Die Handschrift hat Schwindsucht

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Manchmal, wenn ich mich mit einem Stift in der Hand erwische, frage ich mich: Was, zum Teufel, tue ich da? Dann ist mir das Schreiben mit der Hand ganz fremd. Die Auseinandersetzung zwischen Ausdrucks- und Formwillen, Beschreibstoff und Schreibgerät kommt mir anachronistisch vor, gehört in die Vorzeit des Computers.

Der niederländische Kabarettist, Autor und Sänger Wim de Bie veröffentlichte schon in den 80ern in einer Tageszeitung eine Glosse, worin er das Schreiben mit dem Computer ironisch lobte. Der Text ist mit der Hand geschrieben, weil der Computer des Autors kaputtgegangen war. Und was stellt Wim de Bie fest? Seine regelmäßige, geläufige, männliche Handschrift, mit der er früher manches Mädchen zu betören wusste, ist verschwunden.


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Das ist der Preis für die wundersame neue Schreibtechnik. Aber die Vorteile überwiegen. Umberto Eco hat bereits in den 80ern den Computer als „spirituelle Maschine“ gefeiert, weil man mit ihm fast so schnell schreiben wie denken könne. Er hat sich vertan. Mancher Tastenvirtuose kann sogar viel schneller schreiben als denken.

Handschrift dagegen hinkt dem Denken hinterher. Aber das wirkt sich auf die sprachliche Form aus. Mit der Hand zu schreiben, zwingt zu einer gedanklichen Durchdringung, zumal jede Korrektur mit Aufwand verbunden ist. Daher ist ein handschriftlicher Text näher am Schreiber, man spürt ihn als Leser fast noch. Diese Zeilen hier wurden beim Schreiben ständig korrigiert. Manches wurde spurlos getilgt, anderes ebenso spurlos an eine andere Stelle verschoben. Das Ergebnis ist ein künstliches Produkt und auf bedauerliche Weise steril. Und das liegt eben nicht nur daran, dass mein Text sich dem Leser in 12 p Verdana präsentiert.

Eine schöne Handschrift will geübt sein. Die Voraussetzungen dafür werden in der Grundschule gelegt. Deutsche Schulkinder haben jahrzehntelang nach hässlichen Schriftvorlagen lernen müssen, und viele haben sich dabei eine ministeramtlich verordnet Sauklaue zugezogen. Hier ist ein Änderungsbedarf. Der bundesweite Grundschulverband hat in seinem Maiheft von Grundschule aktuell das Problem der Ausgangsschriften für Grundschüler thematisiert und dabei eine beachtliche Kehrtwende vollzogen, denn seit den 70ern hatte man die missratene Vereinfachte Ausgangsschrift propagiert. Das Heft enthält unter anderem eine überarbeitete und erweiterte Version meines Blogbeitrags „Einiges über Handschrift“. Die neue Fassung ist hier vorab als PDF zu bekommen.

Der Grundschulverband schlägt vor, keine Ausgangsschrift mehr zu lehren, sondern nur noch eine Grundschrift, die von den Kindern individuell abgewandelt werden soll. Ich halte das für einen genialen Befreiungsschlag. Mein Künstlerfreund Rudolf hat mich letztens einen Verräter gescholten, holte Notizbücher hervor, um mir die Schönheit der Lateinischen Ausgangsschrift zu beweisen. Es war aber seine Schrift, die vom Formwillen durchdrungene Handschrift eines Künstlers. Man kann sie nicht als Maßstab nehmen. Die meisten Adaptionen der gängigen Ausgangsschriften sind weit davon entfernt auch nur geläufig zu wirken. Wie soll sich auch eine Kinderschrift ästhetisch entwickeln können, wenn überkommene barocke Formen gelehrt werden und zudem kaum noch Zeit für die Vermittlung mehr ist?

Stattdessen müssen sich Kinder schon im zarten Alter mit einer Unzahl von Dingen beschäftigen, die nicht zu ihrer Lebenswirklichkeit gehören, z.B. Autoren suchen, die gar kein Buch geschrieben haben, nicht mal mit der Hand.

Homer
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