gekauft habe, sinke ich in einen roten Ledersessel der DB-Lounge. Man sitzt hoch über dem Bahnhofsvorplatz und hätte einen schönen Blick auf das geschäftige Treiben dort unten, wenn nicht die Sessel entlang der Fensterfront dem Plebs den Rücken zuweisen würden. Ich muss an einen Ostfriesenwitz denken: Warum fliegen die Zugvögel über Ostfriesland auf dem Rücken? Damit sie das Elend dort unten nicht mit ansehen müssen.

Man ist in der DB-Lounge ein 1.-Klasse-Mensch, wird am Eingang von freundlichen Damen begrüßt und verabschiedet wie ein gern gesehenes Familienmitglied, kann sich kostenlose Getränke nehmen, Zeitungen sowieso und natürlich persönlich beraten lassen, wenn man ein fahrplantechnisches Fürzchen quer sitzen hat. Den Parkettboden haben die 1.-Klasse-Menschen der Republik ziemlich abgelatscht. Es muss mehr von Ihnen geben als man denkt. Die meisten jedoch sind Geschäftsleute, auf Firmenkosten unterwegs wie ich, schauen wichtig in ihr Notebook oder führen bedeutende Telefongespräche.

Neben mir
lassen sich ein junger Mann und eine junge Frau nieder. Sie sind offenbar Bauingenieure und arbeiten für die Bahn. Der Mann klappt einen meterlangen Plan mit Gleisanlagen der Bahnsteige C und D aus, der als Leporellofalz in einem dicken Aktenordner klemmt. Worüber sie sprechen, das ist noch viel länger, nämlich „satte 200 Meter Leitung“, sagt der Mann. Ein kleiner Dicker im blauen Anorak kommt herein. Der trägt sein gut umhülltes Cello wie einen Rucksack. Das ist der Unterschied zwischen dem Bahnhofsvorplatz und der DB-Lounge. Auf dem Bahnhofsvorplatz werden die Instrumente ausgepackt und so lange gequält, bis einer was in den Hut wirft. Der Mann in der DB-Lounge muss das nicht, weil ein ausgesuchtes Publikum ihn irgendwo erwartet, weshalb er hier als wandelnde Hochkultur glänzen kann. Da verzeiht man ihm auch einen blauen Anorak. Mir ist sowieso aufgefallen, dass namentlich Konzertmusiker sich ausgesucht schlecht kleiden. Grausam gekleidet zu sein, ist quasi das Prädikat der E-Musiker. Es gibt an, dass diese Leute nur der Musik verpflichtet sind und mit irdischen Dingen wie Kleidung nichts am Hut haben – zumindest außerhalb der Konzerthäuser.

Ich steige in den IC nach Dresden. Derzeit hat die deutsche Bahn viel altes Material auf den Schienen, weil die neueren Züge und Waggons in den Werkstätten herumstehen, und so hat auch der IC nach Dresden noch einen alten Abteilwagen. Ich habe dummerweise eine Reservierung für einen Platz im Abteil. Denn kaum habe ich mich am Fenster in Fahrtrichtung niedergelassen, kommen drei junge Männer herein, kurzgeschorene Haare und Riesengepäck im Seesack. Nur einer hat eine große Sporttasche und trägt passend dazu den Pitbull-Smoking von Addidas. Dieser junge Mann spricht zwar perfekt Deutsch, hat aber einen russischen Akzent. Die drei sind offenbar Bundeswehrsoldaten aus dem Ruhrgebiet und fahren nach Dresden-Neustadt zu einem Lehrgang.

Sogleich packen sie ihre Notebooks aus und beginnen ein Ballerspiel, worin sie Panzer und Waffen generieren müssen und zum Schluss sogar über Atombomben verfügen. Dabei sind sie durchaus manierlich und haben sich allesamt Ohrhörer reingesteckt, weil sie mich nicht mit lästigen Tönen nerven wollen. Es ist doch gut, wenn so manierliche junge Männer sich in ihrer Freizeit in der Kulturtechnik des Mordens üben. Bedachtsam sind sie auch, denn sie lassen es während der gesamten Fahrt nicht zum Atomschlag kommen. Zwei von ihnen sitzen dicht nebeneinander, der andere sitzt links von mir an der Tür. Er wird von den beiden ein bisschen geschnitten, ist aber auch keine ansehnliche Erscheinung. Einmal klappt er sein Portemonnaie auf und zeigt den beiden ein Foto seiner Freundin. Der eine schaut hin, als könnte er gar nicht glauben, dass sein Gegenüber überhaupt eine Freundin hat, und was wird das für eine Schabracke sein? Der im Pitbullsmoking schaut erst gar nicht vom Bildschirm auf, weil er gerade irgendwelche Okkupanten wegballern muss. Die Mutter seines Nebenmanns ruft an, und er sagt artig: „Ja, Mama, das mache ich in Ruhe, wenn ich zu Hause bin.“ Mamasöhnchen mit Feldhaubitze. Draußen zieht bald eine öde Landschaft vorbei, Felder und Wiesen, auf denen große Wasserlachen stehen. Die Sonne lässt sie aufblitzen, und da sie direkt gegen das dreckige Abteilfenster scheint, ist alles in gelben Dunst getaucht, obwohl der Himmel wohl blau sein will. Meine Stimmung sinkt, und auch die Titanic ist schlecht, jedenfalls muss ich nicht schmunzeln.

Nach Dresden wird man geschaukelt, mal sitze ich in Fahrtrichtung, mal entgegen, dann wieder anders rum, und auch Dresden hat einen Kopfbahnhof. Als wir glücklich aussteigen, sagt das Mamasöhnchen: "Jetzt müssen wir gleich ein paar Mädchen ansprechen, mal hören, wie die reden."

Fortsetzung Häuser zum Fürchten
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Vagabundierende Texte - Ethnologie des Alltags

Das erste Beispiel eines vagabundierenden Textes habe ich während meiner Schriftsetzerlehre gesehen. Der Juniorchef der Druckerei war unser Setzereileiter. Nachmittags hängte er seinen grauen Kittel an den Haken, zog ein Jackett an und begab sich auf Kundenbesuch, um neue Aufträge zu akquirieren. Die Gesellen machten sich dann über seinen Kittel her, denn in der Brusttasche klemmten hinter ein paar Papiermustern ein pornografisches Foto, und dahinter ein zusammengefaltetes DIN-A4-Blatt, worauf mit Schreibmaschine ein pornografischer Text geschrieben war. Das Blatt war so oft geöffnet und wieder gefaltet worden, dass die Kanten schon Risse hatten. Solche Blätter waren immer Originale, denn wer sie weitergeben wollte, musste sie abtippen.
Textvagabunden

Fotokopien aus den 80er des letzten Jahrhunderts, Sammlung Trithemius

Das änderte sich, als der Fotokopierer in die Büros einzog. Es wurden natürlich nicht nur pornografische Texte kopiert und per Hand weitergegeben. In vielen Büros der Verwaltungen hängen launige Sprüche oder längere Texte an der Wand, an der Tür oder am Schwarzen Brett, mit denen man sich den Büroalltag versüßt. Inzwischen werden solche Texte auch per E-Mail weitergereicht und verbreiten sich im Internet, so beispielsweise die Typbeschreibung des Trabbis 601 S auf Sächsisch, die Geschichte vom Hund des Gewerkschafters oder die Anleitung Wie man andere in den Wahnsinn treibt.

Solche Texte haben eine Weile Konjunktur, verschwinden dann in der Versenkung, bis sie irgendwer wieder hervorholt und erneut in Umlauf bringt, vielleicht in modifizierter Form. Wer sie erdacht und niedergeschrieben hat, ist fast nie festzustellen. Es handelt sich wie bei Witzen oder urbanen Sagen um Textvagabunden.

Vor einigen Tagen sandte mir Jeremias Coster, Professor für Pataphysik und Leiter des Instituts für Datengeräte an der Technischen Hochschule Aachen, ein Rundmail zu. Es war nicht die erste dieser Art, denn Coster sammelt schon seit Jahrzehnten schriftliche Belege der Volkskultur. Costers neuestes Exemplar passt gut in die Jahreszeit. Der Textvagabund scheint relativ jung zu sein. Den frühesten Beleg fand ich im Jahr 2006. Hier Costers Sendung, von mir für das Teppichhaus formatiert:
Kälte ist relativ
Über weitere Textvagabunden freue ich mich.

Mehr Ethnologie des Alltags
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Zwei Abzockmaschen - Ethnologie des Alltags

1. Die Ambulanz

Ein junger Mann in roter Jacke und einem Namensschild am Revers klingelt zweimal an meiner Wohnungstür. Nassforsches Auftreten. Er spricht mit Ostelbischer Zunge.

Er: „Einen wunderschönen guten Tag!“
Schon verschissen. Mir reicht ein guter Tag allemal.
„Ich bin von der Ambulanz.“
Wie ist der überhaupt ins Haus gekommen? Und welche Ambulanz?
„Keine Sorge, ich komme nicht, um Sie abzuholen!“
Das ist das Letzte, woran ich gedacht hätte.
„Ich besuche heute alle, die in dieser Straße wohnen zwischen 17 und 87 Jahren. Sind Sie doch noch dazwischen, oder?“
Ich: „Hören Sie, für dumme Sprüche habe ich wirklich keine Zeit. Guten Tag!“ Tür zu.

Ein Drücker. In unserem Haus wird er niemanden finden, der auf seine Sprüche reinfällt. Sie wirken dumm, aber sind wohl kalkuliert. Bei alten Leuten könnte er damit Erfolg haben. Zuerst jagt er ihnen einen leichten Schrecken ein mit dem Hinweis auf die Ambulanz. Dann die Erleichterung, man wird nicht abgeholt. Jetzt der Hinweis auf die gesamte Straße und alle zwischen 17 und 87 Jahren. Besonders einsame Menschen freuen sich vermutlich, dass sie zur Straßengemeinschaft gezählt werden, wenn’s auch sonst keinen interessiert. Die Frage, ob man nicht etwa jünger oder älter ist, stellt eine günstige Stimmung für die Abzocke her.

2. Der Goldring

Diese Masche ist mir in Aachen und in Hannover je einmal begegnet: Auf dem Bürgersteig kommt mir ein Mann entgegen, und just, wie wir auf einer Höhe sind, ruft er etwas aus, bückt sich und hebt einen dicken goldenen Ring auf. Dann vertritt er mir den Weg. Er spricht nur gebrochen Deutsch, steckt sich vor meinen Augen den Ring an den Finger und stellt fest, dass er nicht passt. Jetzt drängt er mich mit aller Liebenswürdigkeit, den Ring anzuprobieren. Ich lehne ab und sage, „den müssen Sie zum Fundbüro bringen!“ Er wird unwillig, versucht mir den Ring in die Hand zu drücken und will plötzlich Geld dafür. Da wende ich mich ab, und er zieht davon.

Er hat den Ring natürlich selbst auf dem Bürgersteig abgelegt, als er sich bückte. Dieser Betrugsversuch ist schon fast beleidigend, denn er unterstellt Unehrlichkeit und Goldgier, könnte aber bei Leuten in materieller Not verfangen, wenn sie ein bisschen naiv sind und an Wunder glauben.

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Ich will nicht, ich will noch ein bisschen tanzen (2) - Ethnologische Forschungsreise in zwei Etappen

Teil 1

Im Andenkenladen hängen schwarze T-Shirts in Kindergrößen mit der Aufschrift: „Meine Hand ist klein, aber ich kann Oma und Opa um den Finger wickeln.“ Gekauft werden sie offenbar von den Opfern, ungeachtet der Gefahr, jede vernünftige Erziehung zu torpedieren. Entsprechend die zweite Aufschrift: „Wenn Mama nervt, rufe ich Oma an.“ Wenn Kindergärtnerinnen und Lehrpersonal sich beklagen, man habe zunehmend mit kleinen selbstbezüglichen Arschlöchern zu tun, hier bekommt man die Idee, woran es liegt. Aus kleinen Arschlöchern werden irgendwann mal große, und die singen dann: „Nein Mann, ich will noch nicht gehen, ich will noch ein bisschen tanzen.“ Von dieser Techno-House-Single der Formation Laserkraft 3D hatte auch die vorlesende Steuerberaterin aus Teil 1 geschwärmt. Offenbar trifft der Titel den Zeitgeist. „Nein, Mann!“ wurde für Deutschlands größten Radio-Award, die 1LIVE Krone, in der Kategorie beste Single 2010 nominiert. Der Songtext ist ein Musterbeispiel an Egozentrik, gesungen mit der Stimme eines Jünglings, der alles will, nur nicht erwachsen werden. Früher wollte er nicht von der Rutsche runter, jetzt will er nicht mehr von der Tanze.

Außerhalb der Schulferien sind die gut situierten Mitverursacher dieser Pest fast unter sich. Manche haben hier auch ihren Altersruhesitz. Abends besuchen sie die Kneipe „Aale Peter“ und hören das falsche und hohle Gesülze, das sich deutscher Schlager schimpft. Die Kneipe duckt sich unter einen Klotz im Stil des Brutalismus, hat aber über dem Eingang und über der Theke Dachschindel. Ich habe lange nicht so ein treffendes Beispiel für Kitsch gesehen. Die Dachschindel ist ihrer Funktion beraubt, weil sich über ihr zehn Etagen Beton auftürmen, ist nicht nur zum Schmuckelement verkommen, sondern beschwört eine potemkinsche Heimeligkeit. Bei unserem Eintritt ist Aale Peter noch nicht da. Uns empfängt sein jüngerer Stellvertreter mit der Begrüßungsfloskel, die er allen Paaren entgegenruft: „Hallo, und herzlich willkommen in Cuxhaven-Duhnen. Schön, dass ihr noch zusammen seid!“

Der Chef sei mit dem Ruderboot vor Helgoland, um die Aalreusen einzuholen. Derweil der noch 70 Kilometer über die finstere See zu rudern hat, erzählt der Adlatus dessen Witze. Aale Peter hat sie ihm genauestens eingeschärft. Sollte er einmal in schweres Wetter geraten und das Seemannslos erleiden, ist dafür gesorgt, dass diese kostbaren Worte nicht ebenfalls ins nasse Grab sinken. Also: „Um 20 Uhr gibt es Live-Musik! Heino wird singen. Seine Frau Hannelore ist schon seit Stunden auf’m Klo und schminkt sich!“ Und: „Hast du schon das von Jopi Heesters gehört? Er hat sich von seiner Frau getrennt und wohnt jetzt wieder bei seiner Mutter.“ Und: „Hannover, die Stadt liebe ich. Da ist meine Schwiegermutter überfahren worden.“ Sie ist auch in Köln und Düsseldorf unter die Räder gekommen, je nach Herkunft der Gäste. Den Einwand, das wäre selbst für eine Schwiegermutter zuviel, lässt er nicht gelten: „Hallo? Ich war vielleicht mehrmals verheiratet!“

Um 20 Uhr singt nicht Heino, sondern Aale Peter trifft ein und löst seinen Adlatus ab. Aale Peter ist ein kleiner gealterter Beau und sieht ein bisschen verlebt aus. Er hat den Hemdkragen hochgestellt. Vermutlich gab’s Sturm vor Helgoland. Aber nicht Wind und Wetter haben ihre Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Die stammen aus dem Puff, wo er 30 Jahre gearbeitet hat, wie er sagt. Das aber ist die einzige neue Information. Die tragische Geschichte von Jopi Heesters erzählt er mir zweimal, Heino wird wieder angekündigt, Hannelore blockiert noch immer das Damenklo mit ihrem Schminkkoffer, Aale Peters Schwiegermütter liegen überfahren in der ganzen Republik verstreut - wir spenden. Er versucht uns zum Bleiben zu überreden, weil meine bezaubernde Begleiterin in der Kneipe das Altersniveau um ein Beträchtliches senkt, aber wir haben für heute die Nasen voll. Nein, Mann, wir wollen gehen, bevor es zu spät ist. In diesen Zeiten müssen auch Alltags-Ethnologen gut auf ihre geistige Gesundheit achten.

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Ich will nicht, ich will noch ein bisschen tanzen (1) - Ethnologische Forschungsreise in zwei Etappen

Im Zug unterhielten sich zwei Frauen über die Grundschule ihrer Kinder. Da sagte die eine, eine vintage gestylte, verblühende Schönheit: „Nächste Woche werde ich den Kindern vorlesen. Der Bürgermeister liest, der Pfarrer liest, da muss die Steuerberaterin auch lesen.“

Da wollte ich mich setzen, aber ich saß schon und sank wie Blei in die Polster. Wenn sich jetzt schon die Steuervermeidungsberaterin zu den Säulenheiligen eines Dorfes zählt, kann man den vakanten Platz auch dem Immobilienmakler nicht verweigern, nicht dem Finanzberater oder der Betreiberin eines Swingerclubs. Einziges Kriterium: Sie müssen erfolgreich sein, um als achtbare Stützen der Gesellschaft zu gelten. Ach, wie schwerdoof ist diese Welt, und wenn ich Christopherus persönlich wäre, die wollt ich nicht mehr schultern. Ich würde ein großes Schlammloch suchen und sie reinplumpsen lassen.

Das war am Freitag auf der Fahrt zu einem Kurzurlaub in Cuxhaven. Samstagabend wusste ich, das ist längst passiert. Die Welt ist in den Abtritt gefallen, und rundherum schwappen die Fäkalien. Da sah ich versehentlich eine Ausgabe des ZDF-Boulevardmagazins „Leute heute“. Die Scheiße ist wohl prächtig abgefilmt, in geschmackvoll abgestimmte Farben getaucht, wie überhaupt die technische Brillanz der TV-Produktionen im umgekehrten Verhältnis steht zu ihrem Inhalt. Je schöner, desto schlimmer. Schön ist auch die Moderatorin, eine Ex-BWL-Studentin namens Karen Webb, ebenso zuständig für die ZDF-Berichte über Adelshäuser. Sie hat ein Buch geschrieben mit dem Titel: „Charmant in jeder Lebenslage - was wir von Prominenten lernen können und was besser nicht“. Laut Wikipedia heißt ihr Sohn Matteo St. Clair. Der charmant doofe Vorname "Matthias Heilige Klara" verdient dreimal das Prädikat „besser nicht“, passt aber pfeilgrad in eine egozentrische Irrsinnswelt, in der selbstverliebte Steuervermeidungsberaterinnen Vorlesestunden abhalten. Wer wäre besser geeignet, Matteo St. Clair auf ein Leben vorzubereiten, in dem das Gaunerpack aus den Adelshäusern, Damen- und Herrenschneider, Köche, armselige Promis, ihre Fitnesstrainer und Friseure stilbildend sind.

Mir ist beim Anschauen der Sendung klar geworden, dass meine zeitweilige Medienabstinenz zwar eine probate Form der Psychohygiene ist, dass sie mich aber über den erbärmlichen Zustand dieser Welt hinwegtäuscht und dass alles viel schlimmer ist, als ich mir ausmalen kann. Vor allem dauern mich die vielen Leute, die sich tagtäglich mit all dem geschönten Dreck voll schmieren lassen und ihn für normal halten. Man muss schon eine Sorte Übermensch sein, um da nicht dauerhaft Schaden zu nehmen.

Da das Prädikat „schön“ in diesem Text übel beleumundet ist, sage ich, es war ein feiner Kurzurlaub, dank meiner Begleiterin und einiger Naturerfahrungen, die man in der Stadt nicht machen kann, einen Sternenhimmel zu sehen ohne Lichtverschmutzung, sich vom Seewind durchpusten zu lassen, nächtliche Stille und dergleichen. Unter solch günstigen Voraussetzungen wagten wir uns am Freitagabend in ein surreales Abenteuer. Wir betraten die Kneipe „Aale Peter“.

Fortsetzung: Teil 2

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Zeit der Fatalisten und sonstiger Gurken

Ziemlich genau kann ich mich daran erinnern, wie ich als Kind lernte, was das Wort Besuch bedeutet, vielmehr, was es nicht bedeutet. Ich sah meine Mutter hektisch einen Stapel Zeitungen ordnen, und als ich sie nach dem Grund fragte, sagte sie: „Wir bekommen gleich Besuch.“ Ich folgerte, der Besuch würde die Zeitungen durchsuchen, aber als der Besuch kam, hatte er für den Zeitungsstapel keine Zeit.

Inzwischen weiß ich, was Besuch bedeutet. Heute suchte mich ein lieber Mensch in meiner krankheitsbedingten Einsiedelei auf, also, ich bin noch Rekonvaleszent und war sehr froh über Gesellschaft. Wir frühstückten zusammen, plauderten über dies und das, und dann warf mein Besuch einen Blick auf das Display meines auf dem Tisch liegenden Mobiltelefons, las die Uhrzeit ab und musste aufbrechen. Die Zeit ist mal wieder im Flug vergangen, dachte ich noch und brachte meinen Besuch zur Straßenbahn.

Später rief mein
Besuch mich von zu Hause an, was jetzt ein bisschen irreführend ist, denn bei sich zu Hause ist der Besuch kein Besuch mehr. Jedenfalls teilte mein ehemaliger Besuch mir mit, dass wir uns um eine Stunde vertan hätten. Obschon mein Mobiltelefon ganz neu ist, beherrscht es nicht die verfluchte Zeitumstellung. Man hat uns also um eine Stunde des Zusammenseins bestohlen. Wo kann man das melden? Wo ist die Zeitumstellungsbeschwerdestelle? Man sage mir nicht, ich hätte mich ja vergewissern können, ob mein Besuch sich nicht vertan hätte. Ich bin ein höflicher Mensch und würde nicht auf die Idee kommen zu bezweifeln, was mein Besuch mir sagt. Außerdem habe ich kürzlich meine Armbanduhr verloren, hätte also nicht einmal heimlich bezweifeln können.

Uhrenvergleich

Seit Jahrzehnten plagt man uns mit dem Irrwitz der Zeitumstellung. Die ursprüngliche Begründung, damit ließe sich Energie einsparen, hat sich längst als Unsinn herausgestellt, aber der Quark geht einfach weiter, Halbjahr für Halbjahr, ist so hartnäckig doof wie Hüfthosen. So ist das, wenn man von einer übermächtigen EU-Administration regiert wird. Die kann uns einfach durch die Zeit schubsen, und wenn man dabei wirtschaftlichen, körperlichen oder sogar seelischen Schaden erleidet, gibt es keinen, der dafür verantwortlich ist, niemanden, den man mal eben in seinem Büro besuchen könnte und in den Hintern treten.

Mehr: Ethnologie des Alltags

Die Idee einer Einheitszeit kam übrigens im frühen 19. Jahrhundert erst durch den optischen Telegrafen auf. In dramatisierter Form hier zu lesen, als Teppichhaus-Hörspiel hier anzuhören.
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"Wo bist du?!" - Ethnologie des Alltags

Wenn ich vom Rechner aufstehe und drei Schritte nach links gehe, kann ich aus dem Fenster gucken hinunter auf einen Anachronismus. Der hat auf seinem Dach einen von innen erleuchteten flachen Quader und darauf prangt in Magenta ein Versalbuchstabe, nämlich ein T, was sowohl die Abkürzung für Telekom ist wie für Telefonzelle. Erstaunlicher Weise wird diese Telefonzelle rege genutzt, obwohl man meinen könnte, heutzutage hat jeder mindestens ein Mobilfunkgerät. Man könnte diese Leute als Zwecktelefonierer bezeichnen, denn eine Telefonzelle sucht man freiwillig nur auf, wenn es sein muss, zumal es wohl Leute gibt, die sie sogar ausdrücklich aufsuchen, wenn sie müssen. Entschuldigung, der Satz ist mir irgendwie verschwurbelt.

Letztens sah ich drei junge Männer nebeneinander gehen, und ein jeder hielt sein Mobilfunkgerät ans Ohr. Theoretisch sprachen sie also mit drei anderen Personen, die sich an unterschiedlichen Orten aufhielten. Es hätte aber auch sein können, dass die drei mit drei anderen redeten, die ebenfalls nebeneinander gingen, und die drei könnten sogar sie selbst gewesen sein, in einer Konferenzschaltung miteinander verbunden. Ich habe das noch nicht ausprobiert, aber vermutlich ergäbe sich eine Dehnung der Gegenwart durch die Zerstörung der Synchronität. A ruft B und C an und fragt: „Wo bist du?!“ B antwortet: „Nieschlagstraße.“ C ergänzt: „Nieschlagstraße.“ A: „Ich auch.“ Und so weiter. Man kann sich so eine gehaltvolle Konferenzschaltung gar nicht ausdenken.

Kommunikationsmedien sind
in erster Linie Gefühlsvermittler, und bedeutende Inhalte müssen ihnen abgerungen werden, sind aber trotzdem nur Mittel zum Zweck. Paul Watzlawick unterscheidet zwischen Inhalts- und Beziehungsaspekt der Kommunikation. Diese Begrifflichkeit ist ebenso sinnverstellend wie die Unterscheidung Zwecktelefonierer und Lusttelefonierer. Letztendlich geht es bei menschlichem Sprachhandeln immer um Gefühle, um Lusterzeugung oder Frustvermeidung. Inhalte sind nur Hemd und Hose, mit denen wir unsere bloßen Gefühle bedecken. Fernkommunikation suggeriert Nähe, kann aber den unmittelbaren Kontakt zwischen Menschen nicht ersetzen.

Denn in seinem Kopf ist der Mensch allein, der einzige Bewohner eines ständig wachsenden Universums. In diesem Universum kann er sich verlieren und irrewerden an der Einsamkeit. Es gibt nur ein Gegenmittel, den regelmäßigen Kontakt mit vertrauten Köpfen. Die soziale Gruppe holt den Einzelnen aus seinem Universum zurück auf den gemeinsamen Teppich der physikalischen Realität und erdet ihn durch das Gemeinschaftserlebnis, den Austausch von Gefühlen, Wahrnehmungen und Erfahrungen. Dies geschieht im menschlichen Maß. Es reicht von der sexuellen Verschmelzung, dem Hautkontakt über die Armeslänge bis hin zur Ruf- und Sichtweite. Berührung, Gestik, Mimik und Lautsprache sind die natürlichen Austauschmittel. Die entsprechenden Sozialverbände sind das Paar, die Familie, die Gruppe, der Stamm oder die Dorfgemeinschaft.

Jedes Mittel der Fernkommunikation schwächt den Kontakt zum direkten Sozialverband und führt zur Individualisierung. Wer nur noch von Universum zu Universum funkt, ist sogar ständig vom Gefühl der Einsamkeit bedroht, denn Fernkommunikation ist beschränkt auf die vom Menschen abgelösten Zeichensysteme. In einer Welt, die von der Fernkommunikation bestimmt ist, sind auch die Sozialverbünde geschwächt, weil sie sich die Aufmerksamkeit teilen müssen mit Menschen, die an anderen Orten sind.

Drei junge Männer, die nebeneinander ausschreiten und dabei telefonieren, bieten ein surreales, aber trauriges Bild. Ein jeder ist seine eigene Telefonzelle und riecht nach Notdurft.

Ethnologie des Alltags

Hier ... lacht der Kunde
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