Deutsch für Blogger (4) – Wonach man sich zu richten hat – Über journalistische Stilformen

Wonach man sich zu richten hat, das ist die Bedeutung des Wortes NACHRICHT. Jeden Abend versammeln sich die Deutschen vor den Nachrichtengeräten und empfangen die neuesten Anweisungen aus der Tagesschau. Sie tun das freiwillig, anders als in einer Diktatur, wie sie etwa in Orwells Dystopie 1984 geschildert wird. In einer Demokratie dienen Nachrichten per Definition nicht der Indoktrination. Die Nachrichtenmacher des öffentlich-rechtlichen Fernsehens achten auf eine Trennung zwischen Information und subjektiver Wertung. Daher enthalten die Nachrichten der Tagesschau keine direkte Meinungsäußerung. Diese Nachrichten sind nur manchmal tatsächliche Verhaltensaufforderungen, wenn etwa gemeldet wird, dass Bahnen und Busse nicht fahren werden, weil die Angehörigen des öffentlichen Dienstes streiken. Oder wenn absehbar ist, dass es wegen der Wetterverhältnisse zu Verkehrsbehinderungen kommen wird. Allein der Wetterbericht ist eine täglich vorkommende Nachricht im etymologischen Wortsinne.

Trotzdem enthalten alle Nachrichtensendungen subjektive Wertungen. Das tägliche Aufkommen an Nachrichten ist immens, die Sendezeit begrenzt. So liegt die subjektive Wertung in der Auswahl der Nachrichten. Gewisse Themen stehen immer im Vordergrund: das Tun und Lassen von hochrangigen Politikern, deren Tagungen, Kriege, Katastrophen, kulturelle und gesellschaftliche Ereignisse, Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, Sport und seltsamer Weise die Geschehnisse an der Börse. Auswahl, Bebilderung, Platzierung und die Länge der Nachrichten suggerieren deren Wichtigkeit. So steht die scheinbare Objektivität der Nachrichtensendung im ständigen Widerspruch zur tatsächlichen Manipulation der öffentlichen Wahrnehmung und Diskussion.

Ähnlich verhält es sich mit der so genannten seriösen Presse. Hier ist jedoch die Vielfalt größer, weil Zeitungen mehr Platz haben. Warum aber täglich nur genauso viel zu passieren scheint, dass es exakt in eine Zeitung passt, ist ein Phänomen, über das Kinder sich noch wundern, das Erwachsene nur selten kritisch reflektieren. Alle Massenmedien, Rundfunk wie Zeitung und Zeitschrift, schreiben voneinander ab. Wenn ein neues Thema aufkommt, wird es von allen aufgegriffen und kolportiert. Das wiederum suggeriert Zuhörern, Zuschauern und Lesern, dass sie ihr Denken und Reden daran zu orientieren haben. Auf diesem Umweg werden Nachrichten, die nur indirekt mit dem Leben des Einzelnen zu tun haben, zu Denk- und Diskussionsvorlagen.

Nachrichten werden in der Vergangenheitsform Präteritum verfasst. Die kürzeste Nachricht ist die MELDUNG, die Langform ist der BERICHT.

Hannover (eigener Bericht)
Bauarbeiter der Baufirma XY rissen am Montag in der Parterrewohnung des Hauses X-Straße Nr. 7 zwei Wände ein und störten damit die Konzentration des Autors dieser Zeilen. Sie bedienten sich dazu großer Vorschlaghämmer. Die Ruhestörung war nötig geworden, weil der Hausbesitzer den Raum eines seit langem leer stehenden Ladenlokals der Parterrewohnung zuschlagen wollte.

Beim Bericht muss das Wichtigste zuerst genannt werden. Er beantwortet bereits in den ersten Sätzen die W-Fragen: Wer, was, wo, wie, warum. Weitere Einzelheiten in absteigender Wichtigkeit. (Die weiteren Einzelheiten bleiben dem Leser diesmal erspart. Kein Platz und darum von hinten weggekürzt.) Diese Textgestaltung heißt Lead-Form. Sie soll im amerikanischen Bürgerkrieg entstanden sein. Die Kriegsberichterstatter telegrafierten ihre Berichte dergestalt hastig an die Heimatredaktion, weil die Telegraphenverbindungen jederzeit durch Kriegshandlungen unterbrochen werden konnten.

Man hätte die Form des Berichts in Friedenszeiten nicht beibehalten müssen. Doch wenn sich beim Leser einmal spezifische Rezeptionsgewohnheiten herausgebildet haben, müssen sie auch bedient werden. Zudem vereinfachte die Lead-Form den Bau einer Zeitungsseite im Bleisatz. Maschinensatz besteht aus von der Setzmaschine gegossenen Zeilen. Erwies sich ein Bericht zu lang, konnte der Metteur ihn abschnittsweise von hinten kürzen. Er nahm den Zeilenstapel aus der Satzform und warf ihn in einen Sammelbehälter. Hätte der mit ihm arbeitende Schlussredakteur einzelne Sätze aus dem Bericht gestrichen, wäre ein Neusatz der Zeilen nötig gewesen. Die überschüssigen Textabschnitte wurden also in Gänze verworfen, um später eingeschmolzen zu werden.

Nur wenige Blogs enthalten Berichte. Blogger pflegen Information und Meinung zu vermischen. Das ist ein Grund, warum Journalisten die Blogs geringschätzen. Doch die Boulevardisierung aller Massenmedien hat die klassische Trennung von Meinung und Information längst aufgehoben. Allein die Tagesschau hält sich noch daran. Daher glauben auch viele Deutsche, der Tagesschausprecher wäre der Regierungssprecher.

Abgelegt unter: Teppichhaus Textberatung

P.S.: Warum die Wohnung unter der des Autors leer stand und jetzt umgebaut werden kann, erhellt dieser Bericht:

Irreführende Werbung hat Opa getötet

auf-draht1

Hannover (eigener Bericht) In einer Wohnung im Stadtteil Linden wurde am vergangenen Wochenende die stark verweste Leiche des Rentners Erwin K. gefunden. Offenbar war er von der Stehleiter gefallen. Die Angehörigen klagen an: „Die Johanniter haben Opa getötet.“

Ein Sprecher der Johanniter wies den Vorwurf zurück. Aus Liebe zum Leben habe man ein erfahrene Werbeagentur beauftrag, den Notruf ansprechend zu visualisieren. Das Foto sage eindeutig aus, dass auf Draht ist, wer im Notfall die Johanniter ruft. Schließlich sei in der Glühbirne auch ein Draht. „Im Traum wären wir nicht auf die Idee gekommen, dass jemand versucht, mit einer Glühbirne zu telefonieren“, sagte der Sprecher bei einer Pressekonferenz.

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