Mein surrealer Alltag (10) - Automatisches Schreiben
von Trithemius - 10. Feb, 16:56
Morgens, 6:15 Uhr. Gnädig bedeckt der Neuschnee den gefrorenen Schneematsch. Auch die Müllsedimente der letzten Wochen sind nicht mehr zu sehen. Das ist immerhin eine Erleichterung fürs Auge, verbirgt auch die Schneehaufen am Straßenrand, die noch am Vortag ausgesehen hatten wie Berge von Schutt. Aus dem Kiosk fällt Licht auf den Bürgersteig und lässt die dünnen Schneeflocken golden aufleuchten. Da warten zwei Kunden auf Bedienung, derweil der Kioskbetreiber die Werbetafel der Bildzeitung nach draußen bringt. Besser nicht hingucken, was BILD heute titelt. Man will ja nicht am frühen Morgen schon in den jungfräulichen Schnee brechen.
Die Bäckereifachverkäuferin hat Ränder unter den Augen. Hat sie die Nacht auf einer Luftmatratze im Laden verbracht? Das war doch gestern, als in Hannover Busse und Bahnen nicht fuhren. Vermutlich hat sie sich noch nicht davon erholt. „Endlich hat’s mal wieder geschneit!“, sage ich, um sie aufzumuntern. „Ja“, sagt sie, „ich kann’s bald nicht mehr sehen.“ Kein Wunder, bei den dicken Augen. Immerhin ist sie schon ironiefest, braucht keine Häkchengeste bei dem Wort „Endlich“. Sie stopft die Brötchen in die Tüte, als hätte sie auf jedes einzelne einen bodenlosen Groll, wünscht dann aber trotzdem einen schönen Tag.
Die beiden vor dem Kiosk sind wetterfest. Der eine hat sogar die Jacke offen. „Nein“, ruft er zur Kioskluke hinein, „gib mir mal ein Bier! Kaffee hab ich schon an der Tanke getrunken.“ Es ist nicht mal hell, unentwegt rieselt der Schnee und pudert ihm die Haare, geschätzte drei Grad unter Null, und dann schon an einer eiskalten Bierflasche lutschen? Offenbar kann man sich den Winter schön saufen. Aber man muss schon in aller früh damit anfangen.
Auf der Ihmebrücke am Schwarzen Bär gleitet einer mit dem Fahrrad aus, wirft die Arme nach vorn und legt sich lang. „Alles in Ordnung?!“ fragt ein älterer Fußgänger. „Ja, ja“, sagt der Radfahrer und rappelt sich hoch. Der Alte tritt hinzu und sagt: „Wissen Sie, was mich am meisten ärgert?“ „Nein“, sagt der Radfahrer und richtet seine verbogene Lampe. „Dass so viele, ich mache das ja auch manchmal, ohne Helm fahren.“ „Wieso?“, fragt der Radfahrer, „ich bin doch nicht auf den Kopf gefallen.“ Es ist zweifellos doppeltes Pech, direkt vor einem Klugscheißer auszurutschen.
Bei aller Klage über den Winter, er ist, wie man sieht, eine gute Zeit für automatisches Schreiben. Bei dieser experimentellen Form der Kunst sind Zufallsprozesse gestaltbildend. Automatische Texte und Bilder erlauben eine Lesart der freien Assoziation. Erfunden wurde das Automatische Schreiben um 1924 von französischen Surrealisten. Max Ernst berichtet, der Arzt André Breton habe die Gruppe der Pariser Surrealisten zu einer Mauer geführt, gegen die Tuberkulosekranke zu spucken pflegten. Man hoffte, aus den Schlieren an der Wand Inspiration zu ziehen. Es handelt sich dabei um die Technik des Hineinsehens. Sie wird noch heute beim "kreativen Schreiben" angewandt. Auswurf gibt es genug auf der Welt, und wo immer einer hingespuckt hat, steht ein anderer und schreibt einen Roman. Ich hätte die heutige Bildschlagzeile vielleicht doch lesen sollen.
Mein surrealer Alltag - Folgen 1-7
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Die Bäckereifachverkäuferin hat Ränder unter den Augen. Hat sie die Nacht auf einer Luftmatratze im Laden verbracht? Das war doch gestern, als in Hannover Busse und Bahnen nicht fuhren. Vermutlich hat sie sich noch nicht davon erholt. „Endlich hat’s mal wieder geschneit!“, sage ich, um sie aufzumuntern. „Ja“, sagt sie, „ich kann’s bald nicht mehr sehen.“ Kein Wunder, bei den dicken Augen. Immerhin ist sie schon ironiefest, braucht keine Häkchengeste bei dem Wort „Endlich“. Sie stopft die Brötchen in die Tüte, als hätte sie auf jedes einzelne einen bodenlosen Groll, wünscht dann aber trotzdem einen schönen Tag.
Die beiden vor dem Kiosk sind wetterfest. Der eine hat sogar die Jacke offen. „Nein“, ruft er zur Kioskluke hinein, „gib mir mal ein Bier! Kaffee hab ich schon an der Tanke getrunken.“ Es ist nicht mal hell, unentwegt rieselt der Schnee und pudert ihm die Haare, geschätzte drei Grad unter Null, und dann schon an einer eiskalten Bierflasche lutschen? Offenbar kann man sich den Winter schön saufen. Aber man muss schon in aller früh damit anfangen.
Auf der Ihmebrücke am Schwarzen Bär gleitet einer mit dem Fahrrad aus, wirft die Arme nach vorn und legt sich lang. „Alles in Ordnung?!“ fragt ein älterer Fußgänger. „Ja, ja“, sagt der Radfahrer und rappelt sich hoch. Der Alte tritt hinzu und sagt: „Wissen Sie, was mich am meisten ärgert?“ „Nein“, sagt der Radfahrer und richtet seine verbogene Lampe. „Dass so viele, ich mache das ja auch manchmal, ohne Helm fahren.“ „Wieso?“, fragt der Radfahrer, „ich bin doch nicht auf den Kopf gefallen.“ Es ist zweifellos doppeltes Pech, direkt vor einem Klugscheißer auszurutschen.
Bei aller Klage über den Winter, er ist, wie man sieht, eine gute Zeit für automatisches Schreiben. Bei dieser experimentellen Form der Kunst sind Zufallsprozesse gestaltbildend. Automatische Texte und Bilder erlauben eine Lesart der freien Assoziation. Erfunden wurde das Automatische Schreiben um 1924 von französischen Surrealisten. Max Ernst berichtet, der Arzt André Breton habe die Gruppe der Pariser Surrealisten zu einer Mauer geführt, gegen die Tuberkulosekranke zu spucken pflegten. Man hoffte, aus den Schlieren an der Wand Inspiration zu ziehen. Es handelt sich dabei um die Technik des Hineinsehens. Sie wird noch heute beim "kreativen Schreiben" angewandt. Auswurf gibt es genug auf der Welt, und wo immer einer hingespuckt hat, steht ein anderer und schreibt einen Roman. Ich hätte die heutige Bildschlagzeile vielleicht doch lesen sollen.
Mein surrealer Alltag - Folgen 1-7