Beschaulicher Bummel

Hier werden Sie gerüstet

Die Urform des heutigen Wegweisers hat statt eines Richtungspfeils eine geschlossene Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger. Dieser Wegweiser stand stellvertretend für den Arm eines Menschen und war für Fahrende und Wanderer der Vergangenheit viel wichtiger als heute. Denn in unseren Zeiten ist das Wegenetz gut ausgebaut und beschildert. Da ist ein Vorankommen einfach und ein Verirren selten tragisch. Der Wanderer der Vergangenheit war froh um jedes Wegzeichen, denn es bewahrte ihn vor dem Verderben in einer schier endlosen Fremde. Man kann sich die Erleichterung vorstellen, mit der er die zeigende Hand begrüßte.

Ein Bild.
Wir setzen das Leben gleich mit einer fremden Welt, deren Anfang und Ende niemand je gesehen hat. Wenn sich irgendwann nach der Geburt die Selbsterkenntnis einstellt, findet man sich auf einer Waldlichtung vor. Die Lichtung ist entweder klein und voller Gestrüpp oder groß und gut bewirtschaftet, je nachdem, was die Vorfahren dort geleistet haben. Doch irgendwann verlässt der junge Mensch die angestammte Lichtung und schlägt sich in die Büsche, mal freiwillig, mal gezwungener Maßen. Er will oder muss seinen eigenen Weg gehen.

Von den Bären
Kanadas wird berichtet, dass sie über Generationen hinweg dieselben Pfade durch den Wald benutzen und dabei sorgsam in die Fußstapfen ihrer Vorfahren treten. Das ist eine probate Weise voranzukommen, denn so nutzen sie die Kenntnisse und Erfahrungen ihrer Vorgänger, allein aus dem Lesen ihrer Spuren. Der Mensch im Naturzustand macht es ebenso, doch er muss nicht exakt die Fußstapfen der Alten nehmen, denn sie haben ihm ihre Erfahrungen und Kenntnisse nicht nur durch Tritte, sondern auch mittels Sprache beigebracht, meist in Form von Liedern, weil sie sich besser einprägen. Dieses tradierte Wissen hilft dem Menschen eines Naturvolkes, seine Welt zu lesen und für seine Zwecke zu deuten.

Der Wald des Lebens in unseren Breiten ist nicht überall unwegsam. Er ist mit Lichtungen übersät, von vielen Pfaden, Wegen und Straßen durchzogen und mit unzähligen Wegweisern versehen. Ständig kommen neue Wegstrecken hinzu und manchmal werden sie verlegt oder überwuchern, wenn keiner sie mehr geht. Wer reich und mächtig ist, hat prächtige Alleen, auf denen er per Kutsche fahren, sich per Sänfte oder gar auf den Händen anderer tragen lassen kann. Besonders seitlich dieser Alleen liegt viel Gestrüpp, das beim Anlegen und bei der Pflege anfällt. Deshalb können Unbefugte solche Alleen selten für sich nutzen, denn das Gestrüpp, das sie begrenzt, ist fast überall unüberwindlich.

Allgemein zugänglich sind die Straßen und Wege der Heilslehren und Religionen. Es kann dir sogar passieren, dass dich zwei junge Männer mitten im Wildwuchs des Lebens ansprechen und dich auf ihre bequeme Straße komplimentieren wollen. Folge ihnen, wenn du deinen Weg nicht mehr selber finden willst. Manche bieten dir derart bequeme Straßen an, da brauchst du deinen Kopf nur noch, damit es dir nicht in den Hals regnet.

Wenn du jedoch
anders gestrickt bist und dir deinen eigenen Weg suchen willst, auf dem du schön und gut vorankommst, dann brauchst du ein bisschen Geschick, Erfahrung und Kenntnisse. Doch das Wichtigste ist, du musst die Natur des Lebens lesen lernen. Denn es hilft nichts, sich einen Kompass zu nehmen und nach Marschzahl loszulaufen. Der Wildwuchs des Lebens verlegt dir bald den Weg. Du verhakst dich in Dornen, du fällst über knorrige Wurzeln, du triffst auf fremde Lichtungen, wo man dich nicht haben will, du stehst machtlos da, weil dir ein Mächtigerer als du den Weg verlegt hat, da gibt es Sümpfe, Klippen, steile Abhänge, unergründlich tiefe Schluchten. Ja, und du kannst dich in Gebiete verlaufen, in denen du völlig auf dich gestellt bist, wo kein Wegweiser die Nähe anderer Menschen verheißt. Dann kann es dir geschehen, dass du jede Richtung verlierst und dich jahrelang im Kreis bewegst, wenn du nicht am unerquicklichen Boden hockst, weil dir die Einsamkeit den Mumm geraubt hat. Und nicht zuletzt können andere dich in die Irre führen, absichtlich oder unbedacht. Sie können dich vereinnahmen und du schließt dich ihnen an, obwohl sie selbst nicht wissen wohin. Die Gefahr ist groß, denn auch Menschen auf schlechten Wegen suchen nach Weggefährten.

Es ist gut, sich zu Guten zu gesellen, ein Rat des Balthasar Gracian, der die von Schopenhauer übersetzte „Kunst der Weltklugheit“ geschrieben hat. Doch bevor du den oder die guten Weggefährten findest, musst du auch allein zurechtkommen, also lies einmal die Natur des Lebens.

Die Grammatik ist
einfach, der Wortschatz ist leichtfasslich. Der Mensch ist auf rasche Entscheidungen hin angelegt. „Geschwindigkeit geht vor Genauigkeit.“ Nur so kann das menschliche Gehirn die ständig wechselnde Fülle der inneren und äußeren Wahrnehmungen bewältigen. Das Leben wimmelt nämlich, es ist Chaos. Doch in diesem Chaos lassen sich Wege anlegen und Wege finden, denn überall finden sich natürliche Wegweiser. Der Schlüssel für sie ist die Genauigkeit. Manchmal muss man schnell reagieren und hat keine Zeit, sie zu beachten, besonders in so raschen Zeiten wie heute. Doch wo immer es möglich ist, da schaue man in Ruhe um sich ...

In diesem Text
hier ist Zeit. Ich habe ihn heute Morgen während einer Omnibusfahrt zu schreiben begonnen. Während ich schrieb, rumpelte der Omnibus eine Weile über eine Baustellenstraße. Da entgleiste mir mein Stift, und deshalb musste ich eine Pause beim Schreiben einlegen. Das gab mir Gelegenheit darüber nachdenken, wohin der Text eigentlich führen soll. Und so brachte die unruhige Fahrt Langsamkeit in mein Denken. Da war Zeit, sich umzuschauen. Auf solche Wegweiser des Lebens achte ich, wenn ich kann. Sie sind nicht von einer höheren Macht geschickt, die mir etwas zeigen will. Solche Ideen verfolgen die Pilger auf den Prachtstraßen der Religionen und verschlungenen Pfaden der Heilslehren. Nein, diese Zeichen haben eigentlich gar nichts mit mir zu tun. Haben sich etwa seit fünf Jahren unzählige Fachleute damit beschäftigt, die Straße zu sanieren, damit ich just heute eine Botschaft des Lebens bekomme? Bitte, das ist doch Quatsch.

Zurück wurde ich mit einem Personenkraftwagen gefahren; ich ließ mich vor der Innenstadt absetzen und bummelte quer hindurch nach Hause. Unterwegs war ich in einem Café, musste lange auf meine Bestellung warten, saß noch rauchend auf dem Markt, schaute aufs eingerüstete Rathaus, und dabei dachte ich immer wieder an diesen Text. Eben habe ich ihn geschrieben und ganz anders gemacht, als ich ihn im Omnibus begonnen hatte. Auf diese Weise ist er in Ruhe gewachsen, und er ist anschaulicher und genauer als am Anfang. Dieses Beispiel lässt sich auf alle Lebensbereiche übertragen.

Die Dinge brauchen Zeit und Hinwendung. Die Zeit muss der Mensch sich nehmen, zur Hinwendung muss er sich häufig zwingen. Wo dir das Leben ein kleines oder großes Hindernis in den Weg stellt, da achte das Hindernis als Zeichen. Halt mal an, schaue dich um und finde heraus, in welche Richtung es weiter gehen kann.

Das ist die kleine Kunst, das Leben zu lesen und gut voranzukommen.

Guten Abend

Kopfkino
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