Videbitis (Gast) - 12. Mai, 09:56

Gestolpert ...

... wie über eine Bodenschwelle bin ich über diesen Satz:"Die moderne Ich-Identität ist ein Effekt der Schrift. Je stärker eine Gesellschaft sich literalisiert, desto stärker auch die Vereinzelung." Das ist mal eine interessante These - in mir geht ein Sperrfeuer sich wiedersprechenden Gedanken los (was ja sehr gut ist): Ich-Identität als Vorausetzung von Furcht, die wiederum Religionen etc. begründet, ist ja vermutlich viel älter als jede Schrift, andererseits ist moderne Ich-Identität ja tatsächlich durch eine starke Vereinzelung geprägt ... uff, man könnte wahrscheinlich ganze Regale mit diesem Thema füllen. Hast Du vielleicht einen Literaturtipp?

Trithemius - 12. Mai, 10:30

Eine ganze Reihe ...

... von Autoren hat sich mit der Frage beschäftigt, wie die Erfindung der Schrift das Denken verändert hat. Jack Goody etwa:
http://www.amazon.de/Entstehung-Folgen-Schriftkultur-Jack-Goody/dp/351828200X
Assman/Assmann:
http://www.amazon.de/Schrift-Ged%C3%A4chtnis-Arch%C3%A4ologie-literarischen-Kommunikation/dp/3770521323
Besonders zu empfehlen, Ivan Illich: Schule ins Museum. Phaidros und die Folgen (leider vergriffen, aber vielleicht in der Bibliothek noch zu finden).
Ein gute Literaturliste habe ich hier gefunden:
http://peter-matussek.de/Leh/V_13_Material/demos_lego/bibliographie.pdf

Jack Goody hat z.B. mündliche Kulturen an der Grenze zum Schriftgebrauch untersucht und festgestellt, dass mündliche Kulturen in einer Man-Welt leben. Man tut das, was in der Gruppe üblich ist, geht wesentlich auf in der Gruppe und schwingt mit ihr. Durch die Schrift ist es möglich, sich der unmittelbaren Kommunikation zu entziehen, sich zurückzuziehen und eigene, unhabhängige Weltbetrachtung vorzunehmen.

Ich habe schon oft über das Thema geschrieben, aber verstreut im alten Teppichhaus. Viel über menschliche Kommunikation zu wissen, ist meiner Ansicht nach die Voraussetzung, das Internet zu verstehen. Ich wundere mich immer über die Naivität der selbsternannten Internetexperten. Sie wissen so gut wie nichts über die Voraussetzungen medialer Kommunikation, und am wenigsten wissen jene, die am lautesten tönen.

Wir haben uns übrigens schon einmal mit dem Thema beschäftigt, und du hast da auch kommentiert:
http://abcypsilon777.blog.de/2009/04/05/gute-nachricht-glueck-selbstvergessen-5894651/
videbitis (Gast) - 12. Mai, 12:43

Ich erinnere mich, habe sogar den Illich über Fernleihe bestellt und kopiert, aber noch nicht gelesen.
Ich-Identität als Effekt der Schrift - wäre noch mal ein Dreh weiter, aber hast du ja gar nicht geschrieben.
Ich wünschte, ich könnte mir eine Online-Vorlesungsreihe von Dir ansehen und -hören, in der Du zu diesem Thema alles haarklein aufdröselst. Das ist natürlich viel Arbeit, und die 10-Minuten-Häppchen von youtube sind arg kurz, man müßte eine andere Plattform finden - ich bin sicher, Du hättest viele interessierte Zuhörer und -schauer (allein schon durch die Verlinkung hierhin: http://www.world-lecture-project.org/). Hast Du sowas schon mal angedacht?
videbitis (Gast) - 12. Mai, 12:46

Ach so - danke für die vielen Tipps, ich brauche unbedingt noch ein zweites Leben. ;-)
Trithemius - 13. Mai, 12:03

Ich habe nicht behauptet, dass ein Angehöriger einer mündlichen Kultur sich nicht als Einzelwesen erlebt, wenn er Schmerz oder Lust empfindet, gemeint ist die moderne Ich-Identität, das allein in die Welt geworfen sein.

Dein Vorschag ehrt mich. Derzeit fehlen mir die technischen Möglichkeiten. Würde ich eine solche Seminarreihe ausarbeiten, dann wohl auch besser für den Vortrag im fassbaren Leben. Hab schon lange so etwas vor und auch sporadisch einiges zusammengestellt, aber die Initialzündung fehlt noch. Denn ich bin leider auch ein schrecklicher Prokrastinierer. Immerhin arbeite ich gelegentlich an einem Manuskript, das die in den beiden Teppichhäusern verstreuten Texte zusammenfast. Ist aber viel Arbeit wegen der thematischen Überschneidungen. Da fehlt mir auch ein zweites Leben, vor allem eines, in dem ich mit mehr Nachdruck arbeite ;)

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