Ich will nicht, ich will noch ein bisschen tanzen (2) - Ethnologische Forschungsreise in zwei Etappen

Teil 1

Im Andenkenladen hängen schwarze T-Shirts in Kindergrößen mit der Aufschrift: „Meine Hand ist klein, aber ich kann Oma und Opa um den Finger wickeln.“ Gekauft werden sie offenbar von den Opfern, ungeachtet der Gefahr, jede vernünftige Erziehung zu torpedieren. Entsprechend die zweite Aufschrift: „Wenn Mama nervt, rufe ich Oma an.“ Wenn Kindergärtnerinnen und Lehrpersonal sich beklagen, man habe zunehmend mit kleinen selbstbezüglichen Arschlöchern zu tun, hier bekommt man die Idee, woran es liegt. Aus kleinen Arschlöchern werden irgendwann mal große, und die singen dann: „Nein Mann, ich will noch nicht gehen, ich will noch ein bisschen tanzen.“ Von dieser Techno-House-Single der Formation Laserkraft 3D hatte auch die vorlesende Steuerberaterin aus Teil 1 geschwärmt. Offenbar trifft der Titel den Zeitgeist. „Nein, Mann!“ wurde für Deutschlands größten Radio-Award, die 1LIVE Krone, in der Kategorie beste Single 2010 nominiert. Der Songtext ist ein Musterbeispiel an Egozentrik, gesungen mit der Stimme eines Jünglings, der alles will, nur nicht erwachsen werden. Früher wollte er nicht von der Rutsche runter, jetzt will er nicht mehr von der Tanze.

Außerhalb der Schulferien sind die gut situierten Mitverursacher dieser Pest fast unter sich. Manche haben hier auch ihren Altersruhesitz. Abends besuchen sie die Kneipe „Aale Peter“ und hören das falsche und hohle Gesülze, das sich deutscher Schlager schimpft. Die Kneipe duckt sich unter einen Klotz im Stil des Brutalismus, hat aber über dem Eingang und über der Theke Dachschindel. Ich habe lange nicht so ein treffendes Beispiel für Kitsch gesehen. Die Dachschindel ist ihrer Funktion beraubt, weil sich über ihr zehn Etagen Beton auftürmen, ist nicht nur zum Schmuckelement verkommen, sondern beschwört eine potemkinsche Heimeligkeit. Bei unserem Eintritt ist Aale Peter noch nicht da. Uns empfängt sein jüngerer Stellvertreter mit der Begrüßungsfloskel, die er allen Paaren entgegenruft: „Hallo, und herzlich willkommen in Cuxhaven-Duhnen. Schön, dass ihr noch zusammen seid!“

Der Chef sei mit dem Ruderboot vor Helgoland, um die Aalreusen einzuholen. Derweil der noch 70 Kilometer über die finstere See zu rudern hat, erzählt der Adlatus dessen Witze. Aale Peter hat sie ihm genauestens eingeschärft. Sollte er einmal in schweres Wetter geraten und das Seemannslos erleiden, ist dafür gesorgt, dass diese kostbaren Worte nicht ebenfalls ins nasse Grab sinken. Also: „Um 20 Uhr gibt es Live-Musik! Heino wird singen. Seine Frau Hannelore ist schon seit Stunden auf’m Klo und schminkt sich!“ Und: „Hast du schon das von Jopi Heesters gehört? Er hat sich von seiner Frau getrennt und wohnt jetzt wieder bei seiner Mutter.“ Und: „Hannover, die Stadt liebe ich. Da ist meine Schwiegermutter überfahren worden.“ Sie ist auch in Köln und Düsseldorf unter die Räder gekommen, je nach Herkunft der Gäste. Den Einwand, das wäre selbst für eine Schwiegermutter zuviel, lässt er nicht gelten: „Hallo? Ich war vielleicht mehrmals verheiratet!“

Um 20 Uhr singt nicht Heino, sondern Aale Peter trifft ein und löst seinen Adlatus ab. Aale Peter ist ein kleiner gealterter Beau und sieht ein bisschen verlebt aus. Er hat den Hemdkragen hochgestellt. Vermutlich gab’s Sturm vor Helgoland. Aber nicht Wind und Wetter haben ihre Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Die stammen aus dem Puff, wo er 30 Jahre gearbeitet hat, wie er sagt. Das aber ist die einzige neue Information. Die tragische Geschichte von Jopi Heesters erzählt er mir zweimal, Heino wird wieder angekündigt, Hannelore blockiert noch immer das Damenklo mit ihrem Schminkkoffer, Aale Peters Schwiegermütter liegen überfahren in der ganzen Republik verstreut - wir spenden. Er versucht uns zum Bleiben zu überreden, weil meine bezaubernde Begleiterin in der Kneipe das Altersniveau um ein Beträchtliches senkt, aber wir haben für heute die Nasen voll. Nein, Mann, wir wollen gehen, bevor es zu spät ist. In diesen Zeiten müssen auch Alltags-Ethnologen gut auf ihre geistige Gesundheit achten.

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