Mein surrealer Alltag (10) - Automatisches Schreiben

Morgens, 6:15 Uhr. Gnädig bedeckt der Neuschnee den gefrorenen Schneematsch. Auch die Müllsedimente der letzten Wochen sind nicht mehr zu sehen. Das ist immerhin eine Erleichterung fürs Auge, verbirgt auch die Schneehaufen am Straßenrand, die noch am Vortag ausgesehen hatten wie Berge von Schutt. Aus dem Kiosk fällt Licht auf den Bürgersteig und lässt die dünnen Schneeflocken golden aufleuchten. Da warten zwei Kunden auf Bedienung, derweil der Kioskbetreiber die Werbetafel der Bildzeitung nach draußen bringt. Besser nicht hingucken, was BILD heute titelt. Man will ja nicht am frühen Morgen schon in den jungfräulichen Schnee brechen.

Die Bäckereifachverkäuferin hat Ränder unter den Augen. Hat sie die Nacht auf einer Luftmatratze im Laden verbracht? Das war doch gestern, als in Hannover Busse und Bahnen nicht fuhren. Vermutlich hat sie sich noch nicht davon erholt. „Endlich hat’s mal wieder geschneit!“, sage ich, um sie aufzumuntern. „Ja“, sagt sie, „ich kann’s bald nicht mehr sehen.“ Kein Wunder, bei den dicken Augen. Immerhin ist sie schon ironiefest, braucht keine Häkchengeste bei dem Wort „Endlich“. Sie stopft die Brötchen in die Tüte, als hätte sie auf jedes einzelne einen bodenlosen Groll, wünscht dann aber trotzdem einen schönen Tag.

Die beiden vor dem Kiosk sind wetterfest. Der eine hat sogar die Jacke offen. „Nein“, ruft er zur Kioskluke hinein, „gib mir mal ein Bier! Kaffee hab ich schon an der Tanke getrunken.“ Es ist nicht mal hell, unentwegt rieselt der Schnee und pudert ihm die Haare, geschätzte drei Grad unter Null, und dann schon an einer eiskalten Bierflasche lutschen? Offenbar kann man sich den Winter schön saufen. Aber man muss schon in aller früh damit anfangen.

Auf der Ihmebrücke am Schwarzen Bär gleitet einer mit dem Fahrrad aus, wirft die Arme nach vorn und legt sich lang. „Alles in Ordnung?!“ fragt ein älterer Fußgänger. „Ja, ja“, sagt der Radfahrer und rappelt sich hoch. Der Alte tritt hinzu und sagt: „Wissen Sie, was mich am meisten ärgert?“ „Nein“, sagt der Radfahrer und richtet seine verbogene Lampe. „Dass so viele, ich mache das ja auch manchmal, ohne Helm fahren.“ „Wieso?“, fragt der Radfahrer, „ich bin doch nicht auf den Kopf gefallen.“ Es ist zweifellos doppeltes Pech, direkt vor einem Klugscheißer auszurutschen.

Automatisches-Schreiben
Bei aller Klage über den Winter, er ist, wie man sieht, eine gute Zeit für automatisches Schreiben. Bei dieser experimentellen Form der Kunst sind Zufallsprozesse gestaltbildend. Automatische Texte und Bilder erlauben eine Lesart der freien Assoziation. Erfunden wurde das Automatische Schreiben um 1924 von französischen Surrealisten. Max Ernst berichtet, der Arzt André Breton habe die Gruppe der Pariser Surrealisten zu einer Mauer geführt, gegen die Tuberkulosekranke zu spucken pflegten. Man hoffte, aus den Schlieren an der Wand Inspiration zu ziehen. Es handelt sich dabei um die Technik des Hineinsehens. Sie wird noch heute beim "kreativen Schreiben" angewandt. Auswurf gibt es genug auf der Welt, und wo immer einer hingespuckt hat, steht ein anderer und schreibt einen Roman. Ich hätte die heutige Bildschlagzeile vielleicht doch lesen sollen.

Mein surrealer Alltag - Folgen 1-7
2198 mal gelesen

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Teppichhaus Trithemius / Teestübchen Trithemius

Aktuelle Beiträge

Die Papiere des PentAgrion...
<img alt="Papiere des PentAgrion bd 2" style="margin:5px;"...
Trithemius - 23. Apr, 13:18
Die Papiere des PentAgrion...
Folge 2.1 Die Macht der Jacke - Folge 2.2 Von den Socken...
Trithemius - 3. Feb, 09:49
Papiere des PentAgrion...
Folge 2.1 Die Macht der Jacke - Folge 2.2 Von den...
Trithemius - 3. Feb, 00:20
Die volle Wahrheit über...
Dienstagmorgen kurz vor der Teestübchen-Redaktionskonf ernenz....
Trithemius - 25. Apr, 19:16
Besser aufrecht sterben,...
Besser aufrecht sterben, als mit kalten Knien leben! Nach...
Lo - 25. Feb, 17:03
An einem Sonntagmorgen...
Allmorgendlich klappe ich den Tagesschau-Feadreader...
Trithemius - 25. Feb, 10:45
Teestübchen Humorkritik...
Morgens werde ich wach, ist mein Humor weg, die heitere...
Trithemius - 13. Feb, 17:30
Hallo Melanie,
welch eine Überraschung. Du bist mir offenbar nicht...
Trithemius - 3. Jan, 17:02

RSS Box

Links

Suche

 

Kalender

Februar 2010
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 6 
 7 
 9 
13
14
16
20
21
23
24
25
26
27
 

Web Counter-Modul

Status

Online seit 6258 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:09

Credits


Abendbummel online
Bild & Text
Ethnologie des Alltags
Frau Nettesheim
freitagsgespräch
Gastautoren
Hannover
Internetregistratur
Kopfkino
Pataphysisches Seminar
Pentagrion
Schriftwelt im Abendrot
surrealer Alltag
Teppichhaus Intern
Teppichhaus Textberatung
Textregistratur
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren