Ich will nicht, ich will noch ein bisschen tanzen (1) - Ethnologische Forschungsreise in zwei Etappen

Im Zug unterhielten sich zwei Frauen über die Grundschule ihrer Kinder. Da sagte die eine, eine vintage gestylte, verblühende Schönheit: „Nächste Woche werde ich den Kindern vorlesen. Der Bürgermeister liest, der Pfarrer liest, da muss die Steuerberaterin auch lesen.“

Da wollte ich mich setzen, aber ich saß schon und sank wie Blei in die Polster. Wenn sich jetzt schon die Steuervermeidungsberaterin zu den Säulenheiligen eines Dorfes zählt, kann man den vakanten Platz auch dem Immobilienmakler nicht verweigern, nicht dem Finanzberater oder der Betreiberin eines Swingerclubs. Einziges Kriterium: Sie müssen erfolgreich sein, um als achtbare Stützen der Gesellschaft zu gelten. Ach, wie schwerdoof ist diese Welt, und wenn ich Christopherus persönlich wäre, die wollt ich nicht mehr schultern. Ich würde ein großes Schlammloch suchen und sie reinplumpsen lassen.

Das war am Freitag auf der Fahrt zu einem Kurzurlaub in Cuxhaven. Samstagabend wusste ich, das ist längst passiert. Die Welt ist in den Abtritt gefallen, und rundherum schwappen die Fäkalien. Da sah ich versehentlich eine Ausgabe des ZDF-Boulevardmagazins „Leute heute“. Die Scheiße ist wohl prächtig abgefilmt, in geschmackvoll abgestimmte Farben getaucht, wie überhaupt die technische Brillanz der TV-Produktionen im umgekehrten Verhältnis steht zu ihrem Inhalt. Je schöner, desto schlimmer. Schön ist auch die Moderatorin, eine Ex-BWL-Studentin namens Karen Webb, ebenso zuständig für die ZDF-Berichte über Adelshäuser. Sie hat ein Buch geschrieben mit dem Titel: „Charmant in jeder Lebenslage - was wir von Prominenten lernen können und was besser nicht“. Laut Wikipedia heißt ihr Sohn Matteo St. Clair. Der charmant doofe Vorname "Matthias Heilige Klara" verdient dreimal das Prädikat „besser nicht“, passt aber pfeilgrad in eine egozentrische Irrsinnswelt, in der selbstverliebte Steuervermeidungsberaterinnen Vorlesestunden abhalten. Wer wäre besser geeignet, Matteo St. Clair auf ein Leben vorzubereiten, in dem das Gaunerpack aus den Adelshäusern, Damen- und Herrenschneider, Köche, armselige Promis, ihre Fitnesstrainer und Friseure stilbildend sind.

Mir ist beim Anschauen der Sendung klar geworden, dass meine zeitweilige Medienabstinenz zwar eine probate Form der Psychohygiene ist, dass sie mich aber über den erbärmlichen Zustand dieser Welt hinwegtäuscht und dass alles viel schlimmer ist, als ich mir ausmalen kann. Vor allem dauern mich die vielen Leute, die sich tagtäglich mit all dem geschönten Dreck voll schmieren lassen und ihn für normal halten. Man muss schon eine Sorte Übermensch sein, um da nicht dauerhaft Schaden zu nehmen.

Da das Prädikat „schön“ in diesem Text übel beleumundet ist, sage ich, es war ein feiner Kurzurlaub, dank meiner Begleiterin und einiger Naturerfahrungen, die man in der Stadt nicht machen kann, einen Sternenhimmel zu sehen ohne Lichtverschmutzung, sich vom Seewind durchpusten zu lassen, nächtliche Stille und dergleichen. Unter solch günstigen Voraussetzungen wagten wir uns am Freitagabend in ein surreales Abenteuer. Wir betraten die Kneipe „Aale Peter“.

Fortsetzung: Teil 2

Mehr: Ethnologie des Alltags
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Klar-a - 8. Nov, 21:06

Nä wat sind se zynisch....wie können Sie nur eine ehrenwerte Steuervermeidungsberaterin in einen Topf mit so einer abscheulichen Swingerclubbetreiberin...also näääääää....;-))))! Ich kann mir richtig vorstellen, wie die Steuerfrau sich händeringend mit ihren manikürten Fingern die frisch-gestylten Haare rauft.....selbstverständlich ohne sich selbst ein Häärchen zu krümmen. Wer hat, der hat.......der hat eben auch Recht und Privilegien...und wird ,wie die Politik zeigt, bei ausreichendem Etat..schnell in den Bildungsundsundwerteadelsstand erhoben...ungeachtet des tatsächlichen Werte.

Trithemius - 8. Nov, 22:37

Zynisch, immerhin

Dabei dachte ich, es müssten mir allerorten noch schlimmere Wörter einfallen, liebe Klar-a, ich müsste noch mehr draufhauen, weil das gemeinte Pack ja sowieso nichts mehr merkt oder neudeutsch "merkbefreit" ist. Komisch, dass der Weltgeist uns passend eine Kanzlerin beschert, die das Merken nur noch in einer Verkleinerungsform im Namen trägt.
Videbitis (Gast) - 9. Nov, 10:21

Das ist aber auch ein mächtiges Gefälle von Fernsehabstinenz in den Abgrund der Nachmittagsunterhaltung. Sendungen ähnlicher Qualität fangen übrigens schon morgens an und ziehen sich dann durch den ganzen Tag, auf fast allen Kanälen. Abends dann gibt es manchmal eine Warnung: "Die folgende Sendung ist für Jugendliche unter 16 jahren nicht geeignet." Die Warnug für alle Fernsehzuschauer für alle Tagessendungen fehlt leider.
Wie man das unbeschadet überstehen soll: Gar nicht. Wahlen sind nichts anderes als Tests, ob die Propaganda greift, und wie man sieht, funktioniert sie sehr gut.

Trithemius - 9. Nov, 22:11

Eine mehrmonatige TV-Abstinenz kann ich jedem nur empfehlen. Erst dann zeigt sich der ganze Wahn, mit dem dieses heruntergekommene Massenmedium tagtäglich die Leute zu verblöden trachtet. Du hast völlig recht, es fehlen nicht nur die Warnungen vor Einzelsendungen des Tagesprogramms, auf jedem TV-Bildschirm müsst ein solcher Warnhinweis erscheinen, wie sie ähnlich auf Zigarettenpackungen stehen. Leider sind ja auch die meisten Zeitungen/Zeitschriften zu Propagandaorganen verkommen.
Heinrich.Sch - 10. Nov, 04:05

Die Leute verblöden tatsächlich. Aber von alleine, dafür brauchen sie kein TV.
Nun sind die meisten Tiere schon schlauer als wir! http://bit.ly/azaIrW

Die Sendung bitte trotz TV-Abstinenz anschauen! Es gibt auch Ausnahmen.

Gruß HEinrich
Trithemius - 10. Nov, 11:11

Von alleine, lieber Heinrich? Wie muss ich mir das vorstellen? Wenn was dran ist an Ihrer These, besteht ja noch Hoffnung, dass wir demnächst von der Tierwelt eines Besseren belehrt werden.

Ich habe mir übrigens den Anfang des Films angesehen, bis hin zu den Elefanten. Leider war auch ein Mensch zu sehen, der Moderator. Diese Mode, dass ein Moderator einem die Welt präsentiert, finde ich wirklich penetrant. Man hat immer den Verdacht, dass es solchen Leuten viel mehr um sich selbst geht als um die Sachverhalte, die sie präsentieren.

Ja, es gibt Ausnahmen in den Medien, aber sie zu finden ist schon recht mühsam, und oft muss man lange aufbleiben, bevor etwas Sehenswertes gesendet wird. Mein Einwand gegen das Medium TV ist aber grundsätzlich: Beim Betrachten von Bildern bildet der Mensch keine Begriffe. Im Sehen muss Vergessen liegen, sonst würden sich ja die gesehenen Bilder ständig überlagern. Fragen Sie zum Test einen Fernsehzuschauer kurz nach der Sendung, was er behalten hat. Da wird er nicht viel vorweisen können. Es ist auch bei den schnellen Schnitten keine Zeit für gedankliche Durchdringung. Ein Buch z.B. kann man sinken lassen und nachdenken über das, was man gelesen hat, kann einen Satz nochmals lesen, kann einen Begriff nachschlagen, sich Notizen machen. Das alles erlaubt ein flüchtiges Medium nicht.
nömix - 10. Nov, 10:29

Herrje, lieber Kollege – Sie werden am Ende doch nicht etwa der Misanthropie anheimfallen wollen ;)

(»Das Publikum ist hungrig, und wer hungrig ist, frisst auch Schmarrn. Aber wenn das Publikum mit Schmarrn überfüttert wird, dann ist es irgendwann angefressen[*]« sagte der große Otto Schenk über das Fernsehen – sollte er recht behalten, so besteht noch Hoffnung.)

Trithemius - 10. Nov, 10:59

Man kommt leicht in den Ruch, der Misanthropie anheim gefallen zu sein, sogar selbst ein Misanthrop zu sein, wenn man sich satirisch äußert, werter Kollege. Aber manchmal halte ich es mit Michael Schmidt-Salomon: "Es ist falsch, mit dem Zahnstocher an Probleme heranzugehen, wenn der Abbruchhammer verlangt wird."

Otto Schenks Optimismus kann ich derzeit nicht teilen. Vielleicht meinte er auch gar nicht das Fernsehen.
Heinrich.Sch - 10. Nov, 18:46

Optimismus und Misanthropie schließen sich nicht aus. Ich bin auch Misanthrop (wenn es mir gerade passt) und trotzdem immer optimistisch, dass dieser Planet sich schnell erholt, wenn die Menschen sich erst einmal ausgerottet haben.
Trithemius - 10. Nov, 21:38

Da stört mich nur eines, lieber Heinrich, dass wir uns nicht mehr drüber freuen können, wenn sich der Planet ohne uns erholt hat, auch wenn wir Optimisten sind, wie sie im Buche stehen.
Heinrich.Sch - 10. Nov, 22:35

Da gibt es einen Trick: Einfach JETZT schon freuen!

;)
Trithemius - 10. Nov, 23:14

Wenn ich mich jetzt schon freue, dass die Menscheit sich dereinst abgeschafft gehabt haben wird, nennt mich Freund nömix wieder einen Misanthropen.
webgeselle - 10. Nov, 19:02

Du nimmst doch das Abbild für das Original...

 
... wobei ich langsam dahinter komme, dass ersteres zum Ertragen des letzteren oft nötig scheint...

Ich stelle mir vor, dass die Steuerberaterin aus ihren Konto-Auszügen vorliest, da lernen die jungen Menschen fürs Leben, ha!

(... über "vintage" ist mir ein Alben-Namen wieder gekommen: "Vantage point"... alles ist vernetzt... aber die haben etliche Videos bei YouTube raus genommen...)

Mit vorzüglicher Abstinenz

Das Fossil
 

Trithemius - 10. Nov, 21:35

Geht ja gar nicht anders, denn wollte ich alles empirisch absichern, was ich so im Alltag erspüre, müsste ich jedesmal ein Buch schreiben. Der Wahrheit kommt man damit aber auch nicht viel näher, man kann sich und die Leser allenfalls ein bisschen beruhigen, dass nicht alles aus dem hohlen Bauch gesagt ist.

Aus den Konto-Auszügen lesen, finde ich sehr lustig.

Ja, leider ist von unserem Land aus manches bei YouTube nicht mehr verfügbar, so auch vieles von dEUS. Jetzt ahne ich, wie sich die Leute im Tal der Ahnungslosen gefühlt haben.

Dabei zahlt sogar PC-Rundfunkgebühren,
Dein Trittenheim
webgeselle - 11. Nov, 20:31

Ich bin durchschaut...

 
... ich wollte zum Buch schreiben anregen...

(... ich wollte gar keine Ahnung haben... )

Und die nennen das (den PC) "neuartiges" Rundfunkgerät"... Das lässt sich fortspinnen! "Staubsauger" - "neuartiger Wischmopp"... "Bierdose" - "neuartiger Humpen"... Usw. Aber ich will den Verbraucher nicht irritieren...

Abgedreht

Das Fossil
 

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